01 Juli 2022

Corona-Evaluierungsbericht Eine Generalabrechnung mit der Politik und dem RKI (WELT)

Corona-Evaluierungsbericht

Eine Generalabrechnung mit der Politik und dem RKI
Der Bericht zur Evaluierung der Corona-Maßnahmen ist da – und dürfte für hitzige Diskussionen sorgen. In dem Papier, das WELT AM SONNTAG exklusiv vorliegt, stellen die Sachverständigen der Politik ein katastrophales Zeugnis aus. Die Datenlage ist unzureichend, die politischen Beschlüsse intransparent. Und die Maßnahmen? Für deren Wirken fand die Gruppe kaum Evidenz.

In seiner Evaluierung der Corona-Politik in Deutschland übt ein interdisziplinärer Sachverständigenausschuss tiefgreifende Kritik an den politischen Entscheidungsträgern und dem Robert Koch-Institut (RKI). Dies geht aus dem 165-seitigen Bericht hervor, der am Freitagmittag veröffentlicht werden soll und WELT AM SONNTAG bereits vorliegt. Darin wird etwa die Erhebung und der Umgang mit Daten, die unzureichende Forschungsarbeit, die öffentliche Kommunikation sowie das Zustandekommen der Grundrechtseinschränkungen bemängelt. Darüber hinaus findet sich bis auf das Maskentragen keine klare Aussage zum Nutzen von einzelnen Maßnahmen.

Auf Dutzenden Seiten beschreiben die 18 Ratsmitglieder – darunter Juristen, Virologen und Naturwissenschaftler – die von Politik und Behörden zu verantwortende katastrophale Corona-Datenlage in Deutschland, die der Grund dafür sei, dass man die meisten von der Politik verordneten Maßnahmen nur unvollständig habe bewerten können. Dabei gingen die Sachverständigen mit ihren detaillierten Bewertungen sogar deutlich über das hinaus, womit sie gemäß Infektionsschutzgesetz (IfSG) betraut worden waren.

„Während in anderen Ländern Möglichkeiten zur Einschätzung der Wirkung von nicht-pharmazeutischen Maßnahmen genutzt wurden, ist eine koordinierte Begleitforschung während der Corona-Pandemie in Deutschland weitgehend unterblieben“, heißt es in dem Report. Es gebe keinerlei Forschungskonzept, „um (…) auf Grundlage besserer Daten und darauf aufbauender Analysen die anstehenden Entscheidungen in der Pandemie zu fällen“.

Abrechnung mit Politik und Behörden

Weiter heißt es, die Politik habe auch keine der bereits geplanten oder laufenden Studien „zur Lösung der brennendsten Bekämpfungsfragen auf nationaler Ebene angestrengt“. Es gebe keine gemeinsam koordinierten Forschungsinitiativen, und das Angebot der Gesetzlichen Krankenkassen, „ihre enormen Datenbestände“ zur Verfügung zu stellen, habe niemand angenommen.

Weiter heißt es, in Deutschland stünden „aktuelle Versorgungsdaten für wissenschaftliche Auswertungen nicht maschinenlesbar bzw. nur bedingt oder mit erheblichem Zeitverzug zur Verfügung“. All das habe die Qualität des Krisenhandelns „beeinträchtigt“. Mit dieser desaströsen Datenlage müsse man nun „als Gesellschaft“ umgehen.

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Der Bericht kommt einer Abrechnung mit Politik und Behörden gleich – etwa mit dem RKI. Seit vielen Jahren – lange vor Beginn der Corona-Pandemie – sei klar, dass die Wirkung von einzelnen Maßnahmen nicht erforscht sei. Trotzdem habe man nichts unternommen, um an diesem Zustand etwas zu ändern – bis heute. Dabei, so beklagen die Sachverständigen, ist das RKI laut Infektionsschutzgesetz „die zentrale Forschungs- und Referenzeinrichtung für Infektionskrankheiten“, in der „die Maßnahmen des Infektionsschutzes erforscht“ werden: „Diese Institution stünde bei der Lösung des identifizierten Daten- und Studienproblems somit auch selbst in der Pflicht.“

Kosten-Nutzen-Analyse blieb aus

Vor dem Hintergrund dieser Kritik muss die Bewertung der einzelnen Maßnahmen gesehen werden. Eine Kosten-Nutzen-Analyse wurde – was für viele Bürger einer Enttäuschung gleichkommen dürfte – angesichts der Datenlage nicht erstellt. Außerdem wurde die Wirksamkeit der Impfung und der einrichtungsbezogenen Impfpflicht nicht bewertet, die Thematik sei zu komplex. Man verwies auf die Ständige Impfkommission (Stiko) und das Paul-Ehrlich-Institut (PEI).

