12 März 2023

Rolle der Justiz in der Corona-Pandemie - Wo war der Rechtsstaat? (Cicero+)

Rolle der Justiz in der Corona-Pandemie
-
Wo war der Rechtsstaat? (Cicero+)
Die Justiz war während der Corona-Pandemie eine große Enttäuschung. Das muss dringend aufgearbeitet werden. Können sich die Bürger auf den Rechtsstaat verlassen, wenn es eine echte Krise gibt? Das ist die zentrale Frage, die im Raum steht.
VON VOLKER BOEHME-NESSLER am 5. März 2023
(Volker Boehme-Neßler ist Professor für Öffentliches Recht, Medien- und Telekommunikationsrecht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg).
Der Rechtsstaat, den die Verfassung will, hat eine grundsätzliche Aufgabe. Er soll die Bürger vor staatlicher Willkür schützen. Alle staatlichen Institutionen sind deshalb an die Verfassung und das übrige Recht gebunden. Der Staat darf nicht machen, was er will, sondern nur das, was ihm das Recht erlaubt. Das klingt selbstverständlich. Ein Blick in die lange (unendliche?) Geschichte der – absoluten und willkürlichen – Staatsmacht zeigt aber, welche wichtige zivilisatorische Errungenschaft der Rechtsstaat ist.

Dazu gibt es unabhängige Gerichte, die im Einzelfall nachprüfen, ob der Beamte, die Behörde, die Regierung ein Gesetz verletzt haben. Sogar das Parlament, das die Gesetze macht, ist an das Recht gebunden – nämlich an die Verfassung. Es ist – nicht nur, aber auch – die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, zu kontrollieren, ob Parlament und Regierung die Verfassung verletzt haben. Deshalb gilt es als Hüter der Verfassung – und sieht sich auch selbst so.

Wenn der Rechtsstaat funktioniert, schützt er also die Freiheit der Bürger. Denn er stellt sicher, dass die Freiheitsrechte der Verfassung auch beachtet und durchgesetzt werden. Daneben gibt der Rechtsstaat auch Sicherheit. Die Bürger wissen, was sie erwartet und worauf sie sich verlassen können. Sie müssen nicht befürchten, dass der Staat willkürlich agiert, die Gesetze und die Verfassung keine Rolle mehr spielen und sie der Staatsmacht hilflos ausgeliefert sind. Im Notfall helfen ihnen die unabhängigen Gerichte, Gesetz und Recht durchzusetzen.

In der Corona-Zeit hat dieses System zum Freiheitsschutz nicht funktioniert. Die Verwaltungsgerichte und das Verfassungsgericht haben praktisch alle staatlichen Corona-Maßnahmen akzeptiert und mit umgesetzt. Es gab fast kein Gericht, das eine behördliche Maßnahme aufgehoben hätte. (Wenige) Ausnahmen bestätigen die Regel. Die zuständigen Gerichte haben (fast) immer für den Staat entschieden, nie für die Freiheit. Nicht nur in juristischen Fachzeitschriften gibt es Beispiele en masse dafür. Das ist ein trauriger und erschreckender Befund.

Extreme Maßnahmen des Staates

Die Corona-Maßnahmen der Regierung und der Behörden waren keine Kleinigkeiten. Das wird viel zu schnell vergessen. Wir erinnern uns: Wir hatten mehrere harte Lockdowns. Das gesamte öffentliche Leben und große Teile der Wirtschaft wurden heruntergefahren und eingefroren. Es gab die 2G-Regelung, die die Ungeimpften lange von großen Teilen des öffentlichen Lebens ausgeschlossen hat. Das war nicht nur eine Einschränkung individueller Freiheiten, sondern auch ein grundsätzliches Problem für die Demokratie. Denn Demokratie lebt von einem lebendigen öffentlichen Raum, der allen Bürgern offensteht. Zwei Klassen von Bürgern kennt die Demokratie grundsätzlich nicht. 2G hat Gräben aufgerissen in der Gesellschaft. Seitdem stehen sich geimpfte und ungeimpfte Bürger immer noch weitgehend unversöhnt gegenüber.

