Nach etlichen Anhörungen von Zeugen und Sachverständigen im Untersuchungsausschuss sowie der Vorlage vieler weiterer Unterlagen zu den Vorgängen kann es inzwischen keinen vernünftigen Zweifel mehr geben:
Leitende Personen im Wirtschaftsministerium (BMWK) und im Umweltministerium (BMUV), insbesondere die Staatssekretäre Graichen und Tidow, setzten in den ersten zwei Wochen nach dem russischen Überfall auf die Ukraine alles daran, einen möglichen Weiterbetrieb von KKW zu verhindern. Die Prüfung, wie weit ein Weiterbetrieb die absehbaren Probleme in der Energieversorgung hätte verringern können, wurde rigoros abgewürgt.
Die wichtigsten Schritte zur Täuschung der Öffentlichkeit durch die Ministerien
Die Analyse/Auswertung der freigegebenen Unterlagen zeigt folgende Schwerpunkte in Vorgehen und Argumentation der Staatssekretäre Graichen und Tidow mit ihren Mitarbeitern:
Schnellstmögliche Beendigung der Diskussion über einen Weiterbetrieb
Innerhalb
von ca. einer Woche wurden, gesteuert von den Staatssekretären, in Tag-
und Nacht-Aktionen ausschließlich von Kernenergiegegnern Texte mit den
Behauptungen formuliert, ein Weiterbetrieb von AKW nutze nichts, er sei
wegen offener Sicherheitsfragen auch nicht verantwortbar und die
Betreiber selbst wollten ihn nicht. Damit sollte das Entstehen einer
offenen Diskussion im Keim erstickt werden.
Offensichtlich ist eine solche Parforce-Aktion nicht vereinbar mit einer ergebnisoffenen und tabufreien Prüfung, wie sie Minister Habeck versprochen hatte. Es ist bemerkenswert, wie im Untersuchungsausschuss nicht nur die an der Aktion Beteiligten, sondern auch die Abgeordneten von SPD und Grünen es schafften, stur das Gegenteil zu behaupten, ohne rot zu werden. Sie ließen sich auch dadurch nicht beirren, dass die wesentlichen Begründungen für die Behauptungen der Ministerien sich in den Ausschuss-Anhörungen als unredlich oder falsch erwiesen, wie im Folgenden erläutert.
Weiterbetrieb von AKW nutzt angeblich nichts?
Um
einen geringen Nutzen eines Weiterbetriebs zu belegen, beschränkten die
Ministerien ihre Betrachtungen auf den Unterschied mit/ohne
Weiterbetrieb auf 3 ½ Monate Anfang 2023. Es ist offensichtlich, dass 3 ½
Monate Weiterbetrieb mit drei AKW, die im Streckbetrieb auch nur
reduzierte Leistung liefern konnten, aufs Jahr gerechnet wenig bewirken
können.
Aber diese Begrenzung der Betrachtungen war unredlich,
denn die aktuellen Probleme unserer Energieversorgung (CO2-Emissionen
und hohe Strompreise) waren und sind nach dem Winter 2022/23 natürlich
nicht erledigt, sondern sie werden uns noch etliche Jahre beschäftigen.
Wie lange aber wird es noch dauern, bis mit einem völlig neuen
Energiesystem auf Basis regenerativer Energieträger sowohl fossile als
auch Kernkraftwerke bezahlbar ersetzt werden könnten? Diese Diskussion
haben die Abgeordneten von SPD und Grünen gescheut wie der Teufel das
Weihwasser. Ihnen war wohl klar, dass ohne die Wunschprognosen ihrer
bekanntesten Unterstützerin, Claudia Kemfert, sondern bei realistischer
Betrachtung ein Zeitraum von 15 und mehr Jahren herauskommen würde, in
dem AKW durch Weiterbetrieb von Kohlekraftwerken ersetzt werden müssten.