Im Blick auf Lockdown-Maßnahmen wie Ausgangssperren und Geschäftsschließungen heißt es, ein abschließendes Urteil, ob und welche Maßnahmen(-pakete) wie stark und zuverlässig wirken, sei nicht möglich. Wichtig, so viel ist klar, sei stets die Zustimmung der Menschen zu grundrechtseinschränkenden Maßnahmen – die in Deutschland immer weiter abnahm. In der Bewertung heißt es: „Je länger ein Lockdown dauert und je weniger Menschen bereit sind, die Maßnahme mitzutragen, desto geringer ist der Effekt und umso schwerer wiegen die nicht-intendierten Folgen.“

Letztere werden klar benannt: Verschlechterung der Grundgesundheit durch verschobene Behandlungen etwa, nicht erkannte Erkrankungen, Zunahme von psychischen Erkrankungen und existenziellen Nöten.

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Auswirkungen der Schulschließungen bis heute nicht evaluiert

Die Mitglieder wählten ein Beispiel, das die Schwierigkeit der Bewertung verdeutlichen soll: „Für den deutschen Landkreis Waldshut wurde für die erste Infektionswelle gezeigt, dass eine Übersterblichkeit zu verzeichnen war, die zu etwa 55 Prozent auf Covid und rund 45 Prozent auf das Ausbleiben bestimmter Behandlungen beruhte.“

Auch bezüglich 2G/3G treffen die Sachverständigen keine verbindlichen Aussagen, legen angesichts der immer weiter nachlassenden Schutzwirkungen der Impfungen im Blick auf Ansteckungen allerdings nahe, dass auch Geimpfte von der Testpflicht nicht ausgenommen werden sollten. Was Schulschließungen angeht, so heißt es: „Der genaue Effekt (…) auf die Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus ist trotz biologischer Plausibilität und zahlreicher Studien weiterhin offen, auch, weil (…) die Effekte der Einzelmaßnahmen nicht evaluiert werden können.“

Festzuhalten sei, dass Kinder durch Schulschließungen besonders betroffen sind: „Physische und psychische Belastungen der Kinder sind empirisch gut belegt, die Betroffenheit unterscheidet sich dabei deutlich nach dem sozioökonomischen Status der Familien“. Eine weitere Expertenkommission solle zwecks tiefgehender Untersuchung eingesetzt werden.

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Das Maskentragen in Innenräumen hingegen bewertet die Kommission als positiv. Allerdings: „Eine generelle Empfehlung zum Tragen von FFP2-Masken ist aus den bisherigen Daten nicht ableitbar.“ Außerdem hänge die Wirkung vom Maskenträger ab: „Eine schlecht sitzende und nicht enganliegende Maske hat einen verminderten bis keinen Effekt.“

Das rechtliche Zustandekommen der Corona-Maßnahmen wurde indes scharf kritisiert. Lange Zeit waren sie an die „Feststellung der epidemischen Lage nationaler Tragweite“ geknüpft, die der Bundestag alle paar Monate wieder treffen musste. Dadurch kam es aus Sicht des Sachverständigenausschusses zu vermeidbaren politischen Missverständnissen: Stimmten die Abgeordneten im Sommer für eine Verlängerung, erweckte das den Eindruck, als wolle man ein „Sonderregime“ unabhängig von der tatsächlichen Lage verstetigen – umgekehrt vermittelte ihre Nichtverlängerung letzten November den Eindruck, die Pandemie sei vorbei.

Die faktische Entscheidungsgewalt über den Erlass einzelner Maßnahmen lag häufig bei der „Bund-Länder-Runde“ – einem Gremium, das im Grundgesetz nicht verankert und von den Parlamenten entkoppelt ist. „Es tagte hinter verschlossenen Türen und tat dann nach Ende seiner Beratungen der Öffentlichkeit deren Ergebnisse kund. In diesem klassischen Fall einer reinen Top-down-Kommunikation fehlte naturgemäß alles, was bei parlamentarischer Beratung selbstverständlich gewesen wäre: der öffentliche Austausch von Argumenten, das Vortragen von Begründungen, die Gegenüberstellung kontroverser Positionen sowie die Präsentation von Alternativen.“ Außerdem fehle bis heute „eine konsequente Rückmeldung“ darüber, inwiefern Empfehlungen der Experten in die politischen Entscheidungen eingeflossen sind.

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Für eindeutig verfassungswidrig halten die Juristen die bestehende Verordnungsermächtigung, die es dem Bundesgesundheitsministerium erlaubt, in einer Vielzahl von Fällen Ausnahmen von bestehenden Gesetzen zu erlassen. Bis zu 1000 Normen könnten davon betroffen sein. Damit werde der Wille des Gesetzgebers in undurchschaubarer Weise umgangen und die wesentlichen Entscheidungsbefugnisse vom Parlament auf die Exekutive verlagert.

