04 September 2025

Mafiaboss freigelassen, Rentnerin verurteilt - Die Justiz ist am Nichtfunktionieren des Staates mitschuldig (Cicero)

Mafiaboss freigelassen, Rentnerin verurteilt
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Die Justiz ist am Nichtfunktionieren des Staates mitschuldig (Cicero)
Einer der übelsten Bosse der organisierten Kriminalität wird freigelassen, weil das Frankfurter Oberlandesgericht ihm ein Verfahren in der Türkei ersparen will. Solche „Grundsätze“ zerstören nicht nur das Vertrauen der Bürger, sondern den Staat selbst.
VON FERDINAND KNAUSS am 3. September 2025 5 min
„Der Staat funktioniert nicht mehr gut.“ Die Feststellung von Andreas Voßkuhle, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, ist längst Allgemeingut. Bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen wie bei allen anderen in Deutschland ist dieses Empfinden eine Art Tiefensound. Ministerpräsident Hendrik Wüst bestätigte das indirekt, indem er bei seinem Auftritt mit Bundeskanzler Friedrich Merz in Münster betonte, dass die Bürger in den Kommunen unmittelbar sähen, wie und ob der Staat funktioniert.
Ein in der politischen Debatte und in der von Voßkuhle geleiteten „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“ weitgehend ignoriertes Zentrum des Nicht-mehr-Funktionierens in unserem Staat ist Voßkuhles eigenes Metier, die Rechtsprechung. Deutsche Richter trafen in jüngerer Zeit zahlreiche Entscheidungen, die nicht nur dem Gerechtigkeitsempfinden der meisten Menschen radikal widersprachen und somit die Achtung der Bürger vor der Justiz und dem Rechtsstaat schadeten, sondern die tatsächlich dazu geeignet sind, den Bürgern und damit dem Gemeinwesen unmittelbar zu schaden.
Jüngstes, haarsträubendes Beispiel: Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main hat in Einvernehmen mit dem dortigen Oberlandesgericht einen mutmaßlichen türkischen Mafia-Chef nach seiner Festnahme wieder freigelassen. Tagesschau.de schreibt über Ismail A.: „Laut türkischen Medien ist er Anführer der Gruppierung ‚Casperler‘. Demnach werfen türkische Behörden der Gruppe insgesamt 116 Straftaten vor – darunter Mord, schwerer Raub, Drogenhandel, Prostitution und Freiheitsberaubung. Im Juli fanden den Medienberichten zufolge umfangreiche Razzien gegen die Gruppierung statt.“ In mehreren europäischen Staaten wird gegen ihn ermittelt.
Dieser Mann ist also offenkundig einer der übelsten Gewaltverbrecher der Türkei und Europas, der mit Interpol-Haftbefehl gesucht wird. Er ging der deutschen Polizei auf einer hessischen Autobahnraststätte in die Falle. Vier Tage nach der Festnahme ist der Mann allerdings aus der „Festhaltehaft“ entlassen worden. Im Klartext: Der Mafiaboss ist wieder frei, alle Fahndungarbeit und der für die Polizisten hochgefährliche Einsatz waren umsonst.
Einen Auslieferungshaftbefehl habe die Staatsanwaltschaft bei Gericht nicht beantragt. Denn die „Rechtsauffassung“ des zuständigen Oberlandesgerichts Frankfurt sei schließlich bekannt. Eine Sprecherin des Gerichts erläutert sie: „Der Senat sieht derzeit angesichts der politischen Lage ein rechtsstaatliches Verfahren in der Türkei nicht als gewährleistet an und würde deshalb Auslieferungen nicht für zulässig erklären.“

Die Frankfurter Richter setzen eindeutige Prioritäten. Ismail A. kann getrost weiter seinem mörderischen Geschäft nachgehen. Und er wird es sicher künftig mit besonderer Vorliebe in Deutschland tun, wo den Richtern seine Rechte wertvoller sind als das Interesse der Allgemeinheit, vor solchen Menschen wie ihm geschützt zu werden. Auch alle anderen türkischen Verbrecher und solche aus anderen Ländern, in denen ihnen weniger „rechtsstaatliche“ Gerichtsverfahren als in Deutschland drohen (also vermutlich die große Mehrheit der Staatenwelt), werden die Freilassung mit Interesse zur Kenntnis genommen haben.

Die „spezifischen Grundsätze“ der Frankfurter Richter werden sicher eine juristische Begründung haben. Die können weder der Autor dieser Zeilen noch alle anderen Nichtjuristen fachkundig widerlegen. Aber jeder, der mit einem funktionierenden Gehirn ausgestattet ist, kann die fatale Wirkung solcher Grundsätze, wenn sie tatsächlich umgesetzt werden, erkennen. Sie bewirken nicht nur den wachsenden Eindruck, dass der Staat nicht mehr gut funktioniert, sondern sie bewirken, dass er tatsächlich nicht mehr funktioniert. Denn sie sind eine Kapitulation vor dem Verbrechen und eine offene Einladung an Kriminelle, sich nach Deutschland zu begeben.

Sehr viel weniger rücksichtsvoll als diese verbrechensfreundlichen Grundsätze sind dagegen jüngere Entscheidungen anderer Gerichte, die durchaus keine Sorge um die Grundrechte von vermeintlichen Tätern erkennen ließen. Dafür umso mehr Verständnis für (ehemalige) Regierungspolitiker wie Robert Habeck, der mehr als 700 Strafanzeigen gegen Bürger gestellt hat, die ihn kritisierten. Eine Düsseldorfer Rentnerin etwa wurde in zweiter Instanz als Volksverhetzerin zu einer Geldstrafe verurteilt, weil sie auf Facebook über eine Aussage Robert Habecks schrieb: „Blablabla, wir sind nicht auf Faulenzer und Schmarotzer angewiesen …“

Machtkritik scheint also manchen Richtern und womöglich auch dem Gesetzgeber (sprich: den gewählten Politikern), dessen Gesetze oder auch Gesetzeslücken solche dysfunktionalen Entscheidungen ermöglichen, hierzulande ein größeres Problem zu sein als organisierte Kriminalität, diesen Eindruck könnte man fast gewinnen. Über eine anhaltende Entfremdung vieler Bürger vom eigenen Staatswesen und stetig abnehmendes Vertrauen in die Fähigkeit der Politik, die krisenhaft sich zuspitzenden Probleme zu lösen, kann sich angesichts dessen eigentlich niemand wundern. 

Denn der Schutz der inneren Sicherheit, also auch der eigenen Bürger vor Kriminalität und Gewalttätern, ist der Kern jeglicher Staatlichkeit. Und in einem freiheitlichen Staat kommt noch der Schutz der (Meinungs-)Freiheit hinzu. Ausgerechnet in der Richterschaft scheint das Bewusstsein dafür zu schwinden – zugunsten von universell-hypermoralischen Idealen, die jeden realen Staat in letzter Konsequenz zum Scheitern an der Wirklichkeit verurteilen, nämlich zur Wehrlosigkeit gegenüber Gewaltmenschen wie Ismail A..
Andreas Voßkuhle sagte auf die Frage nach der Rolle das Bundesverfassungsgerichts für die Handlungsfähigkeit des Staates: „Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung seit jeher die Gelingensbedingungen des Staates mit im Blick. Eine wichtige dogmatische Argumentationsfigur ist zum Beispiel die ‚Funktionsfähigkeit‘ staatlicher Organe.“ Ob die Karlsruher Richter und alle anderen in Deutschland diese Gelingensbedingungen tatsächlich ausreichend im Blick haben, muss man leider bezweifeln.

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