15 Juli 2022

Der non-binäre Mann mit Migrationshintergrund ist das neue Ideal – für die Mehrheit hat man hingegen nur noch Verachtung übrig (NZZ)

Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit
Der andere Blick
(NZZ) von Eric Gujer, 15.07.2022
Der non-binäre Mann mit Migrationshintergrund ist das neue Ideal – für die Mehrheit hat man hingegen nur noch Verachtung übrig
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Minderheiten stehen derzeit hoch im Kurs.

Deutsche hingegen werden als «Kartoffeln» verunglimpft. Woher kommt der Zusammenhalt einer Gesellschaft in Kriegs- und Krisenzeiten, wenn es keine stabile Mitte mehr gibt?

Es ist noch gar nicht so lange her, da war die Klimajugend das Mass der Dinge. Epigonen von Greta Thunberg bevölkerten die Talkshows, sie erhielten Mandate in Aufsichtsräten angeboten, und sogar wirtschaftsliberale Kommentatoren lobten die antikapitalistischen Parolen als Ausweis echten politischen Engagements. Die Klimajugend war eine Macht, weil sie behauptete, für eine ganze Generation zu sprechen.

Dann kam die Pandemie, und in der Schweiz versenkten die Stimmbürger ein Gesetz, das zwecks Klimaschutz die Energiepreise verteuert hätte. Vor allem zeigte die Abstimmung, dass die Klimajugend mitnichten eine ganze Generation umfasste, sondern nur einen besonders lauten Teil davon.

Junge Erwachsene lehnten das Gesetz wie die meisten anderen Altersgruppen mehrheitlich ab. Nur die akademische Jugend in den grösseren Städten trat enthusiastisch für den Klimaschutz ein. Die junge Coiffeuse auf dem Land konnte weniger damit anfangen. Im Gegensatz zur Studentin aus der Universitätsstadt schaffte es die Coiffeuse aber nie, in eine Talkshow eingeladen zu werden.

Inzwischen sind die Energiepreise gestiegen. Die Regierungen wollen sie nicht weiter verteuern, sondern versprechen den Bürgern Entlastung. Die Klimajugend ist out, dafür sind Gender-Agitator*innen und Trans-Aktivist*innen in.

Aus Banalitäten werden heute Skandale

An der Verzerrung der politischen und medialen Wahrnehmung hat sich nichts geändert. Wer laut und gut vernetzt ist, wer Zugang zu den Zentralen des intellektuellen Überbaus wie Universitäten und Fernsehsendern hat, findet Aufmerksamkeit. Die Mehrheit schweigt wie immer; ihr würde ohnehin niemand zuhören.

Dass es, rein biologisch betrachtet, zwei Geschlechter gibt, dürften deutlich mehr als zwei Drittel der Bevölkerung für eine banale Selbstverständlichkeit halten. Zugleich definiert sich weniger als ein Prozent als transsexuell. Dennoch untersagte die Humboldt-Universität Berlin einen Vortrag über biologische und soziale Geschlechter. Das versetzt seither die Feuilletons in Wallung: Ist man «transphob», wenn man Männer und Frauen für den Normalfall und alles andere für eine – rein statistisch betrachtet – Ausnahme hält?

Zugleich wählt der Bundestag Ferda Ataman zur Beauftragten für Antidiskriminierung. Sie nennt Deutsche «Kartoffeln». Deutlicher kann man seine Verachtung für die Mehrheit nicht kundtun. Die wenigsten Deutschen bezeichnen sich als Kartoffeln. (Anm.: Wo Kartoffeln sind, sind auch Parasiten, die Kartoffelkäfer, die von der Kartoffelpflanze ernährt werden und sich an ihr laben). Das sagt noch nichts darüber aus, ob ein Migrationshintergrund nicht eine bereichernde Erfahrung ist, sondern beschreibt nur eine weitere banale Selbstverständlichkeit: Niemand lässt sich gerne beleidigen, auch Deutsche nicht.

Banale Selbstverständlichkeiten werden heute zum Skandal. Der Mechanismus dahinter ist jedes Mal derselbe: Eine Gruppe sieht ihre Rechte beschnitten, sie provoziert und setzt damit eine Kettenreaktion von empörten Stellungnahmen und Repliken in Gang.

Die so erzeugte Aufregung hat meist wenig mit der Befindlichkeit der Gesamtgesellschaft zu tun. Über kurz oder lang verebben die Medienhypes wie die Seligsprechung der Klimajugend. Übrig bleiben die für eine Mehrheit relevanten Probleme: Wenn Krieg und Klimawandel die Energie verteuern, wie kann ich mir Strom, Gas und Benzin noch leisten?

Die soziale Frage ist nicht schillernd, sie ist nicht exotisch. Sie gehört zu den Grundfragen, weil das Bedürfnis nach Gerechtigkeit universell ist. Was universell ist, also gerade vom Einzel- und Sonderfall abstrahiert, steht derzeit jedoch unter Verdacht. Heute muss jede Existenz möglichst exklusiv sein, um ernst genommen zu werden. Der nichtbinäre Mann mit Migrationshintergrund und die farbige Antirassistin sind die neuen Ideale.

Bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts sprachen Soziologen von der «formierten Gesellschaft». Sie war homogen, drängte Minderheiten ins Abseits oder kriminalisierte diese wie die Homosexuellen. Die Gesellschaft verstand sich als Einzeller. Inzwischen ist sie ein Organismus in permanenter Zellteilung.

Widerstandskraft entsteht aus Gemeinschaft

Eine Emanzipation hat eingesetzt, die Minderheiten das Recht auf ungehinderte Selbstentfaltung zuerkennt. Die Entwicklung ist positiv, weil sie aus Menschenrechten gelebte Praxis macht. Schwule traten erst ins Licht der Öffentlichkeit, dann wurde der Paragraf 175 geschleift. Heute ist die Ehe für alle eine Selbstverständlichkeit, und niemand muss mehr wie Guido Westerwelle ein halbes Politikerleben lang seine Orientierung verbergen. Schwulenfeindlichkeit existiert zwar wie Antisemitismus oder Rassismus bis heute, aber die Zivilisation hegt die zerstörerische Kraft der Ausgrenzung ein.

Wie bei allen positiven Entwicklungen besteht zugleich die Gefahr der Übertreibung. Eine formierte Gesellschaft ist nicht erstrebenswert – eine fragmentierte, in Teilgruppen zerfallene Gesellschaft aber auch nicht. Wenn ein Gemeinwesen nur noch aus größeren oder kleineren Minderheiten besteht, stellt sich die Frage, woher am Schluss die für ein Gemeinwesen unabdingbare Kohäsion kommt.

Resilienz ist das Wort der Stunde. In der Pandemie horteten die Staaten zunächst Masken, dann rissen die Lieferketten. Die Globalisierung kriselt, seit sich China wegen Corona abschottet und der Schiffsverkehr stockt. Der Wohlstand schmilzt, die Inflation steigt. Auch die russische Aggression gegen das restliche Europa und die drohende Energieknappheit werden zum Test für die westliche Ausdauer. Was mit der Krise der Globalisierung begonnen hat, vollendet sich mit Putins Überfall auf die Ukraine.

Wie entsteht Widerstandskraft, wenn sich die Gesellschaft nur noch als Summe ihrer Teile begreift? Resilienz ist das Produkt eines Zusammengehörigkeitsgefühls. Die Ukraine macht es vor. Man muss kein Kulturpessimist oder Untergangsprophet sein, um zu bezweifeln, dass die westeuropäischen Nationen zu einem vergleichbaren Kraftakt in der Lage wären.

Der Begriff der postheroischen Gesellschaft wird konkret. Keiner will ein Opfer bringen, jeder besteht auf seinen individuellen Rechten. Das Kollektiv ist in dieser Optik ein atavistisches Relikt. Ohne Kollektiv gibt es keine gemeinsame Gegenwehr. Das Wort Vaterlandsverteidigung wirkt wie aus der Zeit gefallen, und so können sich viele Linke wie Rechte nur eines vorstellen: Putins Forderungen müssen so schnell wie möglich erfüllt werden.

Mit seiner Identitätspolitik macht sich der Westen immer mehr zum Sonderfall

Während die einen den Kotau üben, treiben die anderen die permanente Zellteilung der Gesellschaft voran. Sie warnen vor «Heterosexismus» und «Etabliertenvorrechten». Eine Partnerschaft zwischen Mann und Frau oder die Erwartung, nach vierzig Jahren Beiträgen in die Rentenkasse mehr zu bekommen als ein gerade eben Eingewanderter, gelten als verwerflich. Die Mehrheit und deren Ansprüche erhalten so einen negativen Beigeschmack. Kartoffeln sollen sich hinten anstellen.

Die Entwicklung ist unfreiwillig komisch. Je mehr sich der Westen bemüht, alle identitätspolitischen Verästelungen anzuerkennen, sämtliche Privilegien und sein Weiß-Sein abzustreifen und obendrein auch den globalen Süden zu seinem Recht kommen zu lassen, umso mehr macht er sich in globaler Perspektive zum Sonderfall.

Nicht nur Putin hält Europa aus leicht durchschaubaren Motiven für dekadent. Auch Afrikanern und Asiaten ist der entgrenzte Individualismus suspekt. Identität und Sexualität sind die neuen Trennlinien, die Gesellschaften weltweit scheiden. Je religiöser eine Nation ist, umso weniger kann sie mit einer selbstbestimmten, von hergebrachten Zwängen befreiten Sexualität anfangen. Das gilt besonders für Muslime, aber nicht nur für sie.

Die Gesellschaftspolitik der Ampelkoalition drängt Tradition und Konvention weiter zurück. Die Ehe diffundiert zur «Verantwortungsgemeinschaft», die Geschlechter verschwinden im Nebel der Selbstzuschreibungen. Deutschland ist damit keine Ausnahme. Der Westen insgesamt macht sich noch stärker zur Abweichung von der Regel. Umso mehr muss er seinen Sonderfall verteidigen können. Dafür braucht er aber Zusammenhalt und stabile Mehrheiten. Vielleicht ist das die kürzeste Definition für den Westen: Er ist ein einziges grosses Paradox

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