28 Juli 2022

Business Class Edition: Der Corona-Blindflug

Business Class Edition
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Der Corona-Blindflug
Guten Morgen,
wer in diesen Tagen mit dem Zug von Prag nach Berlin fährt, erlebt an der tschechisch-deutschen Grenze einen eigentümlichen Moment. Die Menschen in den Abteilen bleiben unverändert und auch die Aerosole sind dieselben – aber plötzlich gilt wieder die Maskenpflicht.

Bei Flügen galt bis vor kurzem, dass etwa auf dem Weg von Brüssel nach Portugal keine Maske aufgesetzt werden musste, am Flughafen von Faro allerdings doch. Auf dem Rückweg von Brüssel nach Berlin musste die Maske dann wieder getragen werden, am Berliner Flughafen dagegen nicht, in der S-Bahn in die Stadt jedoch sehr wohl wieder.

Wer sich auf einer dieser Reisen mit Corona angesteckt hat, wird keine Ahnung haben, woran es lag. Wer sich schützen konnte, weiß genauso wenig, warum.

Das Regelwerk bleibt auch in diesem Sommer nicht nur international chaotisch, auch die Datenlage ist noch immer in vielen Bereichen dünn. Zum dritten Mal marschieren wir in einen Corona-Herbst, in dem wahrscheinlich wieder alles anders kommt, als erwartet, und keiner sich so richtig entscheiden mag, was überhaupt an Maßnahmen richtig wäre.

Das Chaos in fünf Kapiteln

1. Wir wissen nicht, wo wir stehen.

Die wohl größte Variable liegt in diesem Sommer bereits bei der grundsätzlichsten aller Zahlen – der Inzidenz. Der aktuelle Wert lin Deutschland lag am Dienstag bei 679. Schon in früheren Wellen war von einer hohen Dunkelziffer und dem insgesamt mindestens doppelten Wert ausgegangen worden. Doch seit die Schwere der Erkrankung in vielen Fällen abnimmt und zudem seit dem 30. Juni Schnelltests nicht mehr kostenlos für alle zugänglich sind, nimmt die Motivation zum Testen deutlich ab. Während zwischen dem 31. Januar und 6. Februar noch 2,6 Millionen Tests durchgeführt wurden, waren es Anfang Juli nur noch 915.000. Ein vielfach höherer Wert als die ausgegebene Inzidenz dürfte daher diese Sommerwelle ausmachen, in der gefühlt permanent Menschen um einen herum infiziert sind. Nur: Wir wissen es nicht wirklich.

2. Die Impfungen wirken, aber wir wissen nicht genau, wie sehr.

Seit Beginn der Kampagne in Deutschland wurden bislang 183,7 Millionen Impfdosen verabreicht. 76,2 Prozent der Bevölkerung sind grundimmunisiert, haben also zwei Dosen erhalten. 61,8 Prozent haben zusätzlich eine Auffrischungsimpfung erhalten. 

Auf den Intensivstationen stellt der relativ kleine Teil der ungeimpften Bevölkerung einen relativ großen Teil der Patienten dar. Unter Erwachsenen im Alter von 18 bis 59 Jahren zählte das RKI im Juni von insgesamt 29 Millionen Menschen mit Auffrischungsimpfung drei Intensivpatienten, während von den über sieben Millionen Ungeimpften ebenfalls nur drei Personen auf der Intensivstation landeten.

Fakt ist auch: Der Impfschutz schwindet mit der Zeit, nur wie stark ist aufgrund der geringen Datenlage schwer zu sagen. Das RKI schreibt lediglich, es sei klar, dass „die derzeit verfügbaren Impfstoffe mehrere Monate nach der Impfung eine asymptomatische Infektion oder milde Verlaufsform von COVID-19 inzwischen nur noch in geringem Maße verhindern können.“ Bei den Berechnungen der Effektivität könne es zu „Verzerrungen“ kommen. Mit anderen Worten: Die Impfeffektivität nimmt ab. Genaue Zahlen – Fehlanzeige

3. Wir wissen nicht, ob wir uns noch einmal boostern lassen sollen.

Ob eine vierte Impfung Abhilfe für den Herbst verschaffen könnte, ist unklar. Die Europäische Arzneimittel-Agentur oder die Deutsche Gesellschaft für Immunologie empfehlen diese für Vorerkrankte und allen ab 60. Einer der wichtigsten Gesundheitsfunktionäre, der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, will sich dennoch kein viertes Mal impfen lassen.

Die Ständige Impfkommission rät bisher nur allen über 70 Jahren zur vierten Impfung. Gesundheitsminister Karl Lauterbach dagegen rät auch allen unter 60 die Impfung in Betracht zu ziehen. Die Experten sind sich uneins. Dem Bürger bleibt schon jetzt nur noch, eigenverantwortlich selbst im Dunkeln zu tappen.

4. Wir wissen nicht, welche Maßnahmen helfen.

Dieses Jahr sollte alles anders sein: Frühzeitige Vorbereitung, betonte Lauterbach, sei das A und O. Außerdem sollten Corona-Maßnahmen diesmal auf Basis ihrer empirischen Wirksamkeit umgesetzt werden.

Wie wirksam die verschiedenen Schutzmaßnahmen sind, das wollte der Corona-Sachverständigenausschuss auswerten. Allerdings sind die Ergebnisse des Ausschusses laut eigenen Angaben wenig aussagekräftig. Der Grund: Eine „lückenhafte Datenlage“ der wichtigsten Erhebung der Pandemie. 

  • Eine generelle Empfehlung zum Tragen von FFP2-Masken ist aus den bisherigen Daten demnach nicht ableitbar. Empfohlen wird sie trotzdem. Selbst Justizminister Marco Buschmann hält eine Maskenpflicht im Herbst in Innenräumen für denkbar.

  • Lockdowns sind vor allem bei der Ausbreitung einer Pandemie wirksam, nicht aber wenn sich wie aktuell schon viele Personen angesteckt haben. Diskutiert werden sie trotzdem noch, etwa von Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzender des Weltärztebundes. Er sagt:

"Wer von vornherein Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen oder Lockdowns kategorisch ausschließt, hat weder den Sinn des Gesetzes verstanden noch den Ernst der Lage begriffen".

  • Die Wirksamkeit von Schulschließungen ist ungeklärt.

  • 2G beziehungsweise 3G Regelungen sind vor allem kurz nach Impfung oder Genesung wirksam.

  • Tagesaktuelle Tests sind ohne kürzliche Impfung oder Genesung die bessere Option. Diese sind momentan jedoch in vielen Fällen kostenpflichtig.

Die geltende Fassung des Infektionsschutzgesetzes läuft am 23. September aus. Bis Ende diesen Monats soll ein neues Konzept für den Winter stehen

Laut Gesundheitsminister Karl Lauterbach ist eine neue Impfkampagne geplant. Genügend Impfdosen für die neueste Variante sowie Tests sollen zur Verfügung stehen. FDP-Mann Buschmann mahnt: „Der Datenblindflug muss ein Ende haben.“ Es bleibt ein frommer Wunsch der Politik an sich selbst.

5. Wir wissen nicht, was das richtige Verhalten am Arbeitsplatz ist.

Die Corona-Sommerwelle sorgt für Personalausfälle – auch in wichtigen medizinischen Bereichen. 55 Prozent der Intensivstationen in Deutschland mussten laut der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) bereits ihre Leistungen reduzieren. Diesmal liegt es nicht an den vielen Patienten, sondern an den Personalausfällen.

Christian Karagiannidis, Mitglied des Corona-Expertenrats der Bundesregierung und wissenschaftlichen Leiter des DIVI-Intensivregisters, sagt:

"Ich habe noch nie so viele Personalausfälle durch COVID gesehen wie in dieser Welle".

Auch der Vorstandschef der Deutschen Krankenhausgesellschaft Gerald Gaß sagt:

"Aus allen Bundesländern erreichen uns Meldungen, dass einzelne Stationen und Abteilungen auch wegen Personalmangels abgemeldet werden müssen".

„Das Problem sind nicht die vielen Infektionen, sondern, dass positiv Getestete auch ohne Symptome mehrere Tage zu Hause bleiben, in Isolation geschickt werden. Dadurch entstehen die Personalengpässe in den Kliniken und anderswo.” Nun gibt es bereits den Vorschlag, bei nicht auftretenden Symptomen auch nicht in Quarantäne gehen zu müssen.

Er versinkt in einer Kakophonie der Meinungen.

Fazit: Im dritten Pandemie-Sommer scheint die Politik so wenig Kompass in der Corona-Politik zu haben, wie nie zuvor. Die Meinungen schwanken zwischen Inferno und Erkältungswelle, zwischen Lockdown und Normalität. Der Bürger muss nach eigener Einschätzung entscheiden, was richtig ist. Die Eigenverantwortung des Einzelnen übernimmt. Es braucht noch noch nicht einmal eine politische Entscheidung dafür.

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