Damit wäre nämlich klar geworden, dass der Weiterbetrieb von sechs AKW, die im Frühjahr 2022 betriebsfähig waren oder vergleichsweise günstig hätten gemacht werden können, bis Ende der 2030er Jahre gewaltige Mengen an CO2-Emissionen (etliche 100 Millionen t) und erhebliche Kosten in der Stromversorgung (etliche 10 Mrd. €) eingespart werden konnten.
Der Weiterbetrieb hätte bei redlicher Betrachtung also durchaus genutzt – zumindest wenn die Ampel-Koalition ihr Ziel ernstgenommen hätte, die CO2-Emissionen möglichst rasch zu verringern. Hinweise auf diese Vorteile eines Weiterbetriebs der AKW waren in den Textentwürfen der Fachabteilungen des BMWK auch enthalten, wurden jedoch in der Endredaktion der Texte auf Leitungsebene entfernt. Die Öffentlichkeit sollte das nicht so erfahren.
Wegen offener Sicherheitsfragen Weiterbetrieb angeblich nicht verantwortbar?
Diese
Behauptung versuchten Staatssekretär Tidow und sein Abteilungsleiter
vor allem mit der Aussage zu belegen, es fehle eine Periodische
Sicherheitsüberprüfung (PSÜ) und die ließe sich nur in einem
langjährigen Prozess nachholen. Deshalb seien Sicherheitsdefizite nicht
auszuschließen, für deren Beseitigung auch hohe Investitionen nicht
auszuschließen seien.
Tatsächlich war jedoch Sachkundigen bereits
im März 2022 bekannt, dass die für eine aktualisierte
Sicherheitsbewertung erforderlichen Informationen aufgrund der
kontinuierlichen Überwachung sowie vieler technischer Analysen und
entsprechenden Ertüchtigungsmaßnahmen im Zeitraum 2010 bis 2021 schon in
großem Umfang vorlagen. Diese Sachkundigen wurden jedoch nicht befragt.
Außerdem weigerte sich das BMUV, der für die Beurteilung der
Kenntnislage kompetenten Reaktor-Sicherheitskommission einen
Beratungsauftrag zu erteilen. Die anschließend für eine aktualisierte
PSÜ noch erforderliche redaktionelle Einarbeitung der vorliegenden
Kenntnisse wäre durchaus bis Ende 2022 machbar gewesen.
Dass diese Einschätzung zutrifft, zeigte sich im Herbst 2022: Nachdem in der Ampelkoalition trotz aller Widerstände in BMWK und BMUV eine Diskussion über Reservebetrieb/Weiterbetrieb der noch laufenden KKW eingesetzt hatte (von Bundeskanzler Scholz dann Weiterbetrieb bis 15.04.2023 festgelegt), beauftragte das BMUV am 20.09.2022 schließlich doch die Reaktor-Sicherheitskommission (RSK) mit einer Bewertung der Sicherheit der KKW nach aktuellem Kenntnisstand. Bereits nach knapp zwei Monaten legte die RSK ihre Stellungnahme vor und kam zu dem Ergebnis: „Zusammenfassend sieht die RSK bei Berücksichtigung der ausgesprochenen Empfehlungen keine sicherheitstechnischen Gründe, die dem geplanten Weiterbetrieb der Anlagen GKN II, KKE und KKI 2 bis zum 15. April 2023 entgegenstehen.“
Damit war die im März 2022 aufgestellte Behauptung vom sicherheitstechnisch nicht verantwortbaren Weiterbetrieb komplett widerlegt.
Dass hier
seitens BMUV die Öffentlichkeit bewusst getäuscht wurde, ist besonders
deutlich an einer weiteren Behauptung im für die Entscheidung der
Bundesregierung grundlegenden Prüfvermerk vom 7.3.2022 zu erkennen: „…
aber eine grundlegende Sicherheitsanalyse und Überprüfung der
Störfallszenarien anhand des neuen Regelwerks von 2012 weitgehend
unterblieben ist, sind unerkannte Defizite nicht auszuschließen.“
Tatsächlich jedoch hatte der zuständige Abteilungsleiter im BMUV im
Zeitraum 2016-2021, als er noch im Umweltministerium Baden-Württemberg
tätig war, genau diese Überprüfung sehr detailliert durchführen lassen.
Ergebnis 2021: In der Sicherheitstechnik der überprüften Anlage waren keine Änderungen erforderlich, da keine Defizite
festgestellt wurden, lediglich für die Betriebsführungsunterlagen wurde
einzelne Konkretisierungen und Ergänzungen empfohlen, die
betriebsbegleitend umgesetzt wurden.
Der Abteilungsleiter musste also wissen, dass obige Behauptung im Prüfvermerk grob irreführend oder falsch war. (Weitere Erläuterung zu irreführenden oder falschen Behauptungen im Prüfvermerk von BMWK und BMUV vom 7.3.2022 in einer Stellungnahme für den Bundestags-Untersuchungsausschuss am 28.11.2024.)
Die Betreiber selbst wollten den Weiterbetrieb angeblich nicht?
Diese
Behauptung wurde von leitenden Personen in BMUV und BMWK immer wieder
öffentlich geäußert. In dem Prüfvermerk vom 7.3.22 wird ausgeführt, die
KKW-Betreiber würden verlangen, dass der Staat alle rechtlichen und
wirtschaftlichen Risiken für den Weiterbetrieb übernehme. Dies geht
zurück auf ein Protokoll vom 7.3.2022 zu einer kurzen Telefonkonferenz
zwischen BMWK und BMUV mit den Konzernvorständen der KKW am 5.3.2022 von
10:30 bis 11:30. Die hektische, konspirative Art, wie die
Telefonkonferenz und das Protokoll dazu entstanden sind, spricht Bände:
- Eingeladen wurde zu der Telefonkonferenz per Mail am 4.3.2022, 12:07, also weniger als 24 Stunden vor Beginn der Besprechung.
- Eine Tagesordnung oder konkrete Fragestellungen sind nicht enthalten. Es gibt nur den vagen Hinweis, es gehe darum, sich „über die aktuelle Lage auszutauschen“. Primär musste es nach der damaligen aktuellen Lage und dem Ziel, die russischen Importe an Erdgas, Kohle und Erdöl zu minimieren, darum gehen, wie eine Mangellage in der Gas- und Kohleversorgung bekämpft werden könnte.
- Dies hat offensichtlich der Konzernchef von RWE, Markus Krebber, so gesehen, denn in einer Mail um 16:50 schlägt er Patrick Graichen vor, auch Uniper, LEAG und Kerstin Andreae, Geschäftsführerin des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (und Energieexpertin der Grünen), zusätzlich einzuladen, die für die Kohle- und Gasversorgung relevant sind. Erst eine Stunde später, 17:50, schiebt Herr Krebber nach: „Es sei denn es geht nur um Kernenergie …“ Worauf Graichen um 18:03 antwortet: „Ja, es geht v.a. um Atom.“ Bemerkenswert: Im Verteiler des Mail-Austauschs zwischen Krebber und Graichen sind die Konzernvorstände von EnBW und E.ON nicht eingeschlossen. Ob diese wenigstens noch telefonisch über die spezifische Stoßrichtung der Telefonkonferenz informiert wurden, ist aus den vorgelegten Akten nicht erkennbar. Allerdings hätten diese als kerntechnische Laien in der Zeit von Freitagabend bis Samstagmorgen auch keine Chance gehabt, sich seriös auf Kernenergiethemen vorzubereiten.
- In der Telefonkonferenz am 5.3. morgens wurde – wohl seitens BMUV – vorgetragen, dass einem Weiterbetrieb gravierende sicherheitstechnische Aspekte entgegenstünden, die nur – wenn überhaupt – mit einem enormen Aufwand an Zeit und Investitionen ausgeräumt werden könnten. Konfrontiert mit diesen – nicht belegten – Behauptungen zu Kosten und Risiken, die die Konzernvorstände (kerntechnische Laien) ohne Rückgriff auf die konzerninternen Fachleute nicht ad hoc entkräften konnten, ließen sie sich auf folgende Position ein: Sie würden sich einem Weiterbetrieb der AKW auf Wunsch der Bundesregierung nicht verschließen, aber angesichts der dargestellten Probleme müsse der Staat die unternehmerische Verantwortung für Nachrüstungen und Betrieb übernehmen.
