21 September 2025

The Pioneer - Julia Ruhs: Das Lexikon der Medienkritik

The Pioneer
Julia Ruhs: Das Lexikon der Medienkritik
Gabor Steingart, 19.09.2025, 7 Min.
Wenn das Selbstverständliche spektakulär wird, ist die Demokratie nicht in Gefahr, nur in Gebrauch. Meinungsfreiheit beginnt schließlich dann, wenn andere wollen, dass du schweigst.
So gesehen hat die 31-jährige Journalistin Julia Ruhs das Selbstverständliche getan – ihre Meinung gesagt und aufgeschrieben – und damit das Spektakuläre ausgelöst: eine Selbstreflexion der Medien.

Der Sachverhalt: Als Moderatorin der Sendung „Klar“, eine Koproduktion von Norddeutschem Rundfunk und Bayerischem Rundfunk, ist sie – die bekennende Konservative – in Hamburg nicht mehr erwünscht und wurde daher abgesetzt. Offizielle Begründung: keine.

Eine breite Welle der Solidarität, die von normalen Fernsehzuschauern über den CDU-Generalsekretär bis zu den Ministerpräsidenten von Bayern und Schleswig-Holstein reicht, begleitet die Affäre. Carsten Linnemann schlägt vor, die Rundfunkgebühren einzufrieren „damit Druck entsteht, damit Reformen passieren“.

Wahrheit gibt es nur zu zweien: Der Spiegel, der zu Augsteins Zeiten für die Meinungsfreiheit gekämpft hat, tritt nunmehr als Souffleur der NDR-Chefetage auf und begrüßt die Trennung von der Frau:

Niemand hat in der ARD das Recht auf eine Sendung. Auch beim NDR hat man keinen ersessenen Anspruch auf eine Sendung. Niemand hat das Recht, sich am Studio festzuketten.

Der Fall reicht über die Journalistin hinaus. Der systemische Charakter der Kontroverse ist kaum zu bestreiten. Man kann ihr Buch „Links-grüne Meinungsmacht“ weiter als eine Meinungsäußerung lesen oder auch als Lexikon der Medienkritik. Im Folgenden finden sich die wichtigsten Stichworte der Debatte, ausschließlich mit Zitaten aus ihrem Buch erklärt.

Erziehungsjournalismus

„Der Versuch, Menschen zum ‚Mainstream-Denken‘ zu bekehren. Damit der Bürger auch wirklich nicht auf ‚dumme Gedanken‘ kommt.“

Gefallsucht

„Beschreibt den Drang, nicht abweichen zu wollen von der Meinung der anderen Redakteure.“

Herdentrieb

„Viele finden es angenehmer, im Schutz der Mehrheitsmeinung in Deckung zu gehen und sich in der kollektiven Geborgenheit der Branche zu positionieren. Man könnte auch sagen: in der Nestwärme des eigenen Meinungsrudels.“

Konformität

„Mit gleicher Meinung ist man willkommener Freund, mit abweichender Meinung der Feind. Sie zerstören mit ihren platten Etikettierungen den demokratischen Diskurs, weil sie damit versuchen, legitime politische Ansichten zu etwas Unsagbarem zu machen. Seltsam groß scheint ihr Wunsch nach einer Einheitsmeinung zu sein. Nach Konformität.“

Mainstream

„Solange man sich in der Mehrheitsmeinung oder der medial gespiegelten Darstellung wiederfindet, spürt man keinen ‚Mainstream‘ – man hält die Berichterstattung für neutral. Das Gespür für ausgegrenzte Meinungen und Weltanschauungen entwickelt man erst, wenn man selbst mit seinen Ansichten nicht mehr vorkommt.“

Meinungskorridor

„Medien definieren, was eine ‚erlaubte‘ Meinung ist und was als ‚unerlaubte‘ Meinung gilt.“

Schweigespirale

„In ihrer Theorie der Schweigespirale geht Noelle-Neumann davon aus, dass die meisten Menschen instinktiv den Wunsch haben, von ihrer sozialen Umgebung akzeptiert zu werden. Angst vor Isolation haben. Um diese Isolation zu vermeiden, beobachten sie ständig, oft unbewusst, das Verhalten ihrer Mitmenschen, um herauszufinden, welche Meinungen und Verhaltensweisen von der Gesellschaft unterstützt werden und welche nicht.“

Streitbare Demokratie

„Sie behandeln unsere Demokratie wie einen gebrechlichen Senior: Bloß gut aufpassen, was man ihr zumutet. Als könnte bei zu viel Provokation ein Herzinfarkt eintreten. Dabei ist es gerade andersherum: Eine Demokratie ohne streitbare Meinungen ist keine mehr. Und die Grenze des Sagbaren ist immer noch das Strafrecht.“

Trotzreflex

„Sobald mir jemand mit Arroganz, Herablassung oder einer unerträglichen Selbstgefälligkeit begegnet – so tut, als sei seine Sichtweise ohne Zweifel die richtige, als sei er am Ende des meinungsmäßigen Evolutionsprozesses angelangt und ich im Mittelalter steckengeblieben –, setzt bei mir ein Trotzreflex ein. Ich sage meine Meinung extra zugespitzt, um ja auch zu schocken.“

Vorzeige-Demokraten

„Gerade diejenigen, die sich wohl selbst als die Vorzeige-Demokraten sehen, das personifizierte Gute, verhalten sich autoritärer, als ihnen bewusst ist. Sie haben förmlich eine Sehnsucht danach, den Diskurs frei von angeblich diskriminierenden, fremdenfeindlichen, ‚rechtsgerichteten‘ Meinungen zu halten. Diese Menschen glauben, sie täten der Demokratie einen Gefallen, wenn sie den Druck so stark erhöhen, so dass jeder am Ende lieber seinen Mund hält.“

Wutbürger

„In manchen Momenten war ich selbst überrascht von mir, wie viel Wut ich plötzlich im Bauch hatte. Wegen eines Radioberichts. Eines Fernsehbeitrags. Eines Artikels. Weil der nicht fair war, sondern tendenziös. Solche einseitigen Beiträge haben bei mir schon zu solch innerlichem Wutzustand geführt, dass ich mir einen Boxsack gewünscht habe.“

Fazit: Das Lexikon der Medienkritik hilft, den eigenen Standpunkt zu finden und den der anderen zu verstehen. Oder wie Julia Ruhs sich ausdrückt:

Wer sich nicht mehr vertreten fühlt, sucht Zuflucht anderswo. Dort, wo seine Wut ein Ventil findet.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen