Jedes der zur Etablierung einer derartigen Führung umgesetzten Konzepte lässt sich einer der beiden Gattungen Demokratie oder Autokratie zuordnen. Erstere sieht im Gegensatz zur letzteren ein Mitspracherecht der Bürger vor. Zwar ist die verbreitete Auffassung korrekt, eine Demokratie sei die grundsätzlich bessere Alternative. Die naive Begründung aber, sie führe automatisch zu größerer politischer Weisheit, stimmt nicht.
Entscheidungen einer Regierung können ohnehin nicht entlang eines
allgemeingültigen und dauerhaft beständigen Maßstabs als gut oder
schlecht, als falsch oder richtig bewertet werden. Jedes Gemeinwesen
zerfällt in eine Vielzahl unterscheidbarer Gruppierungen mit
unterschiedlichen Interessen, die alle aus Sicht ihrer Vertreter gut
begründet und sinnvoll sind. Politik mag als Handwerk der Vermittlung
zwischen diesen divergierenden Ansprüchen angesehen werden, der Suche
nach einem ausgleichenden Kompromiss und dessen Inkraftsetzung. Aber
dies trägt nicht notwendigerweise zu intelligenteren oder effektiveren
Beschlüssen bei. Zumal es ausdrücklich auch in Demokratien die Option
einschließt, ein spezifisches Interesse gegenüber allen anderen zu
bevorzugen, es gar zu einem Dogma und zur alleinigen Maxime des Handelns
zu erheben.
Betrachtet man darüber hinaus ein Kriterium wie das materielle
Wohlergehen der Bevölkerung, so schneiden Autokratien nicht
grundsätzlich schlechter ab als Demokratien. Als Beispiele können das
deutsche Kaiserreich genannt werden, das binnen vier Jahrzehnten aus
einer spürbaren Rückständigkeit heraus zur führenden Industrienation der
Welt aufstieg, und die Volksrepublik China mit ihrer ähnlich rasanten,
aktuellen Aufholjagd. Offensichtlich ist die Gestaltung der
Wirtschaftsweise in diesem Aspekt wichtiger als die Regierungsform. Ein
anderer oft herangezogener Vergleichswert betrifft das Ausmaß
individueller Autonomie, verstanden vor allem als Freiheit von der
Willkür Dritter. Auch hier unterbreiten manche mehr oder weniger stark
ausgeprägte Autokratien, vor allem solche in Klein- und Stadtstaaten wie
Monaco, Singapur, Dubai oder Katar, ihren Bürgern durchaus attraktive
Angebote. Und bei vielen anderen Parametern, wie technologischer
Führerschaft, militärischer Stärke oder außenpolitischem Einfluss, sind
Autokratien ebenfalls nicht zwingend im Nachteil, wie die ehemalige
Sowjetunion aufzeigt.
Der Einwand, man dürfe nicht eher kurzfristiges und vergängliches autokratisches Gedeihen gegen die langanhaltenden Erfolgsgeschichten nahezu aller Demokratien aufrechnen, hat seine Berechtigung. Dieses Argument enthüllt den entscheidenden Vorteil der strukturierten, nicht zufälligen und regelmäßigen Einbeziehung der Bürger in die Regierungsfindung. Natürlich ist die Masse nicht klüger als der Einzelne und selbst ein diktatorischer Alleinherrscher kann sich als überaus fähiger Anführer erweisen. Aber der aufsummierte Wille größerer Gruppen gleicht einerseits allzu radikale randständige Vorstellungen aus und vermag andererseits vergleichsweise einfach einen Richtungswechsel einzuleiten. Die Demokratie reduziert das Ausmaß der allen politischen Entscheidungen zwingend innewohnenden Irrtümer und ermöglicht sogar rasche grundlegende Kursänderungen ohne den Einsatz von Gewalt. Demokratien übertreffen Autokratien nicht deswegen, weil sie in strittigen Einzelfällen schlauer entscheiden, sondern weil sie auf lange Sicht weniger, vor allem geringer ausgeprägte Fehler machen und sich flexibler an neue Rahmenbedingungen anpassen.
