19 Juli 2022

Wissenslücken bei Corona - Wir tappen im Nebel und halten uns an Staubwirbel (Cicero)

Wissenslücken bei Corona -
Wir tappen im Nebel und halten uns an Staubwirbel
Deutschland will eine Informationsgesellschaft sein, am besten wissenschaftsbasiert. Der Umgang mit der Corona-Pandemie zeigt jedoch: Wenn uns die gesundheitlichen Zusammenhänge von Infektion und Krankheit, Ursache und Wirkung nicht so sehr interessieren, dass wir die entsprechende Politik einfordern und finanzieren, braucht man keine Verschwörungsszenarien zu bemühen. Diese Politik war in ihrer Struktur, ihren Konzepten und Mechanismen dumm und gemeingefährlich.
VON OLE DÖRING am 18. Juli 2022
Deutschland ist angeblich eine Informationsgesellschaft. Manche meinen sogar: wissenschaftsbasiert. Die Robert Bosch-Stiftung fand kürzlich heraus: „Die Mehrheit der Deutschen befürwortet weiterhin eine wissenschaftsbasierte Politik im Umgang mit Corona.“ Wie verhält sich diese Meinung zum Menschenbild unserer demokratischen Verfassung?
Folgt man den Darstellungen des Bundespräsidenten, des Wissenschaftsrates oder der Leopoldina, so möchte man glauben, Deutschland sei heute ein Land der Aufklärung. Angesichts der Jahrzehnte, die wir in Frieden und Wohlstand Gelegenheit hatten, die kulturellen und sozialen Normen unserer Verfassung zu verwirklichen, wäre das nur recht und billig. Wir hätten dann von Anfang an gewusst, mit Corona vernünftig umzugehen.

Lieblos eingesetzter Ausschuss
Warum interessieren wir uns aber tatsächlich so wenig für Wissen – und auf denkbar ungeeignete Weise? Der Umgang mit der Corona-Pandemie zeigt: Wir kümmern uns kaum darum, relevantes Wissen zu schaffen und einzuordnen. Wir zählen Inzidenzen, anstatt die Gefahren der Krankheit zu erkunden. Wir können kaum angeben, welche Maßstäbe bei der Verarbeitung der Daten zu Gesundheitsinformationen angewendet werden sollen: „Leben retten“, ein Virus besiegen, für eine gesunde Zukunft sorgen? Recht haben?

Stattdessen folgen wir fachlichen Monologen bestimmter Forscher, mit denen der normale Menschenverstand nichts weiter anfangen kann als: entweder zu vertrauen oder nicht zu glauben, was da verlautbart wird. Die sachverständigen Gutachter im lieblos eingesetzten Ausschuss zur Evaluation der Corona-Maßnahmen haben es klar gesagt: „Datenmangel seit langem bekannt“. Warum ist das so – und zwar „seit langem“?

Treten wir einen Schritt zurück: Warum wurde der Ausschuss so almosenhaft ausgestattet, wie die Gesundheitsämter? Noch einen: Warum tut Deutschland so wenig für seine Bildungskultur, die Zusammenhänge und kritisches Lesen ermöglichen sollte? Warum steht das Kerngeschäft der Wissenschaft, kritisch nachzufragen, im Verdacht zu stören? Offenbar wollen wir es doch nicht so genau wissen. Müssen wir uns oder irgendwen vor der Vorläufigkeit und Wahrheit möglichst aussagefähiger Daten „schützen“?

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 Keine frühe Meldung und Kontaktverfolgung, keine prospektive Untersuchung der Wirksamkeit der Maßnahmen, von Masken bis Schulschließungen, keine Entwicklung von Kriterien, wie das alles begründen wäre. Keine reguläre Entwicklung von Impfstoffen und Erfassung von Schädigungen: seit Anfang 2020. Stattdessen tappen wir im Nebel und halten uns an Staubwirbel. Diese Übersichtlichkeit mag bequem sein, aber sträflich ist sie auch.