„Verfassungspolitische Folgeprobleme“ der „Bundesnotbremse“

Auch die „Bundesnotbremse“, mit der die Corona-Maßnahmen bundesweit vereinheitlicht werden sollten, sieht der Sachverständigenausschuss rückblickend kritisch. Zwar sei sie vom Bundesverfassungsgericht gebilligt worden, aber: „Verfassungspolitisch sind die Folgeprobleme so gravierend, dass eine Wiederholung dieses Regelungsregimes nicht empfohlen werden kann.“ Die „Feinsteuerung“ der Maßnahmen durch die Länder sei entfallen, Karlsruhe mit Massenklagen überschwemmt worden.

Zudem seien abweichende Meinungen in der Corona-Pandemie oft vorschnell verurteilt worden: „Wer alternative Lösungsvorschläge und Denkansätze vorschlug, wurde nicht selten ohne ausreichenden Diskurs ins Abseits gestellt. Dabei ist eine erfolgreiche Pandemiebewältigung ohne den offenen Umgang mit Meinungsverschiedenheiten langfristig nur schwer denkbar.“

Guter Umgang mit wirtschaftlichen Folgen

Kritisch wird auch die Kommunikation der Politik gesehen. Für Verwirrung habe sie damit gesorgt, dass sie sich ständig auf neue Kennzahlen berief. Dass Inzidenzwerte genutzt wurden und werden, um die Gefahr durch Covid zu erklären, sei nicht in Ordnung, so die Verfasser. Diese Zahlen würden nicht ausreichen, um das Infektionsgeschehen und dessen Entwicklung angemessen zu beschreiben, Maßnahmen abzuleiten und die kritische Ressource Klinikkapazität zu schonen“. Stattdessen würden repräsentative Stichproben angemessen sein, um das Infektionsgeschehen zu beschreiben. Stichproben, die es in Deutschland so nicht gibt.

Ein gutes Zeugnis stellt der Rat der Politik hinsichtlich dem Umgang mit wirtschaftlichen Folgen der Pandemie aus. Bund und Länder hätten „frühzeitig reagiert und große finanzielle Anstrengungen unternommen, um gegenzusteuern“. Trotz bislang beispielloser Hemmnisse des Wirtschaftslebens sei es nicht zu einem so starken Einbruch der Wirtschaftsleistung gekommen wie in der großen Finanzkrise im Jahr 2008.

Der Bericht des Sachverständigenrats war mit Spannung erwartet worden. Während in der Regierungskoalition SPD und Grüne immer wieder auf eine rasche Einigung über neue Maßnahmen ab Herbst pochten, machte die FDP mögliche neue Grundrechtseinschränkungen von den Ergebnissen der Corona-Evaluierung abhängig.

Lauterbach wollte Evaluierung verzögern

Der Rat hatte im Oktober vergangenen Jahres seine Arbeit aufgenommen, im März war die Arbeit über mehrere Wochen quasi zum Erliegen gekommen. Grund war, dass sich Ratsmitglied Christian Drosten, Virologe an der Charité, angesichts der Datenlage sowie der personellen Ausstattung gegen die Evaluierung einzelner Maßnahmen ausgesprochen hatte. WELT AM SONNTAG hatte exklusiv darüber berichtet.

Im Anschluss setzte sich Kommissionschef Stefan Huster mit dem Bundesgesundheitsministerium in Verbindung und bat um Rat. Nach einem gemeinsamen Gespräch mit Minister Karl Lauterbach (SPD) und Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) hatte Lauterbach Huster Ende April informiert, dass die Maßnahmen-Evaluierung verschoben werde oder es gar eine neue Ausschreibung gebe. Dafür gab es im Bundestag allerdings keine Mehrheit – zumal durchsickerte, dass zahlreiche Mitglieder sehr wohl den Auftrag erfüllen wollten – inklusive deutlicher Verweise auf die Limitationen ob der Datenlage.

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Drosten trat im Zuge dieser teils hitzigen Diskussionen zurück, Anfang Juni rückte der Epidemiologe Klaus Stöhr nach. Bis zum letzten Tag wurde an der Fertigstellung des Berichts gearbeitet, mit vielen Diskussionen und Änderungen bis quasi zur letzten Minute. Stöhr scheint mit dem Ergebnis nicht zufrieden zu sein. Am Ende des Berichts findet sich der Hinweis, mit ihm habe man nicht in allen Punkten Konsens erzielen können.

Was nun aus dem Bericht folgt, ist angesichts der wenigen klaren Aussagen zur Wirkung der Maßnahmen schwer zu sagen. An einer Stelle heißt es in dem Papier, es gelte, „die Frage zu stellen, welche Ergebnisse sich ohne die jeweiligen staatlichen Eingriffe ergeben hätten“. Die Frage kann man tatsächlich stellen. Eine Antwort darf man aber nicht erwarten.

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