09 März 2023

Plündern Zuwanderer das deutsche Sozialsystem – oder entlasten sie es? (NZZ)

Plündern Zuwanderer das deutsche Sozialsystem – oder entlasten sie es? (NZZ)
Die deutsche Bevölkerung würde ohne Zuwanderung seit Jahren schrumpfen, was die Renten- und Krankenversicherung stark belasten würde. Zugleich sind aber überdurchschnittlich viele erwerbsfähige Ausländer auf Hilfe angewiesen. Wie sieht die Gesamtbilanz aus?
René Höltschi, Berlin, Michael Rasch, Frankfurt
Deutschland tut sich schwer mit Migrationsthemen. Für die einen kommt das Land nicht ohne Zuwanderung aus, will es den Arbeitskräftemangel und die demografische Alterung der Gesellschaft halbwegs meistern. Aus ihrer Sicht trägt Zuwanderung deshalb auch zur Stabilisierung der Sozialversicherungen bei. Andere hingegen fürchten im Gegenteil, dass das grosszügige deutsche Sozialsystem als Magnet für Zuwanderer wirke und dadurch kollabieren könne.
Ein Einwanderungsland

Fakt ist, dass die deutsche Bevölkerung laut dem Statistischen Bundesamt (Destatis) ohne Nettozuwanderung schon seit 1972 geschrumpft wäre. Seit damals sterben jedes Jahr mehr Menschen, als geboren werden. In den meisten Jahren wurde dieser Rückgang aber dadurch überkompensiert, dass mehr Menschen zu- als abgewandert sind. Besonders ausgeprägt war dieser Effekt in den Jahren 2015 und 2022, in denen besonders viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen. 

Für 2022 schätzt Destatis die Nettozuwanderung auf 1,42 bis 1,45 Millionen Menschen, womit die Bevölkerung auf 84,3 Millionen gestiegen wäre. Davon waren 13,4 Millionen oder rund 16 Prozent Ausländer. So hoch wie 2022 war die Zuwanderung noch nie seit Beginn der Zeitreihe im Jahr 1950, was vor allem auf die netto fast eine Million Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine zurückzuführen ist.

Was für die Auswirkungen auf die Sozialkassen und den Staatshaushalt wichtig ist: Etwa die Hälfte der Zuzüge der letzten zehn Jahre entfiel auf EU-Binnenwanderung, 13 Prozent waren Flüchtlinge, der Rest kam aus sonstigen Drittstaaten, wie Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), der Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit, erläutert.

Grösster Brocken: Renten

Bei der Analyse der Zuwanderungsfolgen für die Sozialsysteme spiele die Musik vor allem bei der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung, sagt Brücker. Andere Migrationsforscher sehen das genauso. Die gesetzliche Rentenversicherung ist ein Umlagesystem, die Renten der derzeitigen Rentner werden also durch die laufenden Beiträge der Erwerbstätigen und ihrer Arbeitgeber finanziert. Doch dieser Generationenvertrag ist durch den demografischen Wandel an seine Grenzen gekommen.

Für die finanzielle Tragfähigkeit des Systems ist das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentnern entscheidend. Derzeit kommen auf einen Rentner rund zwei Beitragszahler. Im Jahr 1962 war das Verhältnis in Westdeutschland hingegen noch 1 zu 6. Nach der Wiedervereinigung mussten dann bereits weniger als drei Beitragszahler einen Rentner finanzieren.

Der Trend hält bis heute an und würde sich ohne Zuwanderung noch verschärfen, da nun die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer in den Ruhestand gehen. Bereits seit Jahrzehnten unterstützt der Staat das Rentensystem daher mit Steuermitteln. Laut der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV Bund) betragen Erstattungen und Zuschüsse des Bundes derzeit rund 100 Milliarden Euro pro Jahr, das sei etwa ein Drittel des benötigten Finanzvolumens.

Die übrigen Einnahmen basieren weitestgehend auf den Zwangsbeiträgen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und ihrer Arbeitgeber. Beiträge an die Renten- und die Krankenversicherung machen den größten Teil der Sozialversicherungsbeiträge aus

Im Juni 2022 ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Ausländer laut DRV Bund um rund 450 000 höher gewesen als ein Jahr zuvor. Im 5-Jahres-Vergleich ab Juni 2017 sei ihre Zahl sogar um 1,5 Millionen gestiegen. Damit haben Ausländer in dieser Periode rund zwei Drittel zum gesamten Anstieg der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um insgesamt knapp 2,3 Millionen beigetragen.

Laut Brücker vom IAB ist der grosse Hebel zur Stabilisierung des Rentensystems daher neben der Anpassung der Lebensarbeitszeit die Arbeitsmigration. Im Hinblick auf die Fluchtmigration lasse sich das nicht so leicht sagen. Positiv sei, dass viele Flüchtlinge sehr jung nach Deutschland kämen, meint Brücker. Negativ wirke dagegen, dass nach fünf Jahren lediglich rund 50 Prozent der Geflüchteten im Arbeitsmarkt integriert seien. Bei Einheimischen liege die Beschäftigungsquote bei immerhin 70 Prozent.

Dieser Wert werde von den Schutzsuchenden auch nach 15 Jahren noch nicht erreicht. Sie seien auch dann erst nur zu 60 bis 65 Prozent in den Arbeitsmarkt integriert. Insofern erwartet Brücker, dass es eine Gruppe von Flüchtlingen geben wird, die sich im Alter nicht selbst finanzieren können, und dass die Sozialsysteme durch Fluchtmigration unter dem Strich wohl eher belastet würden.

Krankenkassen profitieren

Ein grosser Profiteur der Zuwanderung sind dagegen wohl die Krankenkassen. In der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) entstehen Jahr für Jahr enorme Kosten. 2021 betrugen die Leistungen der GKV laut ihrem Spitzenverband rekordhohe 263,4 Milliarden Euro. Für die Krankenkassen entstehen die grössten Kosten im Alter, vor allem in der letzten Lebensphase. Noch mehr gilt dies natürlicherweise für die Pflegekosten, denn in der Regel fallen diese im Ruhestandsalter in den letzten Monaten und Jahren vor dem Tod an.

Der Krankenstand von Migranten sei aufgrund des jungen Alters eher gering, sie würden zudem weniger zum Arzt gehen und seien durch die Rückwanderung eines Teils von ihnen im Alter weniger in Deutschland zugegen, sagt Brücker vom IAB. Davon würden die Krankenkassen kräftig profitieren. Das gelte sehr stark für die Arbeitsmigration, doch auch bei der Fluchtmigration dürften die Kassen seiner Ansicht nach mittelfristig profitieren, wenn die Menschen einigermassen schnell in den Arbeitsmarkt integriert würden.

Die Rückwanderung wird in der Öffentlichkeit oft unterschätzt und auch in manchen Studien nicht einbezogen. Die Abwanderung oder Rückkehr von Arbeitsmigranten finde besonders in Rezessionen und zum Beginn des Rentenalters statt, was die Krankenkassen- und Pflegekosten dieser Gruppen stark reduziere, sagt Katrin Sommerfeld, Arbeitsmarktökonomin am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW).

Zudem spielt die unterschiedliche Lebenserwartung eine Rolle. Wer weniger lang lebt, verursacht tendenziell weniger Kosten für die Rentenkassen. Die Lebenserwartung hängt laut Sommerfeld generell stark vom Einkommen und sozialen Status ab. Migranten könnten daher statistisch eine geringere Lebenserwartung aufweisen als Einheimische, allerdings gebe es auch gegenläufige Effekte.

Harte Zahlen zu den Zuwanderungsfolgen für die Krankenkassen gibt es aber kaum, da die entscheidenden Daten anonymisiert sind. Flüchtlinge haben im Krankheitsfall gewisse gesetzliche Ansprüche. Die Ausgaben werden durch die Sozialämter erstattet. Wenn diese Personengruppe später Bürgergeld erhält, bekommen die Kassen – wie bei allen Bürgergeldempfängern – einen pauschalen Betrag vom Bund. Dieser ist laut dem Krankenkassenverband derzeit jedoch nicht kostendeckend.

Die Krankenkasse Die Techniker (TK) hatte jedoch 2020 in Kooperation mit dem Berliner «Tagesspiegel» verschiedene Daten für den Zeitraum 2013 bis 2019 ausgewertet. Laut dieser Analyse gab es in diesen sieben Jahren einen Wanderungssaldo aus dem Ausland in Höhe von 4,7 Millionen Menschen in das System der GKV. Für das Jahr 2019 ergab sich daraus eine Entlastung der GKV über etwa 8 Milliarden Euro (umgerechnet 0,6 Beitragssatzpunkte). Seit 2019 hätten sich die Rahmenbedingungen aber deutlich geändert, heisst es dazu von der TK.