Die eigentliche Leistung, die Wissen gemeinnützig macht, besteht darin, es auf vernünftige Zwecke hin auszurichten, am besten auf Selbstzweck oder zumindest auf die erklärten sozialen Güter. Auf Sinn und Art dieser Prozesse hat, im Windschatten der bestallten Eliten, der Stifterverband aufmerksam gemacht:

„Der hohe Bedarf an Informationen und Empfehlungen auf den verschiedenen Ebenen von Politik und Verwaltung konnte nicht immer ausreichend gedeckt werden. Für eine (…) breiter zugängliche, agile und interdisziplinäre Politikberatung in solchen Krisen braucht es mehr dauerhaft bestehende Räume des Austausches und der ko-kreativen Verständigung zwischen Wissenschaft und Politik“.

Keine brauchbare Informationsverarbeitung

So weit zu Anspruch und Wirklichkeit. Ginge es darum, Schaden und Leid abzuwenden, dann hätte man gefragt: Wie schädlich ist die Krankheit, nicht ihre Prognose? Wie groß ist die Gefahr, nicht das Risiko einer Ansteckung? Man hätte aus den uralten Quellen epidemiologischen Wissens schöpfen können, wie der Untersuchung kommunaler Abwässer. Diese Daten hätten anlassbezogene Individualtests begründet.

Abwasser zählt zu den wichtigsten Informationsquellen für die öffentliche Gesundheit, heute und historisch. Wer an Daten zum Vorkommen von Schadstoffen aller Art interessiert ist, wird hier fündig. Mit den heutigen Verfahren der Gensequenzierung können auch kleinste Schnipsel biologischen Erbmaterials helfen, die Ausbreitung von Krankheitserregern zu verstehen. Damit lassen sich die klassischen Nachweise ergänzen.

Das alles war 2019/20 ohne großen Aufwand möglich. In Deutschland begann man nach Widerständen erst im April 2020 mit der systematischen Suche nach Spuren des Virus im Abwasser, mit einer neuen Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Stattdessen gab es Maßnahmen aus dem Arbeitsschutz (Masken) und teure Massentests nach dem Gießkannenprinzip. Für eine brauchbare Informationsverarbeitung fehlte Infrastruktur und die Bereitschaft, den Datenschutz dem erklärten Zweck, Menschen zu schützen, unterzuordnen. 

Zusammenhang zwischen Strategie und Zweck

Ein weiterer Schritt zurück zeigt, dass wir den Begriff einer bedrohlichen Krankheit von der Anschauung abgekoppelt haben. Im Ergebnis stehen Angst und Verunsicherung statt Plan und Wissen. Wenn wir nun, im Land von Virchow und Koch, trotz unserer Erfahrung mit Volksgesundheit nicht mehr selbst auf die Idee kommen, eigenständige Kompetenz und Infrastruktur vorzuhalten, dann könnten wir doch versuchen von anderen zu lernen, die es besser machen.

Früher war es so, dass zum Beispiel China unter Sars1 vieles von Deutschland lernen konnte und die WHO vor allem für Prävention von Krankheit zuständig war. Während Deutschland sein solidarisches Gesundheitswesen entkernt hat, kappte die WHO jedoch ihrerseits den Zusammenhang zwischen Strategie und Zweck.

Seit etwa 2000 beobachten wir, wie mit der globalen Mobilität von Menschen und Gütern auch die Zahl und Arten neuer Krankheiten weiter zunehmen. Viele natürliche Schranken, die Habitate und Ökosysteme der Ausbreitung von Mikroben setzen, sind gefallen. Der technisch hochgerüstete Mensch dringt zu immer tieferen Meeresgründen vor und weiter in Wälder ein. HIV/Aids, dann Sars, dann Vogelgrippe, dann Schweinegrippe, dann Ebola, dann Mers, jetzt Covid-19: Takt, Wucht und Reichweite springen, von Mal zu Mal schneller.

Bearbeitete Sprache

Währenddessen ist etwas Merkwürdiges passiert: Im Namen realer Gesundheitsarbeit wurde die Sprache bearbeitet. Eine „Pandemie“ ist kein Naturereignis, sondern die Klassifizierung einer Gemengelage vieler Faktoren. Im Unterschied zur Biologie ist sie ein politisches Konstrukt. Die bis dato selten berufene „Pandemie“ wurde zum neuen Standard. Dabei dachte man noch an das Beispiel der „Spanischen Grippe“, der nach Ende des Ersten Weltkriegs 50 Millionen Tote zugeschrieben wurden – bei einer Weltbevölkerung von unter 2 Milliarden Menschen.

Begriff und Augenschein der Krankheit gehörten zusammen. 1958 tötete die „Asiatische Grippe“ weltweit eine Million von 3 Milliarden Menschen. 700.000 Todesfälle verursachte 1969 die „Hongkong-Grippe“. 1978 starben wieder 700.000 durch die „Russische Grippe“. Im August 2020 näherte sich die Weltbevölkerung 8 Milliarden, die Zahl der „mit oder an“ Covid-19 Gestorbenen lag bei 750.000. Wieder rückt die Morbidität, der Zusammenhang von Ursache und Wirkung, ins Graue.

Eine „Pandemie“ erfüllte der WHO zufolge bis 2009 drei Bedingungen: Erstens musste ein Virus neuer Art auftreten, gegen das in der Bevölkerung keine Immunität besteht. Das ist eine medizinische Voraussetzung. Zweitens musste es weltweit zu mehreren großen Ausbrüchen gleichzeitig kommen. Das ist eine epidemiologische Bedingung. Drittens musste das Virus eine enorme Zahl von Todesfällen und schweren Krankheitsverläufen bewirken. Das ist ein sozialmedizinisches Kriterium. Was ändert sich, wenn man die gesundheitliche Zweckbindung streicht? Wenn man die sozialmedizinische Dimension aus dem Blick nimmt? Um die Folgen dieses Experimentes geht es.

Horrorszenarien im Raum

Im Jahr 2005 stand mit der H5N1-Vogelgrippe ein Horrorszenario im Raum: Dieses Killervirus brachte 60 Prozent der Erkrankten um – allerdings erwies sich die Übertragung auf Menschen als sporadisch. Unter dem Eindruck der H1N1-Schweinegrippe sah sich die WHO 2009 mit einer Grundsatzentscheidung konfrontiert: Sollte ihr System weltweiter Standard werden, auch wenn es nicht die Letalität eines Virus berücksichtigt?

Schon damals befürchteten einige Länder, dass das Warnsystem nicht etwa die Wissenschaft anspornen, sondern Panik und Druck erzeugen werde, zum Beispiel Grenzschließungen, auch bei undramatischen Viren. Der Vize-Generaldirektor der WHO, Keiji, erklärte: Die geografische Verbreitung des Virus sei leicht zu messen. Angaben zur Schwere dagegen hängen von konkreten Gegebenheiten ab und sind weniger sicher zu bestimmen.

Die statistische Berechnung der Sterblichkeitsrate setzt voraus, dass sich viele Menschen infiziert haben. So fand sich, im zweiten Schritt der Pandemie-Ära, der Weg einer Abkürzung: Die Inzidenz wurde von der Morbidität entkoppelt. Anstatt ein globales Melde- und Kooperationssystem aufzubauen und die Gesundheitsqualität in Problemgebieten zu stärken, unterwarf man sich den Beschränkungen der Statistik.

Kritische Einordnung von Bereichswissen

Die WHO-Direktorin Briand meinte im Jahr 2009 lapidar: „Einen einheitlichen Indikator zu nehmen, um allerlei unterschiedliche Situationen zu beschreiben, war nicht sehr hilfreich.“ Die Schwere beruhe auf dreierlei: erstens Virulenz und Übertragbarkeit des Virus, zweitens Verwundbarkeit der Bevölkerung und drittens der Fähigkeit eines Landes, die Krankheit zu bekämpfen. Alle drei Komponenten unterscheiden sich von Land zu Land und je nach Pandemie. Die neue Maßgabe spricht nicht die Präventionskraft der jeweiligen Systeme an und kann nur dort einen Wert haben, wo bereits ein sehr starkes Gesundheitswesen besteht.

Die WHO ließ einen Begriff von Wissenschaft fallen, der seit dem 19. Jahrhundert den Erkenntnisfortschritt vorangetrieben hatte: das kritische Einordnen von Bereichswissen anhand allgemeiner Fragen. Ein technisch reduzierter Positivismus ist für bürokratische Verfahren leichter umzusetzen als ein qualitativer Diskurs, der Theorien und Hypothesen anhand neuer Einsichten aktualisiert. Wie auch immer man die neue Maßgabe der WHO einordnet: Die Erwartung eines objektiven Generalschlüssels, der die realen Gesundheitsfolgen außer acht lassen kann, war in der Welt. Die Behörden konnten mit dieser „Definition“ als viel zitierte Referenz auf den entsprechenden Webseiten der WHO arbeiten.

