28 Juli 2022

Deutschlands gefühlte Armut – Sorget euch nicht, die Politik hilft (NZZ)

Mehr Klartext geht nicht. 
Deutschlands gefühlte Armut – Sorget euch nicht, die Politik hilft (NZZ)
In Deutschland ist viel Not hausgemacht und importiert, aber die wahren Ursachen des Wohlstandsverlustes werden ignoriert. Über ein Land zwischen gefühlter Armut und eingebildetem Reichtum.
Wolfgang Bok,
Deutschland ist ein reiches Land, das sich viel Armut leistet. So geht die Klage zwischen Kiel und Konstanz, die umso lauter vorgetragen wird, je näher Gasnotstand und Wahlen rücken. Und Wahlen drohen in der föderalen Bundesrepublik irgendwo immer. Wobei CDU und CSU im Wettstreit um die grössten Spendierhosen der SPD um nichts mehr nachstehen wollen. Bayerns Ministerpräsident Söder toppt die SPD nun mit der Forderung nach einem «Winter-Wohngeld» für alle. Und alle gemeinsam haben sie die Rentner als Notleidende entdeckt, denen man zwingend ebenfalls eine «Energiepauschale» von 300 Euro überweisen müsse. Dafür gibt es bundesweit viel Zustimmung. Niemand soll in der Kälte stehen, wenn der warme Geldregen niedergeht.

Rentner stellen ein Drittel der Wählerschaft

Das ist insofern kurios, da es keiner Senioren-Generation besser geht als der jetzigen. Nur etwa 3 Prozent der 21 Millionen Rentner sind auf Grundsicherung angewiesen. Und das, obwohl private Vermögen bei der Berechnung der Bedürftigkeit nicht einmal berücksichtigt werden dürfen. Diese Einnahmen, etwa Zinsen, Dividenden oder Mieten, bleiben auch den Rentenversicherern verborgen. Mit der Folge, dass auch die Seniorin, die als Hilfskraft im Familienunternehmen als Mini-Jobberin angemeldet wurde, um günstig sozialversichert zu sein, selbst dann zu den Kleinrentnern zählt, wenn sie aus einem Mietshaus stattliche Erträge bezieht.

Dieses nicht seltene Beispiel verdeutlicht, dass Bedürftigkeit in Deutschland weniger von den Fakten als von Ideologie begründet wird. 21 Millionen Rentner stellen beinahe ein Drittel der Wählerschaft. Also beschenkt der Minister für Arbeit und Soziales Hubertus Heil (SPD) diese Gruppe mit der höchsten Rentenerhöhung seit 30 Jahren: 5,35 Prozent im Westen, 6,12 Prozent im Osten. Das kostet die Alterskassen eben mal 19 Milliarden Euro, weitere 2,6 Milliarden für Zuschläge bei Erwerbsminderung. Die Rente mit 63, ebenfalls ein teurer Wahlköder der SPD, kostet 36 Milliarden Euro pro Jahr. Tendenz steigend, denn die Frührente ist trotz Abschlägen populär, was zugleich die Klagen über die Not der Rentner widerlegt.

Gleichwohl fahnden die Medien geradezu nach Bedürftigen, die sich steigende Energie- und Lebensmittelpreise nicht mehr leisten können. Selbst die Grünen, denen beides aus ökologischen Umerziehungsgründen bisher nicht teuer genug sein konnte, stimmen ein in das paternalistische Schnüren von Hilfspaketen. Der grüne Landwirtschaftsminister Özdemir, der noch vor dem Überfall auf die Ukraine die «Ramschpreise» insbesondere bei Fleisch beklagt hatte, sorgt sich nun um «leere Kühlschränke». Selbst die verpönte Ferienreise wird plötzlich zum Armutsindikator. Dabei zeugen das Chaos an den Flughäfen und lange Staus vom Gegenteil. Es sind auch keine Hungerbäuche, die sich an den Buffets der Kreuzfahrtschiffe drängen, zu deren treuesten Kunden die angeblich so notleidenden Senioren zählen.

Deutschland stößt an Belastungsgrenzen

Auch die Klagen der wohltätigen Tafeln über mangelnden Nachschub bei gleichzeitig wachsender Nachfrage nach (fast) kostenlosen Lebensmitteln sind kein Indikator für wachsende Armut. Einmal haben diese Hilfsaktionen durch ein wachsendes Angebot den Bedarf selbst gefördert, zum anderen lohnt ein Blick auf die Kundschaft. Es wird in diesen sozialen Einrichtungen kaum Deutsch gesprochen: Ein nicht unerheblicher Teil der nun so lautstark beklagten «neuen Armut» ist importiert. Doch wer dies benennt, wird in Deutschland sogleich als «Rassist», «Ausländerfeind» oder gleich als «Faschist» zum Schweigen gebracht. Zahlen, so sie überhaupt erhoben werden, bleiben Geheimsache. Auch Friedrich Merz, der als CDU-Vorsitzender um ein liberales Image bemüht ist, wiederholt seine Aussage nicht mehr, wonach es ohne Zuwanderung «eine Million weniger Hartz-IV-Empfänger» gäbe.

Obwohl Deutschland nicht nur bei der Bahn an seine Belastungsgrenzen stößt, will die Ampelregierung die Attraktivität für Zuwanderung in die Sozialsysteme noch ausweiten.

