Business Class Edition:
Verstörend & vernünftig: Die neue Realpolitik
Gabor Steingart, Freitag, 15.07.2022
Guten Morgen,
Unvergessen auch Joe Biden, der nach dem am 2. Oktober 2018 verübten Auftragsmord am saudischen Journalisten Khashoggi sagte:
"Die Saudis werden dafür einen Preis zu zahlen haben".
Dieser Preis – versprach er im Wahlkampf – werde auch in einer persönlichen Ausgrenzung durch den neuen Präsidenten bestehen:
"Ich werde sie als die Paria behandeln, die sie sind".
Tempi Passati.
Merkel ist noch am besten dran. Ihre Zeit ist abgelaufen, ihre Regierungspolitik bleibt eingefroren für die Begutachtung durch die Historiker.
Auch Robert Habeck muss den Gezeitenwechsel nicht erklären. Er verkörpert ihn. Mit seiner Reise nach Katar und dem Aushandeln einer fossilen Energieinjektion für die deutsche Wirtschaft hat er den humanitären und ökologischen Ethos einer ökonomisch dominierten Realpolitik geopfert. Das war nicht schön, aber vernünftig.
Doch keiner geht so weit wie Joe Biden auf seiner derzeitigen Nahostreise. Bei seinem Besuch heute in Saudi-Arabien will er das Königshaus für keine der Gräueltaten (immerhin wurde der Journalist Jamal Khashoggi damals im Auftrag des Königs in Istanbul gefangen genommen, ermordet und zerstückelt) haftbar machen. Er will die mutmaßlichen Mörder auch nicht wie Paria, sondern wie Partner behandeln. Das Verhältnis solle „recalibrated“ werden; man wolle den „reset“-Knopf drücken, heißt es aus Bidens-Umgebung.
Die treibenden Kräfte hinter dem Gezeitenwechsel sind der Krieg, die Energiepreisexplosion und die von dort auf alle anderen Produkte übergesprungene Inflation. Den Regierungschefs geht es jetzt nicht mehr um die Verteidigung von Werten, sondern um die Rettung ihrer heimischen Legitimationsbasis.
Die Währung, in der am Wahltag gezahlt wird, sind eben nicht Werte, sondern ist Wohlstand.
Wer nicht liefert, wird abgewählt.
Der Wähler ist sehr eindeutig und zuweilen auch eindimensional in seiner Prioritätensetzung: Werte kann man nicht essen und nicht mal für eine Tankfüllung sind sie zu gebrauchen.
So gelangen die Regierungspolitiker bei dieser Gelegenheit zu einer bitteren, aber notwendigen Erkenntnis: Die Kategorisierung der Welt nach gut und böse, nach moralisch sauberen Geschäftspartnern und politisch dubiosen Typen, ist auf Dauer nicht durchhaltbar. Die Idee, das Preissignal der Märkte zu überhören und durch einen politischen Reinheitsgrad zu ersetzen, führt auf die abschüssige Bahn. Produkte taugen nicht als Waffe, weil es sich bei der Munition, die dabei verpulvert wird, um den Wohlstand der kleinen Leute handelt.F. Gregory Gause, III, Professor für Internationale Angelegenheiten an der Bush School of Government and Public Service an der Texas A&M Universität, rät in der aktuellen Ausgabe von Foreign Affairs den Politikern zu einer schnellen Einsicht in diese realpolitischen Notwendigkeiten:
Die Politiker sollten das Herstellen einer internationalen Ordnung vor ihre anderen Ziele setzen. Das bedeutet, auch Geschäfte zu machen mit Regimen und Führern, an deren Händen Blut klebt.
Er empfiehlt eine kühle Abwägung zwischen „den Kosten der Instabilität und den Vorteilen einer funktionierenden Ordnung“.
Folgt man dieser Argumentation, verbietet sich die aggressive amerikanische Chinapolitik. Und auch alle apodiktischen Aussagen gegenüber Russland und dem Iran erscheinen in dieser Beleuchtung fehlgeleitet.
Es gibt erkennbar auch ein Selbstbestimmungsrecht des Despotischen, das seine Kraft nicht aus den Gesetzen oder unseren Gefühlen, wohl aber aus den Tatsachen speist. Gewaltherrscher, gleichgültig ob weltlicher oder religiöser Natur, sind Teil einer pluralistischen Welt, die sich in Fortsetzung von Hannah Arendts „Banalität des Bösen“ wie durch Selbstbefruchtung fortpflanzen.
Soweit wir die Weltgeschichte überblicken können, strebt sie keineswegs nach westlicher Dominanz oder gar freiheitlich-demokratischer Unipolarität. Der von CIA und US-Armee organisierte Sturz von Despoten stimuliert bei den betroffenen Völkern – siehe Irak, siehe Afghanistan – in der Regel nicht die Sehnsucht nach Demokratie, sondern die Lust auf Rache.
Vielleicht sollte sich der Westen seiner Spielregeln im jahrzehntelangen Systemwettbewerb zwischen der Sowjetunion und den Nato-Staaten erinnern. Der Systemrivale wurde ideologisch attackiert, aber nicht militärisch angegriffen. Gewaltfreiheit war die Grundlage für den Aufstieg Westeuropas nach dem Krieg.
Die andere Macht wurde nicht geliebt, aber als Macht respektiert.
Man machte Geschäfte und keine Gefangenen.
Man maximierte den Wohlstand und nicht die Wut.
Und als Erich Honecker knapp bei Kasse war, organisierte ihm Franz Josef Strauß einen Milliardenkredit. Im Gegenzug demontierte die DDR große Teile ihrer Selbstschussanlagen.
Kurz und gut: Kommunisten und Kapitalisten verzichteten auf die Idee von Endsieg und Finalität. Jeder ging davon aus, dass er es nicht schaffen würde, den Andern in die Knie zu zwingen. Diesem Konzept hatte ausgerechnet der rote Revolutionär (und Pragmatiker) Lenin den Namen gegeben. Man nannte es „Friedliche Koexistenz“. Heute hat man dafür ein einziges Wort: Globalisierung.
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