Dass damit zugleich die Einsicht in die Wichtigkeit der qualitativen Auslegung, Rechtfertigung und gründlichen Abwägung der Angemessenheit unterschiedlicher strategischer Optionen aus dem Blick geriet und die Deutungshoheit den „positiven“ Forschern, abstrakten Modellierern, aktivistischen Regulatoren und effekthascherischen Kommunikatoren überlassen wurde, die vermeintlich eindeutige Ergebnisse liefern, hat sich als schwerster Fehler erwiesen.  Anstatt die Gesundheitssysteme konsequent zu stärken, gesellschaftliche Rahmenbedingungen auf ein zeitgemäßes Niveau zu bringen, wie es die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen nahelegen, gab es im Frühjahr 2020 die Anmutung einer Generalkompetenz weniger Spezialisten und exklusiver Zuständigkeit „der Verantwortlichen“.

Federstriche statt Diskurs

An die Stelle wissenschaftlich begründeter Verhältnismäßigkeit und gesellschaftlicher Diskurse über deren angemessene Umsetzung traten Federstriche: Kompetenzen (wie die Behörden für Katastrophenschutz oder die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) wurden reduziert und marginalisiert, allerlei „Lockdowns“ verkündet, Schulen geschlossen und Massen in die Scheinwelt „vernetzter“, „sozialer“ Medien ohne menschliche Begegnungsräume hinein zwangsprivatisiert – wieder getreu der Maxime: „aus dem Auge aus dem Sinn“. Die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und individuellen Schäden werden uns noch über Generationen beschäftigen.

Davon, aus dieser Fehlstellung zu lernen, sind wir weiter entfernt als 2020. Soeben berichtet Reuters, die WHO bestätige ausdrücklich und mit Unterstützung der WHA, dass sie der Zusammenhang von Pandemie und Krankheit nicht interessiert: „Covid-19 bleibt eine globale Notlage, (...) obwohl eine erhöhte Immunität der Bevölkerung eine ‚Entkopplung‘ von Krankenhausaufenthalten und Todesfällen gebracht hat.“

Vor 20 Jahren hatte Sars 1 Schwachstellen der aufstrebenden chinesischen Gesellschaft offenbart. Heute sind wir dran. Berücksichtigt man die extrem kurze Zeit, den enormen Aufwand an Geld und Debatte, ist Covid-19 vermutlich das am intensivsten und datenreichsten erforschte Virus aller Zeiten. Umso heftiger schlägt der trockene Befund der unabhängigen Gutachter zu Buche: Datenmangel – in Deutschland. Schlimmer noch: wir haben unsere Fähigkeit aufgegeben, Informationen für die Gesellschaft wissenschaftlich einzuordnen, abzuwägen und segensreich wirksam zu machen. 

Lernen bedeutet eigene Anstrengung

Wenn uns die gesundheitlichen Zusammenhänge von Infektion und Krankheit, Ursache und Wirkung nicht so sehr interessieren, dass wir die entsprechende Politik einfordern und finanzieren, braucht man keine Verschwörungsszenarien zu bemühen. Diese Politik war in ihrer Struktur, ihren Konzepten und Mechanismen dumm und gemeingefährlich. Das wissen wir jetzt. Die Quittung wird gerade gedruckt und ist noch lange nicht fertig. Währenddessen haben wir die Freiheit, uns endlich auf Krankheit und Gesundheit zu konzentrieren und die Bedürftigen zu schützen – wie es bis vor kurzer Zeit selbstverständlich schien. Wenn wir das überhaupt wissen wollen.

Nachdem sich der Staub legt und der Nebel lichtet, werden wir einander nicht nur „viel zu verzeihen haben“ (Jens Spahn). Wir müssen auch unsere Hausaufgaben machen. Eine Wissensgesellschaft wird nicht durch Delegieren an vermeintliche Fachleute und „Rationalisierung“ öffentlicher Aufgaben gebildet. Lernen verlangt von jedem Menschen als Weltbürger eigene Anstrengungen, sich aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit zu befreien, die uns heute nicht weniger krank und dumm werden lässt als zu Zeiten Immanuel Kants. Vor allem müssen wir wieder lernen zu lesen, um aus Daten Informationen und aus Informationen Wissen machen zu können, das etwas bedeutet.

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