19 Juli 2022

Deutschland zwischen Apokalypse und Untergangssehnsucht - Die Welt vom Ende denken (Cicero)

Deutschland zwischen Apokalypse und Untergangssehnsucht
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Die Welt vom Ende denken (Cicero)
In Deutschland herrscht Weltuntergangsstimmung. Seit nicht mehr sicher ist, ob Russland Mitte dieser Woche wieder Gas durch die Pipeline Nord Stream 1 leiten wird, summiert sich die Angst vor Energieknappheit zur Klimaangst, Transphobie oder der Panik vor Corona-Infektionen. Wie aber kommen wir wieder raus aus unserer Apokalypse-Sucht? Es gibt einen Weg. Aber der ist schwierig.
VON RALF HANSELLE am 18. Juli

Wer jedenfalls in diesen erregten Sommertagen nur einmal für fünf Minuten den Fernseher andreht, der wird den wirklich unheimlichen Verdacht nicht mehr los, die Apokalypse des Johannes wiederholte sich anno 2022 als Farce. Und durch deutsche Redaktionsstuben weht ohnehin schon seit längerem diese Utopie des Unglücks – ganz egal, ob sich die Journalisten nun politisch rechts oder links verorten. Etwas Bedrohliches, gar Unaussprechliches liegt in der Luft. Von Waldbränden bis Heizkosten-Koller, von Klimawandel bis Transphobie: Überall scheint jetzt das Tier mit den sieben Köpfen und den zehn Hörnern aus der Informationsflut herauszusteigen. Überall ist Apokalypse, was ja auch nichts anderes heißt als „Enthüllung“ oder schlicht: „Zeitenwende“. 

Donnerstag ist Doomsday

Und wir sitzen daheim und können nichts tun. Nur abwarten, wie Robert Habeck jüngst in einem Interview mit den ARD-Tagesthemen sagte. Denn er habe auch keine geheimen Informationen, weder in die eine noch in die andere Richtung. Dabei bezog sich der grüne Bundeswirtschaftsminister übrigens nicht unmittelbar auf den zu erwartenden Jury-Spruch im Jüngsten Gericht. Immerhin aber ging es um die Frage, ob Russland nach der Wartung von Nord Stream 1 weiterhin Gas an Deutschland liefern werde. „Die Möglichkeit besteht. Die Chance, dass es nicht so kommt, ist auch da.“

Comme ci, comme ça – kommt der Doomsday der Welt! Wenn es richtig schief läuft, ist der übrigens schon kommenden Donnerstag. Dann nämlich soll Russland die letzte Verbindung zum Schmierstoff unseres schrumpfenden Wohlstands wieder aufdrehen. Kann sein. Kann aber auch nicht sein. Im Weltwirtschaftskrieg um die Ukraine ist ja längst alles möglich geworden. Auch, dass aus der regulären Wartung der Gaspipeline „eine länger andauernde politische Wartung wird“, wie Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur, jüngst gegenüber den Zeitungen der Funke-Mediengruppe fabulierte. Dann, so Müller, müsse man ernsthaft über Einsparungen reden. Andere würden dann vermutlich gleich auch ein Emergency-Meeting zur Kernschmelze der hiesigen Wirtschaft mit dranhängen. Man wird sehen. Noch ist es erst Montag.

Paradoxe Kommunikation

Genug Zeit also, damit sich die frei flottierende Angst weiter durch das Land fressen kann. Mal tänzelt sie dort mit den zu erwartenden Hitzetoten (über die orakelte jüngst Karl Lauterbach), mal flirtet sie mit der kommenden Gasabrechnung. Wir aber sitzen da, längst indolent und vollkommen apathisch, und starren wie das sprichwörtliche Kaninchen auf die teuflische Schlange.

Selbst als jüngst der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer Videobotschaft aller Welt bekannt geben ließ, er habe aus Protest gegen eine Turbinenlieferung von Kanada an Russland, die die Bundesregierung dringend für die Wiederinbetriebnahme von Nord Stream 1 benötigt, den kanadischen Botschafter einbestellt, blieb man passiv, ja vollkommen regungslos. Irgendwie ist Deutschland seit geraumer Zeit schon schockgefroren. Statt auch nur irgendwelche Interessen kundzutun, und seien es auch nur die wesentlichsten, glotzen wir das Schwarze Loch an, aus dem der Höllensturz erwartet wird. 

