Obwohl Reiche in dieser Frage
lediglich die Anstrengungen ihres grünen Vorgängers Habeck weiterführt,
wurde sie aus Kreisen von Klimaschutz-Gruppen und Grünen-Politikern
scharf kritisiert. „Eine Politik, die auf gigantische Mengen an fossilen
Gaskraftwerken setzt, ohne den Weg in Richtung Wasserstoff zu gehen,
verbrennt unsere Zukunft und schadet der Wirtschaft in Deutschland“,
erklärte die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Katherina
Dröge Anfang dieser Woche. Gegen „die Geisterfahrt von Frau Reiche“
kündigten die Grünen „einen Herbst des Klimawiderstandes“ an.
Auch die „Deutsche Umwelthilfe“ (DUH) machte medial gegen den Bau von Back-up-Kraftwerken mobil – und offenbar mit Erfolg: Der Umweltverein veröffentlichte diese Woche das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage, demzufolge eine Mehrheit von 59 Prozent der Deutschen „fossile Projekte wie den Bau neuer Gaskraftwerke entschieden ablehnen“, wie es in einer DUH-Mitteilung heißt: Unter den Wählern der Union lehnten sogar 71 Prozent der Wähler neue Gaskraftwerke ab.
Insbesondere Klimavereine, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Grüne glauben, dass sich die Flatterhaftigkeit der Wind- und Solarstromproduktion auch ohne steuerbare Gaskraftwerke ausgleichen lässt: Sie verweisen auf den boomenden Einsatz von Batteriespeichern. Auch müsse lediglich die Stromnachfrage „flexibilisiert“ werden – das heißt dem jeweiligen Angebot von Wind- und Solarstrom angepasst.
Allerdings sind Batteriespeicher in privaten Haushalten in der Regel am
Morgen nach zwei Stunden gefüllt und tragen zur Deckung des
Strombedarfs während der oft zweiwöchigen winterlichen sogenannten
Dunkelflauten ohne Wind und Sonne nichts bei.
Die vom ehemaligen Grünen-Politiker Klaus Müller als Präsident geleitete Bundesnetzagentur erteilte diesen Ansätzen jetzt auch eine Absage: Der Einsatz von „Flexibilitäten“ in erheblicher Größenordnung sei zwar auch nötig. Die ständigen Verbrauchsanpassungen ersetzten aber nicht den zusätzlichen Bedarf an steuerbaren Kraftwerkskapazitäten.
Insgesamt müssten private und gewerbliche Verbraucher mithilfe ihrer Wallboxen, E-Autobatterien, Solarspeichern und Elektrolyse-Anlagen sowie industriellen Produktionsanpassungen für eine Flexibilisierung von 25 Gigawatt sorgen, was der Kapazität von 25 Atomkraftwerken entspricht: In dieser Größenordnung soll der Energieverbrauch sozusagen „atmen“ und je nach Verfügbarkeit von Wind und Sonne hoch- oder heruntergefahren werden.
Die Bundesnetzagentur berücksichtigt in ihrem aktuellen Bericht zwei Szenarien: Falls alle Planvorgaben der Energiewende-Politik pünktlich erfüllt werden, braucht Deutschland bis 2035 neue Gaskraftwerke im Umfang von 22 Gigawatt, also rund 44 Stromerzeuger der 500-Megawatt-Klasse.
Allerdings lassen aktuelle Entwicklungen
darauf schließen, dass wichtige Energiewende-Ziele verfehlt werden. Auf
Kurs ist bislang nur der Ausbau der Solarenergie. Doch auch hier könnten
sich wegen regulatorischer Eingriffe, die aus Gründen der
Netzstabilität notwendig wurden, ebenfalls noch Bremseffekte zeigen. Der
Ausbau der Windenergie an Land und auf See hängt den Ausbauzielen
deutlich hinterher.
Dasselbe gilt für die Optionen zur „Flexibilisierung“ der Stromnachfrage: So ist unwahrscheinlich, dass sich die Zahl der Elektroautos wie geplant von aktuell rund 1,2 Millionen bis 2030 auf 15 Millionen steigern lässt. Die Autobatterien, die den Planungen zufolge auch als Zwischenpuffer für Wind- und Solarstrom dienen sollten, stehen also bei Weitem nicht im gewünschten Umfang zur Verfügung.
Auch der Bau von Elektrolyseuren zur Produktion von Wasserstoff, die der Flexibilisierung der Stromnachfrage dienen konnten, kommt nicht in Gang.
Die deutlich absehbaren Zielverfehlungen dieser Art hat die Bundesnetzagentur in einem zweiten Szenario eingepreist. Ergebnis: Deutschland braucht bis 2035 sogar 35,5 Gigawatt steuerbare Kraftwerkskapazität, also 71 neue Kraftwerke.
„Auch könnte es durch diese Verzögerungen im Jahr 2030 zu seltenen Situationen kommen, in denen der Strommarkt die Nachfrage nicht vollständig decken kann“, heißt es in dem Bericht: „In solchen Fällen müssten beispielsweise zusätzliche Reserven außerhalb des Strommarktes für die Versorgungssicherheit eingesetzt werden.“
Auch Kohlekraftwerke könnten länger laufen
Die Bundesnetzagentur schreibt in ihrem Bericht zur Versorgungssicherheit lediglich von „steuerbarer Kraftwerksleistung“ und nennt Gaskraftwerke dabei nur als ein technologisches Beispiel. Theoretisch könnten auch Kohlekraftwerke diese steuerbare Leistung bereitstellen. Genehmigt die EU-Kommission weiterhin keine Subventionen für Gaskraftwerke, wird Deutschland gar keine andere Wahl haben, als seine bestehenden Kohlekraftwerke nicht nur in Reserve zu halten, sondern diese auch umfangreich zu nutzen.
Die Hoffnung der Klimaschutz-Szene, statt Gaskraftwerke könnten auch Batterien oder Ähnliches für die nötige Versorgungssicherheit sorgen, wird durch den BNetzA-Bericht nicht bestärkt. Trotz der dort beteuerten Technologieoffenheit findet sich das Wort „Gaskraftwerke“ auf 50 Seiten im 480 Seiten starken Bericht. Das Bundeswirtschaftsministerium rekurriert in seiner Stellungnahme ausschließlich auf Gaskraftwerke.
Ministerin Reiche will bis Ende
des Jahres oder spätestens Anfang kommenden Jahres die ersten
Fördermittel für neue Anlagen ausschreiben. Zuletzt hieß es, die
Gespräche mit der Wettbewerbsbehörde der EU-Kommission seien schon weit
gediehen. Ursprünglich war geplant, den Betreibern der neuen
Gaskraftwerke nach einigen Betriebsjahren den Einsatz von Wasserstoff
vorzuschreiben.
Weil allerdings die Wasserstoffproduktion weltweit kaum zunimmt und unklar ist, ob die Mengen für den Betrieb der Kraftwerke beschafft werden können, wird das Kriterium in den Ausschreibungen wahrscheinlich fallen gelassen. Ohne Aussicht auf eine verlässliche, wirtschaftliche Versorgung mit dem klimaneutralen Brennstoff würden sich sonst weiterhin keine Investoren für neue Gaskraftwerke finden lassen.
Dieser Artikel wurde für das Wirtschaftskompetenzzentrum von WELT und „Business Insider Deutschland“ erstellt.
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