19 Juli 2022

The Pioneer - Der neue Mensch: Die Geschichte einer Fiktion

Der neue Mensch: Die Geschichte einer Fiktion
Guten Morgen,
die Welt lebt oft anders, als sie fühlt. Die westliche Moderne ist geprägt von einer kulturellen Hegemonie der Tierfreunde, der Umweltschützer und der Konsumkritiker. Was für ein Fortschritt, sollte man meinen.
Doch auf geheimnisvolle Weise kommt es – kaum, dass der moderne Mensch ein Shopping Center betritt oder die E-Commerce-Seite von Amazon besucht – zur großen Bewusstseinseintrübung. Zwischen Wille und Wirklichkeit, zwischen der Schaltzentrale im Kopf und den ausführenden Organen herrscht nicht in allen, aber in vielen Fällen ein Wackelkontakt, der physikalisch nur schwer zu erklären ist.
Hinzu kommen die Menschen in den Entwicklungsländern, deren Nachholbedürfnis auch den nachholenden Wahnsinn beinhaltet. Asiaten und Afrikaner denken nicht daran, von der Mangelwirtschaft unter Umgehung der Konsumgesellschaft schnurgerade zur protestantischen Verzichtsethik überzugehen.
In Summe ist eine Welt der Paradoxien entstanden, in der Dinge sich anders entwickeln, als wir denken. Hier die Hitparade der unbequemen und daher oft verdrängten Fakten:
1. Im Milieu der Lifestyle-Linken gehört die Bühne den Veganern und Vegetariern. Sie haben die ernährungspolitische Rationalität auf ihrer Seite: Sieben pflanzliche Kalorien braucht es, um eine einzige Kalorie Fleisch zu produzieren. Das ist angesichts weltweiter Lebensmittelknappheit ein Skandal, der auch dann ein Skandal bleibt, wenn wir uns an ihn gewöhnt haben.
Nur: In den Bilanzen der Fleischbarone hinterlässt der Denkansatz einer alternativen Ernährung kaum Spuren. Keine zehn Prozent der Deutschen sind Vegetarier. Über 90 Prozent gehören zur Spezies der Flexitarier. Die globale Fleischproduktion steigt und steigt, besonders beliebt: Schweine- und Hühnerfleisch aus der Massentierhaltung

2. Das Fliegen produziert pro Mensch den CO2-Fußabdruck eines ausgewachsenen Riesen. Auf einer Strecke von 1.000 Kilometern werden laut Umweltbundesamt durch die Bahn pro Person 36 Kilo Emissionen erzeugt; mit dem Auto 139 Kilo und mit dem Flugzeug 201 Kilo Treibhausgas-Emissionen.

Doch die Erkenntnis führt zu keiner Konsequenz. Die neudeutsche Kombination lautet: Grün wählen und fern fliegen. Der Freiheits- und Mobilitätsdrang ist größer als alle Weltenretterambitionen. Zur Freude der Flugzeugbauer: In den nächsten 20 Jahren werden die langfristigen Rahmenbedingungen intakt bleiben, so der US-Flugzeughersteller Boeing bei der Vorlage seiner Geschäftszahlen. Boeing geht davon aus, dass sich die weltweite Flugzeugflotte bis 2041 fast verdoppeln wird.

Der weltgrößte Flugzeugbauer Airbus schaut ähnlich optimistisch in die Zukunft – und in das eigene Auftragsbuch. Eben erst hat Airbus in China an einem einzigen Tag fast 300 Passagierjets im Wert von 37 Milliarden US-Dollar verkauft.

3. Nicht die Hausdämmung boomt, wie von Energiespar-Experten empfohlen, sondern der Einbau von Klimaanlagen. Diese sind wahrhaftige Energiefresser, aber machen die Erderwärmung für den Einzelnen erträglich. Die Zahl der eingebauten Klimaanlagen werde, laut der Internationalen Energieagentur, von heute fast 2 auf 5,57 Milliarden im Jahr 2050 steigen.

„Das Problem der Klimaemissionen wird sich dadurch verschärfen“, schreibt ein Forscherteam um Enrica De Cian vom Euro-Mittelmeer-Zentrum für Klimawandel in der Zeitschrift Environmental Science and Policy. Wie unterm Brennglas zeigt sich hier die Problematik: Die Folgen der Erderwärmung werden durch die Klimaanlage gedämpft – und zugleich verschärft.

4. Die weltweite Produktion von Zucker legt weiter zu – obwohl es hier kein Erkenntnisproblem gibt. Zucker macht krank, verursacht Diabetes, Karies und Herzkrankheiten. Die WHO empfiehlt lediglich 25 Gramm pro Tag oder nicht mehr als fünf Prozent der konsumierten Kalorien. Doch im Westen konsumiert die Mehrheit der Bevölkerung das vier- bis fünffache. Und die so genannte Dritte Welt holt mächtig auf. 

 5. Plastik statt Bio: Kunststoffe sind gefragt wie nie zuvor. Im Jahr 2020 wurden weltweit 150 Prozent der Menge von 2002 hergestellt. Die Nachfrage nach den populärsten Kunststoffen soll in Entwicklungsländern bis 2040 um mehr als das fünffache ansteigen. Auch in den entwickelten Ländern wird weiterhin ein Anstieg erwartet – selbst bei der Plastikverpackung. Der Vorsatz der Plastikvermeidung ist schnell gefasst. Bei der Umsetzung kommt dem Verbraucher immer etwas in die Quere.

Fazit: Die Welt entwickelt sich oft anders, als gedacht und erhofft – und anders auch als in vielen Medien beschrieben. Dabei gehört es zu den vornehmsten Aufgaben des Journalisten, auch die real existierende Paradoxie zu beschreiben und dem Publikum nicht echte oder erfundene Zeitgeister vorzustellen. Das was Sokrates über die Aufgabe des Philosophen sagte, trifft auch auf den Journalisten zu:

"Seine Rolle besteht nicht darin, den Staat zu regieren, sondern dessen Bürger permanent zu irritieren."

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