Da das Wahlrecht die Demokratie konstituiert, muss sich das Alleinstellungsmerkmal dieser Regierungsform als effektiver Mechanismus zur Fehlerkorrektur in diesem abbilden. Allein der Anspruch jedes volljährigen Bürgers auf geheime Abgabe einer freien Stimme garantiert dies nicht. Es kommt vor allem auf die Regeln an, nach denen diese Stimmen gezählt werden und in die Formierung repräsentativer legislativer und exekutiver Gremien eingehen. Kurz und bündig zusammengefasst hat das Wahlrecht einen friedlichen Regierungswechsel so einfach wie möglich zu machen.
Und dies ist in Deutschland nicht der Fall. Ganz im Gegenteil trägt das hiesige Wahlrecht entscheidend zur Erstarrung der Gesellschaft und zu deren Hilflosigkeit gegenüber einem dogmatischen, moralisch begründetem Absolutheitsanspruch mancher Ideologien bei.
Die Priorisierung des Verhältniswahlrechts zementiert die hegemoniale
Stellung von Parteien als Räume einer dem demokratischen Wettbewerb
weitgehend entzogenen und der Regierungsfindung vorgeschalteten elitären
Willensbildung. Denn allein größere Einheiten mit entsprechender
Kapital- und Personalausstattung verfügen über eine für den Erfolg in
bundesweiten Wahlkämpfen ausreichende Mobilisierungskraft. Um als
einzelner Politiker in einer Partei Ämter und die Aussicht auf ein
Mandat zu erlangen, ist ein hohes Maß an Anpassung erforderlich. Die mit
der Perspektive auf langfristige Planbarkeit einer Laufbahn als
Berufspolitiker belohnt wird, sofern die eigene Position eine andauernde
Absicherung über eine Wahlliste garantiert. Parteivorstände allein
definieren in der Praxis diese Listen und entscheiden damit über die
Zusammensetzung der Parlamente. In die schlussendlich nur Personal
gelangt, das sich durch ein hohes Maß an Opportunismus sowohl gegenüber
der Partei, als auch gegenüber dem vorherrschenden gesellschaftlichen
Zeitgeist auszeichnet, um sowohl im internen wie auch im externen
Wettbewerb zu bestehen. Die Ergänzung durch für die Machtverteilung
unerhebliche Direktwahlkreise schafft keine Abhilfe. Zumal deren
Zuschnitt und personelle Bestückung ebenfalls den Parteien obliegt. Der
Vorschlag der Ampel-Koalition zu einer Wahlrechtsreform, die manchen
direkt gewählten Kandidaten das Mandat sogar verwehren würde, belegt die
Irrelevanz der sogenannten Erststimme.
Kleineren und vor allem neuen Parteien, die sich mitunter als sehr
spezifisch ausgerichtete Interessensvertreter bilden, wird der Zugang zu
Mandaten durch die Fünf-Prozent-Klausel erschwert. Sollte diese Hürde
dennoch genommen werden, führt dies aber nicht zwangsläufig zu
Veränderungen. Ganz im Gegenteil neigt ein vielfältigeres
Parteienspektrum häufig dazu, noch stärkere Einfalt und noch
dogmatischeren Fundamentalismus zu induzieren. Dies liegt an der starken
Verbindung zwischen Legislative und Exekutive. Die Regierung wird durch
das Parlament gewählt und ist daher auf eine Unterstützung in diesem
angewiesen. Die größere Zahl der Volksvertreter fällt damit als
Kontrolleur der Mächtigen für eine Legislatur aus, da die einzelnen
Abgeordneten wissen, wie eng die persönlichen Chancen auf Wiederwahl,
also auf einen sicheren Listenplatz, mit dem Ansehen der Regierung
verbunden sind. Die Notwendigkeit, eine parlamentarische Mehrheit durch
Koalitionsbildung erst einmal zu finden, räumt der jeweils
drittstärksten Partei (früher FDP, mit Ende der neunziger Jahre durch
die Grünen abgelöst) einen weit größeren Einfluss ein als gemäß ihres
tatsächlichen Wahlergebnisses statthaft. Sie kann Partikularinteressen
langfristig als Leitplanken für alle anderen Auffassungen verankern und
dies sogar über mehrere Regierungswechsel hinweg.