Da SPD und Grüne zugleich die deutsche Höchstbesteuerung weiter nach oben schrauben wollen, werden die begehrten Hochtalentierten künftig einen noch größeren Bogen um Deutschland machen. Abzulesen auch an den 131 000 Einbürgerungen im vergangenen Jahr, die erneut um 20 Prozent gestiegen waren: Es sind vor allem Syrer, Türken, Rumänen und Polen, die einen deutschen Pass erhalten. Nicht Schweizer, Amerikaner oder Bürger aus anderen wohlhabenden Staaten. Dorthin zieht es hingegen die talentierten Deutschen.

Diese allseits propagierte großzügige Willkommenskultur ist nicht nur dem Anspruch geschuldet, endlich Weltmeister der Humanität zu sein. Dahinter steckt auch politisches Kalkül: Je mehr Armut mit fragwürdigen Statistiken belegt werden kann, desto leichter fällt die Umverteilung von oben nach unten. Zugleich lässt sich die soziale Marktwirtschaft als kalter Neoliberalismus anprangern und die sozialistische Planwirtschaft vorantreiben. In München gelten 3850 Euro netto für einen Vierpersonenhaushalt als «Armutsgefährdungsschwelle».

Gründe für den Wohlstandsverlust


Natürlich sind auch in Deutschland immer mehr Menschen von Wohlstandsverlust betroffen. Rasant steigende Kosten für Energie, Wohnen und die Inflation schmälern auch in der gehobenen Mittelschicht das verfügbare Einkommen. Doch bei alldem wird so getan, als seien wahlweise Putin, Seuchen (Corona) oder gierige Spekulanten (Mineralölindustrie) schuld. Nicht eine verfehlte Energiewende, die ersatzlos Atom- und Kohlekraftwerke stilllegt; nicht eine EZB, die mit Geldflutung verbotene Staatsfinanzierung betreibt und die Preisblasen schafft; und auch nicht eine ausufernde Wohlfahrtspolitik, die sich als Großsponsor für alle gefühlten Notlagen eine Fürsorgeillusion schafft. Allein in den letzten drei Jahren hat Berlin dafür zusätzlich eine halbe Billion Euro Schulden gemacht. Alle Zahlungsverpflichtungen hinzugerechnet, belaufen sich diese mittlerweile auf 14,7 Billionen Euro, wie Finanzwissenschafter errechnet haben. Allein die Pensionslasten für die Beamten, die im Schnitt mit über 3000 Euro im Monat dreifach über den Sozialrentnern liegen, summieren sich auf 2,7 Billionen Euro. Dabei droht eine tiefgreifende Rezession erst.


Leben über die Verhältnisse


Deshalb stimmt auch das zweite Narrativ nicht: Deutschland ist lange nicht so reich, wie es sich fühlt. Bund, Länder und Gemeinden leben seit Jahren über ihre Verhältnisse. Von der Bildung bis zur Bundesbahn liegt vieles im Argen. Trotz ständig steigenden Steuereinnahmen. Doch die werden vorrangig für Soziales ausgegeben, also konsumiert statt investiert. Jeder vierte Euro, der in Deutschland erwirtschaftet wird, fließt in soziale Töpfe.

Auf die Idee, die Prioritäten neu zu ordnen und sich auf das Wesentliche zu beschränken, kommt niemand in dem Land, das sich noch immer so gerne auf Ludwig Erhard besinnt. Stattdessen: Sorget euch nicht, die Politik hilft. Länder und Kommunen überdenken nicht ihre stattlichen Ausgabenprogramme, sondern fordern stets nur, dass der Bund helfen müsse. So wird eine Opferkultur geschaffen, bei der jede Leistung neue Zukurzgekommene schafft, wie insbesondere in der Ex-DDR zu besichtigen ist. Es ist nie genug.

So will der Bundessozialminister Heil Nichtarbeit durch deutlich höhere Hartz-IV-Sätze belohnen, obwohl die Wirtschaft händeringend nach Personal sucht. Diesen Widerspruch spüren insbesondere die Wähler der einstigen Arbeiterpartei. Die aufstiegsorientierte Mittelschicht weiß, dass sie die Zeche für immer neue Hilfsprogramme zahlt, von denen sie selbst kaum profitiert. Derweil ihr Erspartes durch Inflation und eine verkorkste Energiepolitik an Wert verliert. Nur die Grünen sehen die schleichende Deindustrialisierung Deutschlands insgeheim als Erfolg auf dem Weg zur Klimaneutralität. Wo es passt, wenden sie sich eben den ergebenen Christlichdemokraten zu.

Die SPD bricht hingegen selbst in ihren Herzkammern des Ruhrgebiets ein, die man der Armutswanderung aus Südosteuropa überlassen hat. Die Abkehr von der Agenda 2010, mit welcher der wegen seiner Putin-Freundschaft in Ungnade gefallene Altkanzler Schröder das Land reformiert hat, hat sich für die SPD jedenfalls nicht ausgezahlt. Und für Deutschland erst recht nicht. Dabei müssten gerade die Sozialdemokraten mehr Schröder wagen, um die Mittelschicht, die noch an Lohn durch Leistung glaubt, zurückzugewinnen. Doch mutige Reformer haben in Deutschland keine Stimme.

Wolfgang Bok ist freier Publizist und lehrt an der Hochschule Heilbronn strategische Kommunikation. Er war Chefredaktor der «Heilbronner Stimme».

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