06 März 2023

Business Class Edition: Scholz: Die ungehaltene Regierungserklärung

Business Class Edition:
Scholz: Die ungehaltene Regierungserklärung
oder
was Scholz den Deutschen jetzt über den Ukraine-Krieg sagen muss

Guten Morgen,
Kanzler Scholz schickt zwar Waffensysteme zur Unterstützung der Ukraine, verkennt aber sechs unbequeme Wahrheiten zum Krieg, der in eine neue schwierige Phase tritt. In seiner Regierungserklärung im Bundestag lieferte er Durchhalteparolen statt sachlicher Informationen.  Keiner beschrieb das Ende des Ersten Weltkrieges so eindringlich wie Sebastian Haffner in seiner „Geschichte eines Deutschen“. Der bei Kriegsende erst Elfjährige hatte jahrelang mit den deutschen Truppen dem versprochenen „Endsieg“ entgegengefiebert. Täglich rannte er zur Polizeidienststelle, um am schwarzen Brett die offiziellen Heeresberichte zu studieren.
Und dann kam der Tag, als da plötzlich keine Depesche mehr hing:

                                                               "Leer und Schwarz gähnte mich das Brett an".
Beunruhigt rannte der junge Haffner weiter zum nächsten Kiosk, wo sich bereits eine Menschentraube gebildet hatte.
Waffenstillstand unterzeichnet“, lautete die Schlagzeile.
Haffner beschreibt seine innere Betäubung:
"Dass es so etwas für uns geben konnte – und zwar nicht als Zwischenfall, sondern als Endergebnis von lauter Siegen und Siegen – mein Kopf fasste es nicht. Die ganze Welt war mir fremd und unheimlich geworden. Das große Spiel hatte offenbar außer seinen faszinierenden Regeln, die ich kannte, noch geheime Regeln besessen, die mir entgangen waren".
Die Welt seither hat sich verändert. Doch die Regeln für das große, blutige Spiel sind die gleichen geblieben. Das schwarze Brett hängt heute im deutschen Bundestag. Es ist nicht leer, aber es ist auch nicht wahrhaftig.
In seiner Regierungserklärung lieferte Kanzler Scholz dutzendfach Durchhalteparolen („Der Weg hin zu diesem Frieden erfordert tapferes Handeln“), aber kaum sachliche Informationen. Zur Blitzvisite im Weißen Haus waren im Regierungsflugzeug erstmals in seiner Amtszeit Journalisten unerwünscht. Die übliche Pressekonferenz im Weißen Haus entfiel.

Das Bluffen gehört beim großen Spiel dazu. Der Gegner soll verwirrt, das eigene Volk bei Laune gehalten werden. Einer muss schließlich den Einsatz zahlen.

Gehörte die Wahrhaftigkeit zu den Spielregeln, hätte Olaf Scholz im Bundestag eine andere Regierungserklärung abgeben müssen. Zum Beispiel diese:

Liebe Landsleute, verehrte Partner in Amerika und Europa, sehr geschätzter Präsident Selenskyj,

es steht nicht gut um die Ukraine und unseren gemeinsamen Kampf für die Freiheit. Ich habe heute Morgen sechs unbequeme Wahrheiten, die ich mit Ihnen teilen möchte:

1. Ich registriere, dass die Zustimmung zur Kriegsführung in den USA schwindet. Die Republikaner, sowohl Trump als auch sein Gegenkandidat Ron DeSantis, werben im Vorwahlkampf für ein Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine. Trump rief bei der rechtskonservativen Versammlung CPAC in die Menge:

Wir werden niemals mehr unbegrenzt Geld in endlose Kriege pumpen.

Auch Präsident Joe Biden hat es nicht so eilig mit den zugesagten Abrams Panzern. Sie werden bei der Industrie gesondert bestellt und kommen nicht aus Beständen des US-Militärs. Es dürfte also dauern, bis amerikanische Panzer in der Ukraine ankommen.

Noch ist es zu früh, von einem amerikanischen Rückzug auf Raten zu sprechen. Aber ich sehe diese Entwicklungen mit Sorge.