So gestattet das Verhältniswahlrecht den Parteien, eine Form
demokratisch legitimierter Autokratie zu errichten, die als beständig
und verlässlich verkauft, was in Wahrheit nur Lähmung und Sturheit
darstellt. Es ist hierzulande fast nicht mehr möglich, etwas abzuwählen.
Es ist fast nicht mehr möglich, einen einmal eingeschlagenen Irrweg
wieder zu verlassen. Derzeit geben vor allem grüne Dogmen den Bereich
akzeptierter Debattenbeiträge vor. In vielen grundlegenden Fragen wie
Klima, Energie oder Migration wird aufgrund der geschilderten
Mechanismen schon lange nicht mehr über das „ob“ diskutiert, sondern nur
noch über das „wie“.
Die ältesten und beständigsten Demokratien der Welt, Großbritannien und
die USA, haben aus offensichtlich guten Gründen von Anfang an auf ein
sehr strikt umgesetztes Mehrheitswahlrecht gesetzt. Ausgehend von dem
Ansatz, die Aufblähung des Parlaments durch Überhang- und
Ausgleichsmandate einzuschränken, kann dieses auch für eine sehr
grundlegende Wahlrechtsreform in Deutschland als Vorbild dienen.
Ein Ansatz wäre, die Bundesrepublik in sechshundert Wahlkreise aufzuteilen. Diese sind dann nur noch halb so groß wie gegenwärtig und würden es allein deswegen unabhängigen Bewerbern oder solchen kleinerer Parteien einfacher machen. Wer in seinem Wahlkreis die Mehrheit erringt, ist im Parlament. Und sonst niemand. Der Bundestag wäre ohne weitere mathematische Kunststücke für immer in seiner Größe festgelegt. Der Wahlvorgang selbst hätte einen sehr viel stärkeren lokalen Bezug und die Persönlichkeit der Kandidaten wäre weit ausschlaggebender als ihre Parteizugehörigkeit. Auch der Kanzler müsste durch die Bevölkerung direkt gewählt und legitimiert werden. Er wäre dann frei darin, seine Regierungsmannschaft nach Gutdünken zusammenzustellen, ohne Rücksicht auf Koalitionspartner und innerparteilichen Proporz. Wenn man die beiden Wahlvorgänge entzerrt, also im zweijährlichen Wechsel den Kanzler und das Parlament für jeweils vier Jahre bestimmt, wären Exekutive und Legislative endgültig entkoppelt und könnten sogar unterschiedliche Mehrheitsverhältnisse aufweisen. Was natürlich das Regieren selbst nicht einfacher macht, aber das soll es ja auch gar nicht sein.
Einfacher und effektiver kann ein Werkzeug für einen häufigen und friedlichen Machtwechsel, für eine häufige und grundsätzliche Änderung der Denkrichtung kaum gestaltet werden. Jedenfalls solange es noch gebraucht wird. Schließlich greift eine solche Wahlrechtsreform implizit den Trend der immer ausgeprägteren individuellen Autarkie in fortgeschrittenen Gesellschaften auf. Sobald jeder Bürger selbst über die vor allem technischen Mittel zur Befriedigung seiner grundlegenden Bedarfe verfügt, diese vollumfänglich kontrolliert und dadurch der Zwang zur Kooperation mit anderen zur Absicherung des eigenen Überlebens entfällt (was den Freiraum für freiwillige Kooperationen enorm erhöht), sind Staaten im herkömmlichen Sinne überflüssig. In solchen fragmentierten Gesellschaften, in denen keine zentrale Regierung mehr existiert oder zumindest nur noch über geringe Autorität verfügt (Außenpolitik, innere Sicherheit, einige ordnungspolitische Rahmensetzungen), regiert jeder sich selbst und die Übertragung von Macht und Verfügungsgewalt auf Obrigkeiten im gegenwärtigen Umfang ist schlicht nicht mehr notwendig. Dies ist weit weniger dystopisch und weit weniger fern, als manche glauben. Es beschreibt im Grunde ein Parlament, das nicht nur aus sechshundert, sondern aus achtzig Millionen Repräsentanten besteht. Ein Gebäude müsste dafür nicht errichtet werden, dieses Plenum trifft sich dann im Metaversum.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen