27 Juli 2022

Pro und Contra: Sanktionen gegen Russland beenden? - Die Sanktionen sind sinnlose Kraftmeierei (Cicero+)

Pro und Contra: Sanktionen gegen Russland beenden?
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Die Sanktionen sind sinnlose Kraftmeierei (Cicero+)
Russlands Wirtschaft steht nach wie vor gut da - trotz der Sanktionen, an denen sich ohnehin ein großer Teil der Welt nicht beteiligt. Aber sie könnten für Europa den wirtschaftlichen Selbstmord bedeuten. Derweil geht der Krieg in der Ukraine unvermindert weiter. Außer einem guten Gewissen und der drohenden Selbstzerstörung aus Ohnmacht haben die Sanktionen nichts gebracht.
VON RALF HANSELLE am 27. Juli 2022
Gestern argumentierte Thomas Dudek an dieser Stelle gegen eine Aufhebung der Sanktionen.
Nicht jedes Märchen endet mit einem Happy End. Denken Sie nur an Rumpelstilzchen: Nachdem der dämonische Hutzelmann tagein, tagaus das gleiche Mantra in die Welt hinaus posaunte – dieses abgeleierte „Ach, wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß“ –, zerschellte seine falsche Weltsicht irgendwann an den Steilklippen der Realität. Märchenfreunde mögen sich noch erinnern: Die von Rumpelstilzchen als Geisel gehaltene Müllertochter war irgendwann hinter das Rätsel und somit hinter den Namen des geradewegs hysterischen Winzlings gekommen, und der sprang daraufhin wutentbrannt in die Luft, sagte einen allerletzten Satz („Das hat dir der Teufel gesagt“) und zerrisst sich hernach voll Zornesröte in zwei Teile.

Nun ist ein Kommentar über die Gräuel des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und die daraufhin beschlossenen Sanktionen gegen Moskau wahrlich keine Märchenstunde. Der Horror, den wir tagein, tagaus über Videos, Bildreportagen oder Erzählungen in unsere westeuropäischen Komfortzonen gestreamt bekommen, ist absolut real. Nehmen Sie nur einmal die vergangene Nacht: Während Söldner der russischen Wagner-Gruppe auf das Dorf Nowoluhanske vorrückten, gab es Kämpfe zwischen der russischen und der ukrainischen Armee in der Ortschaft Andrijiwka im Süden. In einem deutschen Nachrichtenmedium lesen sich solche Vorgänge wie folgt: „Während im Osten des Landes weiterhin die Moskauer Truppen die Initiative haben, ist Kiew im Süden inzwischen zu Gegenangriffen übergegangen.“ Wie viele beendete Leben hinter dieser nüchternen Kriegsprosa stehen, wie viel Tod das Wort „Moskauer Truppen“, wie viel Sterben der Stadtname „Kiew“ inkludieren? Man kann es vermutlich nicht mal ahnen.

Nein, dieser Krieg ist kein Märchen. Und doch agiert man in weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit seit Wochen bereits wie das zuckende und von autodestruktiven Impulsen geplagte Männlein aus den Hausmärchen der Gebrüder Grimm. Zunächst plustert man seine Zwergengestalt mit Rezitationsversen auf, die eher an Hau-den-Lukas denn an die Niederungen des Realen erinnern („Die Sanktionen wirken dramatisch“, Roderich Kiesewetter; „Putin hat das Gas, wir haben die Kraft“, Robert Habeck). Und dann, wenn derlei Kraftmeiereien an ihre Grenzen kommen und die sicherlich gut gemeinten Wünsche mit der Realität nicht in Übereinstimmung zu bringen sind, dann zerreißt man sich lieber in zwei Teile, als dass man im vielleicht allerletzten Moment endlich auf Realitätskurs wechselt.

Russland könnte trotz Sanktionen einen Handelsbilanzüberschuss von 250 Milliarden Dollar erwirtschaften

Denn zu dieser Realität würden bittere Einsichten gehören: Und die könnten bald für Deutschland – und somit für ganz Europa – derart schmerzhaft werden, dass sie kaum noch zu ertragen sein dürften. Laut dem erneuerten World Economic Outlook des IWF etwa muss Deutschland bereits jetzt seine Wachstumsaussichten für dieses Jahr innerhalb von nur drei Monaten um fast zwei Prozent nach unten korrigieren. Deutschland käme demnach nicht, wie noch im April prognostiziert, auf ein Wachstum von 2,7 Prozent, sondern lediglich noch von 0,8 Prozent. Unter den großen Wirtschaftsnationen wäre man hierzulande zumindest fürs Erste der größte Verlierer. Nicht nur in Brüssel scheint man daher bereits heute zu ahnen, dass ganz EU-Europa einen fiesen Schnupfen bekäme, wenn man in Berlin und Frankfurt weiterhin hüstelt.

Doch es kommt noch dicker: Während die Weltwirtschaft also allmählich in die Rezession stolpert und in den USA und der Eurozone immer höhere Inflationsraten drohen, scheint man sich im Kreml wider alle Unkenrufe und trotz aller Sanktionen noch wacker zu halten. Die Erfolgsmeldungen jedenfalls überstürzen sich: „Das Geschäft mit Öl und anderen Exportgütern hat sich als stabiler erwiesen als erwartet“, so etwa der IWF am gestrigen Dienstag mit Blick auf die russische Wirtschaftskraft. Der Bankensektor des Landes sei demnach stabil und die Arbeitslosenquote mit angeblichen 3,9 Prozent sogar rückläufig. Zwar rechnet man nach Angaben der russischen Zentralbank Rossii für 2022 mit einer Jahresinflationsrate zwischen 14 und 17 Prozent, das wäre allerdings weniger, als man in den ersten Kriegswochen noch vermuten musste. Der britische Economist ging im Mai 2022 sogar davon aus, dass Russland trotz des Krieges und der Sanktionen des Westens einen Handelsbilanzüberschuss von 250 Milliarden Dollar erwirtschaften könnte.

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Es mag dem deutschen Wirtschaftsminister Robert Habeck nicht gefallen – den eigenen Idealen, dem Humanismus sowie dem internationalen Recht gefällt es ohnehin nicht –, aber nur wer das Gas hat, hat auch die Kraft. Derzeit hat er sogar derart viel davon, dass er aufgrund gestiegener Weltmarktpreise weit weniger von dem kostbaren Stoff exportieren muss, um dennoch viel mehr daran zu verdienen. Man befeuert eine Wohnung eben nicht mit Herzenswärme, und eine Volkswirtschaft schon gar nicht. Am Ende zählen Angebot und Nachfrage auf dem Energiemarkt. Und da ist die Lage derzeit eben so, dass Russland laut eigenen Angaben derzeit davon ausgehen darf, im Jahr 2022 gut 14 Milliarden Euro Mehreinnahmen durch den Verkauf von Öl und Gas zu erzielen. 

Es droht ein Schrecken ohne Ende

Hinzu kommt, dass der Boykott der russischen Wirtschaft und die Dämonisierung des Kreml-Chefs von vielen Staaten, die man gemeinhin nicht oder zumindest nicht vollständig unter dem Begriff „Westen“ subsumiert, einfach nicht geteilt werden will. Indien zum Beispiel, ein Land, das sich gerne mit dem Attribut „größte Demokratie der Welt“ schmückt, verdient sich an der Weiterverarbeitung und dem Export von russischem Rohöl derzeit eine goldene Nase. Und selbst der Nato-Partner Türkei scheint die heimische Lira längst über Ethik und Moral gesetzt zu haben.

Aber soll man deshalb auch hierzulande allmählich fatalistisch werden? Natürlich nicht. Und dennoch dient es nicht der Sache – weder der eigenen noch der ukrainischen –, wenn man diese Fakten weiterhin blind ignoriert und sich vor Wut über die fehlende Ebenbildlichkeit von Ideal und Wirklichkeit lieber in Stücke zerreißt, als dass man endlich alles daran setzt, die Welt von ihrem eigenen Abgrund wegzubekommen.

Denn einen Unterschied zwischen einem Horrormärchen und der aktuellen Situation in Europa gibt es tatsächlich. Auf diesen hat jüngst der britische Historiker Niall Ferguson hingewiesen. Während nämlich selbst das schlimmste Märchen nach der dritten oder spätestens siebten Variante an sein Ende gelangt, scheint der Horror in der Ukraine schier endlos zu werden: „Je länger der Krieg andauert, desto länger dauert er“, so Ferguson jüngst in einem lesenswerten Interview mit der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza. Was der Autor von Bestsellern wie „Doom. Die großen Katastrophen der Vergangenheit“ mit diesem merkwürdigen Satz meinte? Je länger wir es nicht hinbekommen, diesen Krieg auf diplomatischen Weg zu lösen – oder mindestens einzufrieren –, umso unwahrscheinlicher wird es, dass uns das Ende überhaupt je gelingen wird.

Ganz ähnlich formulierte es jüngst übrigens auch der von vielen zu Unrecht geschmähte Brigadegeneral a.D. Erich Vad: Es komme langsam die letzte Chance für Verhandlungen, so der einstige Merkel-Berater in einem aktuellen Interview mit dem Magazin Stern. Würden wir auch diese verstreichen lassen, würde Putin sein Ziel bald auf militärischem Weg erreicht haben. „Dann brauchen sie nicht mehr zu verhandeln“, so Vad. Spätestens dann also wäre bewiesen, dass die Sanktionen gegen Russland in dieser Form nicht effektiv waren. Außer einem guten Gewissen, einem moralischen Mantra und der drohenden Selbstzerstörung aus politischer Ohnmacht hätten sie absolut nichts gebracht.

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