- Am Sonntag, den 6.3., 13:31, sandte Staatssekretär Graichen den Protokollentwurf an die Konzernvorstände mit Bitte um Rückmeldung bis zum selben Abend, spätestens aber bis Montagmittag. Am Montag 7.3., 7:13, sandte der Konzernvorstand RWE Erläuterungen zu Textvorschlägen, „um unangreifbar zu sein“. Um 15:53 versandte Graichen den Text als abgestimmte Fassung, obwohl anscheinend kein eigener Kommentar von EON vorlag.
So wurden die Konzernchefs, wohl mit Ausnahme von
Herrn Krebber, der über besondere Kontakte zu Herrn Graichen zu verfügen
scheint, in der Telefonkonferenz mit einer spezifischen Diskussion
überrascht und als kerntechnische Laien über den Tisch gezogen, um sie
zu der Aussage zu bringen, sie seien nicht an einem Weiterbetrieb
interessiert.
Warum diese extreme Hektik ohne eine erkennbare Klärung von fachlichen Fragen notwendig gewesen sein soll, ist aus den vorgelegten Akten nicht ersichtlich. Anscheinend wurde die Aussage „Die Betreiber wollten nicht“ für den Prüfvermerk benötigt, der am 07.03.2022 nachmittags von BMUV und BMWK verabschiedet wurde.
Unsere Gesellschaft wird mit den Folgen der „Eilentscheidung“ leben müssen
Nach allem kann es keine vernünftigen Zweifel mehr daran geben, dass die Staatssekretäre Tidow und Graichen mit ihren Zuarbeitern eine „sachgerechte und ergebnisoffene Prüfung“ verhindern und Diskussionen möglichst rasch abwürgen wollten. Es ging vielmehr – wie die Anhörungen auch verdeutlichten – darum, ein von Jürgen Trittin und anderen hochgehaltenes Tabu nicht zu gefährden.
Ob und inwieweit Minister
Habeck in die einzelnen Schritte „zum Abwürgen“ eingeweiht war, ist aus
den vorgelegten Akten nicht zu erkennen. Jedenfalls hätte er aber sehen
müssen, dass innerhalb einer Woche eine „sachgerechte und ergebnisoffene
Prüfung“ gar nicht möglich sein konnte. Wenn er das nicht gesehen haben
sollte, müsste ihm mindestens erhebliche politische Naivität
bescheinigt werden.
Lässt sich an den Folgen – unnötig hohe CO2-Emissionen in gewaltigem Umfang und Mehrkosten in der Stromversorgung in Höhe von mehreren 10 Milliarden € – durch eine jetzige Entscheidung für einen Weiterbetrieb von KKW noch etwas ändern? Das geht nun wohl nicht mehr. Im Wesentlichen liegt das daran, dass die qualifizierten und erfahrenen Fachleute für Betrieb und Instandhaltung der KKW jetzt nicht mehr in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen. Im März 2022 wären diese Fachleute dafür noch motiviert gewesen. Aber inzwischen haben sie von dem beobachteten unredlichen Taktieren um den Weiterbetrieb der KKW – wie es ein erfahrener Mitarbeiter eines KKW formulierte – „die Schnauze gestrichen voll“ und wollen nur noch ihre Ruhe haben.
Unsere Gesellschaft
wird deshalb mit den Folgen der „Eilentscheidung“ vom 7.3.2022 leben
müssen. Es bleibt nur zu hoffen, dass in der Sicherung unserer
zukünftigen Energieversorgung an weiteren Stellen bisheriges
Wunschdenken durch realistische Analysen ersetzt wird.
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