Arbeitslose kosten wenig

Gemessen an den Ausgaben für Renten und Gesundheit nehmen sich die restlichen Sozialleistungen relativ bescheiden aus. Ins Gewicht fallen vor allem noch die Arbeitslosengelder sowie die «Grundsicherung für Arbeitssuchende» (Bürgergeld, bis Ende 2022 Hartz IV), die das Existenzminimum von Langzeitarbeitslosen und deren Familien sowie anderen erwerbsfähigen und hilfsbedürftigen Personen sichern soll.

Dabei geht es um Ausgaben in jeweils zweistelliger Milliardenhöhe pro Jahr. Das Arbeitslosengeld wird zumindest teilweise durch Versicherungsbeiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber finanziert. So hat die zuständige Bundesagentur für Arbeit 2021 Einnahmen von rund 36 Milliarden Euro verzeichnet. Dem standen allerdings Ausgaben von 58 Milliarden Euro gegenüber. Davon entfielen gut 19 Milliarden Euro auf Arbeitslosengeld und 20 Milliarden Euro auf Kurzarbeitergeld, das wegen der Pandemie und der Lockdowns wie schon 2020 viel mehr Geld gekostet hat als in «normalen» Jahren (der Rest entfiel auf Posten wie Arbeitsförderung, Personal und Verwaltung). Das Defizit wurde durch Rücklagen, vor allem aber durch Liquiditätshilfen des Bundes, gedeckt.

Für die Grundsicherung, die aus Steuergeldern finanziert wird, sind im laufenden Bundeshaushalt einschliesslich von Beiträgen an Heizkosten und Unterkunft, Verwaltungskosten und weiteren Posten insgesamt 24 Milliarden Euro vorgesehen.

Ausländer übervertreten

Eine Aufteilung der Beitragseinnahmen der Bundesagentur für Arbeit und der Ausgaben für Arbeitslosengelder und für die Grundsicherung auf Deutsche und Ausländer konnte die Bundesagentur für Arbeit auf Anfrage nicht zur Verfügung stellen, da die Daten nicht entsprechend differenziert vorliegen würden. Einen Anhaltspunkt liefert der monatliche Zuwanderungsmonitor des IAB, der Arbeitsmarktindikatoren für unterschiedliche Gruppen von Zuwanderern dokumentiert.

Laut seiner jüngsten Ausgabe hatten Ausländer eine geringere Beschäftigungsquote als die Gesamtbevölkerung (vgl. Grafik, Daten für 2022). Zugleich war ihre Arbeitslosenquote mit 14,3 Prozent mehr als doppelt so hoch wie jene der Gesamtbevölkerung. Ähnliches gilt für den Anteil jener, die Grundsicherung bezogen («Hilfsquote»). Die Arbeitslosen- und die Hilfsquoten dürfen indessen nicht addiert werden, da sich jeder erwerbsfähige Empfänger von Grundsicherung auch als arbeitslos melden muss.

Dabei zeigen sich erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen Gruppen von Ausländern. Jene knapp 40 Prozent, die aus anderen EU-Staaten stammen, weisen bei allen drei Kennziffern ähnlich gute Werte aus wie die Gesamtbevölkerung. Deutlich schlechter sind die Werte von Menschen aus den Asylherkunftsländern Afghanistan, Eritrea, dem Irak, Iran, Nigeria, Pakistan, Somalia und Syrien, vor allem aber aus der Ukraine. Bei den Ukrainern, die im Gegensatz zu anderen Flüchtlingen von Anfang an Anrecht auf Sozialleistungen haben, ist die Abhängigkeit von Grundsicherung naturgemäss besonders hoch, da sie meist erst seit kurzem im Land weilen und unter ihnen viele Mütter mit Kindern sind.

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass laut dem jüngsten Monatsbericht der Bundesagentur für Arbeit im Februar 36 Prozent der gemeldeten 2,62 Millionen Arbeitslosen und im letzten Oktober 45 Prozent der 3,83 erwerbsfähigen Grundsicherungsbezüger Ausländer waren. Diese waren damit klar überproportional vertreten.

Und die Gesamtbilanz?

Forscher wie Brücker oder Holger Bonin, Forschungsdirektor des Bonner Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA), betonen indessen, dass man für eine seriöse Einschätzung der fiskalischen Gesamtbilanz der Zuwanderung den Blick ausweiten müsse. Berücksichtige man die gesamten Leistungen und Bezüge über die Lebenszeit von Zuwanderern, werde das Bild deutlich positiver, als es ihr relativ hoher Anteil an Arbeitslosen und Grundsicherungsempfängern vermuten lasse.