Ins Handeln kommen? Wie soll das gehen? Da ist diese innere Zerrissenheit, dieses seelische Eingeschnürtsein im Double-Bind der politischen Handlungsanweisungen: „Unterhaken!“, rufen jetzt tröstend die Einen, „1,5 Meter Abstand!“, beordern die Anderen. „Gründlich Händewaschen!“, lautet der Abendappell aus dem Bundesgesundheitsministerium, während Georg Friedrichs, Chef des Energieversorgers Gasag, jüngst um drastische Verkürzung selbiger Waschzeit gebeten hat. Der öffentliche Raum wird gaga gemac

Kein Wunder, dass die Panik in Anbetracht derartiger Paradoxien Zentimeter um Zentimeter wächst. Und das ausgerechnet hier, in dem Land mit der „German Grundangst“. Mithin: in der deutschen „Angstgesellschaft“. Auf dieses Wort hat der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz, Autor des Bestsellers „Gefühlsstau“, die grassierende Massenpsychose in seinem gerade erschienenem gleichnamigen Buch getauft: Die Angst beeinflusse laut Maaz unseren Umgang miteinander, sie bestimme unsere Entscheidungen, sie dominiere unser Leben – und führe am Ende sogar zur Unterlassung desselben.

Ein anderes Ende ist möglich

Und so wird die Welt eben immer enger. Dabei wäre der Weg aus der Dystopiesucht zunächst ganz einfach: Statt sich immer weiter in das Ende hineinzuschrauben, wäre es an der Zeit, den Heimgang schlicht einmal zu überrunden: Nicht ins Ende hineindenken, sondern vom Ende her denken. Das gäbe Entlastung von lähmender Befürchtung, und der geschundenen Seele gäbe es Ruhe. 

Der letzte übrigens, der uns diese bewährte Therapieform ans Herz legen wollte, war der Brigadegeneral a.D. Erich Vad: Zumindest in Bezug auf den zuweilen endzeitlich anmutenden Ukrainekrieg riet uns Vad vor Monaten bereits dazu, dringend einmal unser neurotisches Mindset auszuwechseln: „Wir müssen den laufenden Krieg zwischen Russland und der Ukraine vom Ende her denken. Wenn wir den Dritten Weltkrieg nicht wollen, müssen wir früher oder später aus dieser militärischen Eskalationslogik raus und Verhandlungen aufnehmen“, so der einstige Merkel-Berater am 11. April in einem Interview mit der Deutschen Presse-Agentur.

Ganz ähnlich auch der Behandlungsplan in Sachen Corona-Seuche: Die Regierung sei bei Corona auf Sicht gefahren, kritisierte vor fast einem Jahr der einstige WHO-Epidemiologe Klaus Stöhr in einem Interview mit der Bild-Zeitung: „Genau das, was man nicht tun sollte. Man muss eine Pandemie vom Ende her denken.“ 

Sucht nach dem Untergang

In der öffentlichen Debatte aber war schnell wieder Ende mit Ende. „Hang the Doctor!“, lautete stattdessen der Schlachtruf der Angstlüstlinge und Paniksüchtigen in Anbetracht der sicherlich bitteren Medizin: Während sich der erste Therapeut also vom mittlerweile demissionierten ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk als „erbärmlicher Loser“ beschimpfen lassen musste, wurde der andere vom noch immer amtierenden Gesundheitsminister Karl Lauterbach via Twitter verächtlich gemacht und vom Hof getrieben. In Deutschland nämlich pflastert man den Weg in die Hölle lieber weiter mit gesinnungsethischen Absichten, als dass man seine Apokalypse-Abhängigkeit mal kurzerhand auf Turkey setzte. So hangelt man sich also von Maßnahme zu Maßnahme, von Sanktion zu Sanktion und von Ideologem zu Ideologem. Am Ende steht man dann als hoffentlich letzter Gerechter oder Selbstgerechter im lang ersehnten Weltgericht.

Wie aber kann das möglich sein? Chef-Therapeut Sigmund Freud hatte auf diese Frage schon vor 90 Jahren eine interessante Antwort. Im September 1932, wenige Monate vor der Machtergreifung Hitlers, schrieb der offenkundig resignierte Vater der Psychoanalyse an Albert Einstein, dass es da „einen Trieb innerhalb jedes lebenden Wesens“ geben müsse, der das Bestreben habe, „es zum Zerfall zu bringen, das Leben zum Zustand der unbelebten Materie zurückzuführen“. Freud nannte dieses Streben den Todestrieb. Apokalypse also aus Angst vor dem Leben? Auch das gibt es vielleicht so nur in Deutschland.

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