Wie gesagt: Nur eine kurze, für den Laien nicht einmal sofort verständliche Sentenz. Zudem eine, die beileibe nicht den einzigen Skandal umreißt, den der mit großem Interesse erwartete und in Paragraph 5 des Infektionsschutzgesetzes sogar eingeforderte Abschlussbericht des unabhängigen Sachverständigenrates zutage gefördert hat. Dieser Satz auf Seite 26 aber hat Wumms. Denn entweder wird er in den kommenden Wochen den deutschen Corona-Diskurs endgültig ad absurdum führen, oder er wird das Potential zur tiefwirkenden Heilung haben – je nachdem, wie die Bundesregierung nun mit dem Ergebnis des insgesamt 160 Seiten starken Papiers umzugehen gedenkt.
Denn eines ist gewiss: Dass unzählige sogenannte NPI – also Maßnahmen, die nicht auf der Gabe von Medikamenten oder Vakzinen bestehen – in der Vergangenheit nie wirklich untersucht wurden und ihre Wirksamkeit somit bis heute eigentlich unbekannt ist, war sowohl den gesundheitspolitisch Verantwortlichen in der Regierung Angela Merkel als auch denen im Kabinett Olaf Scholz von Beginn an bekannt. Egal ob die Schließung von Schulen und Gemeinschaftseinrichtungen, ob die Verhängung von Quarantäne oder die Beschränkung des internationalen Reiseverkehrs: Stets fehlten hinreichend Daten, um die Effizienz solcher Maßnahmen beurteilen zu können.
Die Mahner in der Wüste
Unzählige, ehemals äußerst angesehene Wissenschaftler haben in den zurückliegenden zwei Corona-Jahren auf diese brisanten, oftmals sogar lebensgefährdenden Informations- und Wissenslücken hingewiesen. Ihre Namen lasen sich einst wie das „Who is Who“ der evidenzbasierten und somit wissenschaftlich abgesicherten Medizin: Gerd Antes, Matthias Schrappe, Jürgen Windeler, ja selbst Andreas Sönnichsen, ein ehemaliger Lehrstuhlinhaber für Allgemeinmedizin an der Medizinischen Universität Wien und bis Januar 2021 Vorsitzender des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin.
Dass Ihre Namen nach nunmehr zweieinhalb Jahren sogenanntem Pandemie-Management für viele längst nicht mehr so glorios und ehrbar klingen wie ehedem, das hat viel mit Diffamierung, mit unbelegten Behauptungen, zum Teil auch mit gezielt gesteuerten Kampagnen zu tun. Selbst Christian Drosten, als Regierungsberater für viele ein Gelehrter, der in der öffentlichen Wahrnehmung fast schon unter das Dogma der Unantastbarkeit fällt, war sich zuweilen nicht zu schade, Kritiker aus dem Lager der evidenzbasierten Medizin in ein schummriges Licht zu rücken (so etwa in der Folge 56 seines vom NDR produzierten Podcasts Coronavirus-Update).
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Es waren Nadelstiche mit Nebenwirkung. Aus ernstzunehmenden und unbedingt notwendigen Mitspielern im wissenschaftlichen Diskurs wurden so unter Einsatz medialer Verkürzung immer wieder „Maßnahmenkritiker“, gar „Pandemieverharmloser“ – Vokabeln, die sich hierzulande längst auf „Querdenker“, mindestens aber auf „Mindermeinende“ reimen. Dabei waren es besonders diese kritischen, in vielen Medien nicht einmal wahrnehmbare Stimmen, die oft unter dem Einsatz von Reputation und sogar Amt – immerhin verlor der durchaus streitbare Andreas Sönnichsen im Frühjahr 2022 seinen Wiener Lehrstuhl – unermüdlich auf die fehlende Datenbasis und die ambivalente Studienlage zu den meisten Maßnahmen hingewiesen haben. Ein Einsatz für die Validität, Objektivität und Repräsentativität in der Wissenschaft sowie ein Engagement für die freie Gesellschaft. Für gewöhnlich wurde es ihnen nicht gedankt, in der Regel wurde es ihnen sogar nachhaltig übel genommen. Kassandra war in den letzten Jahren ein Job, der von öffentlicher Seite nicht vorgesehen war.
Die Kritik ist rehabilitiert
Mit dem jetzigen Evaluationsbericht aber hat sich der Wind gedreht: „Datenmangel seit langem bekannt“. Ein, wie gesagt, winziger Satz. Doch er rehabilitiert die sachgerechte Kritik an der deutschen Corona-Politik nun vollumfänglich. „Während in anderen Ländern Möglichkeiten zur Einschätzung der Wirkung von NPI genutzt wurden, ist eine koordinierte Begleitforschung während der Corona-Pandemie in Deutschland weitgehend unterblieben“, heißt es erklärend und weiterführend auf den folgenden Seiten des Evaluationsberichts. Es gebe kein von einem nationalen Expertenteam entwickeltes nationales Forschungskonzept zur Sars-Cov-2-Bekämpfung, es fehle an einem Katalog der drängendsten epidemiologischen Fragen, der als Grundlage für die Priorisierung von fehlenden nationalen Studien gelten könne, es fehle sogar an einer Bereitschaft, die von den Krankenkassen angebotenen Daten für eine datenschutzgerechte Analyse zu nutzen. Kurz: Es fehlt noch immer an allem, das aus blinder Pandemiebekämpfung ein Pandemie-Management mit Augenmaß machen könnte.
Viele mögen hinter dieser offensichtlichen Schlamperei so etwas wie Vorsatz vermuten. Immerhin weist auch der Sachverständigenausschuss in seinem Abschlussbericht an vielen Stellen ausdrücklich darauf hin, wie schwer es sei, auf Grundlage mangelhafter Informationen und Daten eine wissenschaftliche Evaluation zu erarbeiten. Doch es ist vermutlich nicht böser Wille, es ist weit schlimmer: Die deutsche Datendummheit im Gesundheitssystem, auch darauf nämlich weist der Evaluationsbericht hin, hat seit langem schon Methode: „Bereits im Jahr 2001 wurde vom RKI darauf hingewiesen, dass die Wirksamkeit der im Infektionsschutzgesetz verankerten Non-pharmaceutical interventions […] nicht näher untersucht und deren Wirksamkeit daher unbekannt sei. Dem RKI war daher klar, dass demzufolge diese Maßnahmen nur probatorisch angeordnet werden können.“
Wo bleiben die Konsequenzen?
Eine Feststellung, die bis in die Gegenwart hinein fortwirkt. Und auch schon damals blieb sie folgenlos: Auch der 2016 aktualisierte Pandemieplan des RKI nämlich enthielt weiterhin eine lange Reihe von Maßnahmen, deren Wirkungen nicht erforscht waren und das, obwohl der Pandemieplan von 2017 ausdrücklich darauf verwies, dass die Erforschung dieser Maßnahmen letztlich beim RKI selbst, also bei der „zentralen Forschungs- und Referenzeinrichtung für Infektionskrankheiten“, liege.
Ein schlechteres Zeugnis für die direkt dem Bundesgesundheitsministerium unterstehende Bundesoberbehörde und ihren seit März 2015 amtierenden Präsidenten Lothar Wieler kann es eigentlich gar nicht geben. Vor und während der Pandemie wurde gepfuscht, interpoliert und mindestens uneindeutig informiert: „Dass der transparente und nachvollziehbare Umgang mit Daten in der Corona-Pandemie bislang nur bedingt funktioniert hat, belegen zahlreiche Medienberichte. Auch das RKI selbst geriet wegen seines Umgangs mit dem Zahlenmaterial immer wieder in die Kritik“, so die Autoren des Evaluationsberichtes.
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