Der Grund ist einfach: Menschen, ob Ausländer oder Deutsche, sind typischerweise vor allem im Jugendalter und im Ruhestand Nettoempfänger von staatlichen Leistungen, während sie im Erwerbsalter Nettozahler sind. Da viele Zuwanderer als junge Erwachsene nach Deutschland kommen, entfallen oft Kosten für die Ausbildung. Und da wie erwähnt ein Teil von ihnen das Land später wieder verlässt, fallen die im Durchschnitt mit zunehmendem Alter steigenden Gesundheitskosten nicht in Deutschland an.

Solche Effekte sind schwierig zu quantifizieren. Das Ergebnis hängt wesentlich von den Annahmen zum Beispiel über Rückwanderung und Lebenserwartung ab, auf denen entsprechende Modellrechnungen beruhen. Eine der bekanntesten deutschen Studien zu dieser Frage hat Bonin, damals noch als Forscher des ZEW, 2014 für die Bertelsmann-Stiftung erstellt.

Bonin kam in einem ersten Schritt durch die Bilanzierung der laufenden Zahlungsströme zwischen Bürgern und öffentlichen Kassen zum Schluss, dass die in Deutschland lebenden Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft im Jahre 2012 insgesamt deutlich mehr Geld in Form von Steuern und Sozialbeiträgen an den Staat zahlten, als sie in Form von individuellem Transfer zurückerhielten. Die Bilanz blieb auch positiv, als Bonin die Steuern, Beiträge und Sozialtransfers addierte, die unter der Annahme unveränderter Rahmenbedingungen bis ans Lebensende der damals in Deutschland lebenden Ausländer anfallen würden.

Ins Negative kippte sie hingegen, als der Forscher den Ausländern gemäss ihrem Bevölkerungsanteil auch einen Anteil an den allgemeinen Staatsausgaben zum Beispiel für Verteidigung oder Strassenbau in Rechnung stellte. Solche Studien sind aufwendig und wegen der vielen nötigen Annahmen angreifbar. Dies mag erklären, warum in den letzten Jahren weder Bonin noch andere Forscher neue oder aktualisierte Berechnungen vorgelegt haben, obwohl sich die Umstände seit damals erheblich geändert haben.

Integration lohnt sich

Gleichwohl sind einige politische Lehren möglich. Erstens ist festzuhalten, dass Deutschland die Zuwanderung nur begrenzt steuern kann. So kann die Politik Zuzüge aus EU-Staaten wegen der im Binnenmarkt geltenden Arbeitnehmerfreizügigkeit kaum beeinflussen. Nach Einschätzung von Brücker hat Deutschland von der EU-Zuwanderung enorm profitiert, weil sie in den letzten zehn Jahren erheblich zum Wachstum der Wirtschaft und der Steuereinnahmen beigetragen habe.

Doch diese Party sei gefeiert, sagt der IAB-Experte. Zum einen seien die wanderungsbereiten jungen Menschen inzwischen alle bereits weg, zum andern hätten sich in den osteuropäischen EU-Staaten die Gehälter und die Arbeitsmarktlage stark verbessert. Auch seien diese Länder stark vom demografischen Wandel betroffen.

Auch die Fluchtmigration kann Deutschland nur begrenzt steuern, will es völkerrechtlichen Verpflichtungen zur Aufnahme von Schutzsuchenden und humanitäre Versprechen an die Ukraine einhalten. Studien wie zum Beispiel ein IAB-Kurzbericht zur Flüchtlingswelle von 2015 zeigen indessen, dass sich Investitionen in die Integration von Flüchtlingen, namentlich Sprachkurse und Berufsbildung, sowohl gesamtwirtschaftlich als auch für den Staatshaushalt lohnen.

Eine um ein Jahr schnellere Integration von Zuwanderern in den Arbeitsmarkt könne Milliarden Euro sparen, sagt Bonin. Sie senkt nämlich die Kosten für die Unterstützung und erhöht zugleich die Einnahmen aus Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen.

Am besten zu steuern ist die Arbeitsmigration aus Nicht-EU-Staaten. Hier will die Ampelregierung denn auch mit der geplanten Novelle des Einwanderungsrechts ansetzen. Je besser es gelingt, jüngere, qualifizierte Fachkräfte anzulocken, desto mehr wird nicht nur der Fachkräftemangel entschärft, sondern umso positiver wird auch die Gesamtbilanz der Zuwanderung für die Sozialsysteme und die Staatsfinanzen.

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