2. Die Sanktionen wirken nicht so, wie wir uns das vorgestellt hatten. Die Russische Föderation hat Wege gefunden, um ihr Gas und ihr Öl an andere Nationen zu verkaufen; sie hat auch Wege und Möglichkeiten gefunden, die fehlenden westlichen Importe über Drittstaaten zu organisieren.

Der in Genf beheimatete Trade Data Monitor zeigt an, dass wichtige sanktionierte Produkte, wie zum Beispiel Halbleiter, über die Türkei, Serbien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Kasachstan und weitere Staaten ihren Weg vom Westen nach Russland finden.
Ich möchte Ihnen keine Erfolge verkaufen, wo keine Erfolge sind: Unser Sanktionsregime ist löchrig wie ein Schweizer Käse.

3. Die Hauptleidtragende der westlichen Sanktionen ist die deutsche Volkswirtschaft. Denn große Teile unserer klassischen Industrie leiden unter dem Entzug des billigen Pipeline-Gases aus Russland. Damit ist unsere Grundidee, wir schwächen die kriegsführende Nation und limitieren ihre ökonomischen Möglichkeiten zur Kriegsführung, leider nicht aufgegangen. Stattdessen schwächen wir unsere Volkswirtschaft, indem wir sie zwingen, Milliardenwerte in Russland abzuschreiben und daheim ihre Energiebasis zu verteuern.

4. Putin ist durch unsere militärische und ökonomische Reaktion auf seinen Krieg leider nicht demütig, sondern entschlossener, man kann auch sagen, brutaler geworden. Ermuntert vermutlich durch die Nichtverurteilung seiner Invasion durch China und Indien, die beiden bevölkerungsreichsten Nationen der Erde, wirft er immer neue junge Menschen in die tödliche Schlacht.

5. Unsere Militärhilfe ist weitreichend, aber nicht ausreichend. Auch das gehört zur Wahrheit dazu. Viele Menschen fürchten, wir könnten durch unsere militärische Anstrengung zur Kriegspartei werden. Auf der anderen Seite sagen mir die Militärs und der Chef von Rheinmetall, dem größten Rüstungsunternehmen unseres Landes, dass der Westen zusätzliches Kriegsgerät – mehr Panzer, mehr Munition und tatsächlich auch Kampfflugzeuge – liefern müsste, um das Vorrücken der Russen zu stoppen und die Frontlinie wieder in Richtung der Vorkriegsgrenze verschieben zu können.

Rheinmetall-Chef Papperger sagt mit Blick auf die Lieferung von 14 deutschen Leopard-2-Panzern:

Das reicht nicht. Wir reden, wenn es wirklich um die effektive Verteidigung der Ukraine geht, über mehrere 100 Stück, also zwischen 600 und 800 Stück mindestens.

Wir haben es mit einem Aggressor zu tun, der sein Eskalationspotential nutzt. Russland verschießt an einem Tag mehr Artilleriemunition als die EU in einem Monat produziert, sagte kürzlich der estnische Außenminister Urmas Reinsalu. Damit steht uns die eigentliche Kontroverse in Deutschland erst noch bevor. Weniger Putin wird erkennbar mit weniger Waffen nicht zu haben sein.

6. Last but not least ist auch unsere Annahme, dass die aggressive Politik Putins ihn isolieren wird und auf der internationalen Bühne zum Paria macht, nicht eingetreten. Die Chinesen haben sich keineswegs von Putin losgesagt, sondern ihre ökonomische und militärische Zusammenarbeit verstärkt. Russland befindet sich damit de facto in chinesischer Hand, womit dieser große asiatische Gegenspieler der USA durch den Krieg gestärkt wurde.

Meine Damen und Herren, der Krieg um die Souveränität der Ukraine ist nicht verloren. Aber er tritt in eine neue schwierige Phase ein. Trotz der geschilderten Widrigkeiten, die für unser Land ökonomisch eine Herausforderung und politisch eine Zerreißprobe bedeuten, bitte ich Sie um Ihre Unterstützung. Oder um hier vor diesem Hohen Haus mit der österreichischen Schriftstellerin und Essayistin Ingeborg Bachmann zu schließen.

Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.

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