Einige Tage später entdeckten die Ermittler an der Schulter des toten Mädchens DNA-Spuren, die eindeutig dem Iraker zuzuordnen waren. Daraus ergebe sich ein «dringender Verdacht des Totschlags» teilte die Behörde mit. Der mutmaßliche Täter hat sich zu den Vorwürfen nicht geäußert.
Ein Bericht im Norddeutschen Rundfunk über die Tat wirft erneut die Frage auf, wie in Deutschland Staat und Medien mit Verbrechen umgehen, die mit der Asylmigration in Verbindung stehen. In dem Beitrag kommt eine Vertreterin der örtlichen Kirchengemeinde zu Wort. Sie warnt vor einer «Vorverurteilung» und erklärt, dass man in Friedland seit achtzig Jahren Erfahrung mit schwierigen Flüchtlingen habe, weil sich im Ort das sogenannte Grenzdurchgangslager befindet. Trotzdem würden sich in der Gemeinde Immobilien verkaufen lassen. Ihr Fazit: «Also so schlecht kann’s hier nicht sein.»
Andreas Friedrichs, der Bürgermeister von Friedland, äußert sich in dem Beitrag ebenfalls zu der Tat. Er lässt sich am Bahnsteig filmen und warnt vor «Hass und Hetze». Er spricht von einem «tragischen Unglücksfall». Diese Formulierung löste im Internet Empörung aus und brachte ihm laut eigenen Aussagen mehr als hundert aggressive E-Mails ein. Im Gespräch mit der NZZ sagt der sozialdemokratische Bürgermeister, er habe zum Zeitpunkt der Aufnahme nichts von der Wende bei den Ermittlungen gewusst.
Bürgermeister kritisiert Asylsystem
Heute würde er nicht mehr von einem «Unglücksfall», sondern von einem Tötungsdelikt sprechen. Friedrichs ist seit fast 25 Jahren Bürgermeister. Im Gespräch wirkt er aufgekratzt. Eine lückenlose Aufklärung der Tat sei ihm nicht genug. Das deutsche Asylsystem sieht er kritisch und sagt: «Da stimmt doch irgendetwas nicht.»
Die Mutter der Toten findet deutliche Worte in einem Interview mit der rechtskonservativen Zeitung «Junge Freiheit». Laut der Zeitung suchte sie das Bürgerbüro des AfD-Politikers Björn Höcke im nahe gelegenen Heiligenstadt auf. Höcke ist einer der bekanntesten Köpfe in der AfD und repräsentiert den äußersten rechten Rand der Partei.
Die Mutter sagte, die AfD habe ihr «Mut und Kraft gegeben, weiterzumachen und nicht aufzugeben». Sie danke der Partei «von ganzem Herzen». Ihr Dank gelte auch der CDU, weil der christlichdemokratische Bürgermeister der Gemeinde Geisleden einen erfolgreichen Spendenaufruf gestartet hatte, um die Kosten für die Beerdigung ihrer Tochter zu decken. Nachdem sie im Jahr 2022 aus der Ukraine geflüchtet war, kam die Familie des toten Mädchens in dem Ort unter. Auch der Bürgermeister von Geisleden sagte, in seiner Gemeinde seien viele Menschen gleich davon ausgegangen, dass der Tod der jungen Ukrainerin kein Unfall gewesen sein konnte.
Aber warum befand sich der tatverdächtige Iraker noch im Land, obwohl sein Asylantrag abgelehnt worden war?
Mindestens zweimal sollte Muhammad A. abgeschoben werden. Beide Male schritten deutsche Gerichte dagegen ein. Laut dem Verwaltungsgericht Göttingen war der 1984 geborene Iraker im August 2022 nach Deutschland eingereist. Sein Asylantrag lag sechs Wochen später vor. Doch dann stellte sich heraus, dass der Mann zuvor schon einmal um Asyl gebeten hatte, vor Jahresfrist in Litauen. Laut Dublin-Übereinkunft ist damit Litauen zuständig für den Fall.
Abgelehnt und trotzdem im Land
Die deutschen Behörden setzten sich mit ihren Amtskollegen in Verbindung. Mit einem Schreiben vom 27. Oktober 2022 öffneten die Litauer Behörden den Weg zurück. Doch in Deutschland reichte Muhammad A. Klage gegen seine Abschiebung ein. Zu Recht, befand ein Göttinger Gericht. «Es liegen ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass (. . .) die Aufnahmebedingungen in Litauen (. . .) systematische Schwachstellen aufweisen», heisst es in dem Urteil vom Januar 2023, das der NZZ vorliegt. Es bestehe die Gefahr einer «unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung».
Tatsächlich hatte Amnesty International um diesen Zeitraum herum von mehreren tausend Migranten in litauischen Gefängnissen berichtet. «Diese Praxis der Inhaftierungen war vom Europäischen Gerichtshof für rechtswidrig erklärt worden, das Urteil wurde von Litauen zunächst aber nur zögerlich befolgt», erklärte das Göttinger Gericht gegenüber der NZZ. Litauen korrigierte diese Praxis im Juni per Parlamentsbeschluss. Manche Behörden in Deutschland nahmen die Gelegenheit unverzüglich wahr.
So genehmigte das Verwaltungsgericht Cottbus nur wenige Tage danach die Abschiebung eines Asylbewerbers nach Litauen. Nicht so in Göttingen. Dort sollte es noch fast zwei Jahre dauern, bis ein Gericht der Abschiebung von Muhammad A. zustimmte. Es sei schlicht «die Menge an Asylverfahren» gewesen, die bei den Verwaltungsgerichten zu bewältigen seien, so heißt es dazu aus Göttingen. Ein Verzug von knapp zwei Jahren sei keinesfalls ungewöhnlich.
Das Abschiebeurteil erging im Februar 2025, dennoch durfte Muhammad A. weiter in Deutschland bleiben. Das Amtsgericht Hannover lehnte eine Abschiebehaft ab. Der Antrag sei unzureichend begründet gewesen.

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