Wir hatten Ausgangssperren. Ausgangssperren sind ein typisches Instrument von Diktaturen oder autoritären Systemen. Zu einer Demokratie passen sie ganz und gar nicht. Wir hatten wochenlange Schulschließungen. Wir fangen erst jetzt an zu begreifen, mit welchen langfristigen Schäden die Kinder seitdem zu kämpfen haben. Die Corona-Jahre waren auch geprägt von zahllosen Demonstrationsverboten. Die Verwaltungsgerichte haben das immer wieder gebilligt – und tatenlos zugesehen, wie den Bürgerinnen und Bürgern ein elementares Freiheitsrecht entzogen wird.

Mehr zum Thema:

Auch wenn die allgemeine Impfpflicht gegen Covid-19 vom Bundestag abgelehnt wurde: In der Bundeswehr gibt es diese Impfpflicht, in medizinischen Einrichtungen gab es sie bis zum Ende des Jahres 2022. Die obersten Gerichte in Deutschland haben das als rechtmäßig und verfassungsgemäß akzeptiert.

Es darf im funktionierenden Rechtsstaat nicht sein, dass solche harten Maßnahmen ohne Kritik und echte Kontrolle von Gerichten einfach nur nachvollzogen werden. Aber so war es. Das rechtsstaatliche System von checks and balances war praktisch außer Kraft gesetzt.

Rote Linien der Freiheit?

Diese Linie hat das Bundesverfassungsgericht vorgegeben. Das Gericht gilt eigentlich als Hüter der Verfassung. Es sieht sich auch selbst so. Es soll die Verfassung schützen, sagt die Verfassung. Karlsruhe muss eingreifen, wenn andere staatliche Institutionen das Grundgesetz verletzen. Hat es diese Rolle in der Corona-Pandemie wahrgenommen? Sicher nicht. In der Corona-Pandemie war es kein Hüter der Verfassung.

Es gab unzählige Verfassungsbeschwerden von Bürgerinnen und Bürgern. Das Verfassungsgericht hat fast alle einfach nicht zur Entscheidung angenommen. In ganz wenigen Fällen hat es inhaltlich entschieden – und sich auf die Seite der staatlichen Behörden gestellt. Das gilt auch und gerade für die wichtigen Beschlüsse zur Bundesnotbremse und zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht.

Die Richterinnen und Richter haben Erkenntnisse kritischer Wissenschaftler – die es gab und die dem Gericht auch vorlagen – ignoriert und alle staatlichen Maßnahmen abgenickt. Da war nichts zu sehen vom Hüter der Verfassung. Karlsruhe hat keine roten Linien der Freiheit gezogen. Das wäre in dieser Krisensituation aber die wichtigste Aufgabe des Verfassungsgerichts gewesen.

Fehlerhafte Abwägungen und einseitige Faktengrundlage

Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts waren nicht etwa fachlich zwingend. Aus juristisch-handwerklicher Sicht sind sie wenig überzeugend. Abgesehen von Fehlern im Detail leiden sie an einem grundsätzlichen Mangel. Die Abwägung zwischen der Freiheit, die das Grundgesetz garantiert, und möglichen Einschränkungen dieser Freiheit, die zur Krisenbewältigung nötig sind, ist oft fehlerhaft. Im Zweifel hat das Gericht für den übergriffigen Staat entschieden – und gegen die Freiheit. Die Verfassung sieht das genau umgekehrt. Im Zweifel entscheidet sie für die Freiheit.

Wie ein Gericht entscheidet, hängt natürlich auch davon ab, welche Fakten es sieht und in seinem Urteil verarbeitet. Grundsätzlich muss ein gutes Gericht alle Informationen sammeln und einordnen, die für seinen Fall relevant sein können. Dann hat es die Faktengrundlage für eine gute Entscheidung. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seinen Beschlüssen viel zu einseitig auf Experten gestützt, die die Regierungslinie vertreten haben. Es hat Erkenntnisse, die dem herrschenden Narrativ der Regierung widersprochen hätten, viel zu oft ignoriert.

Deshalb ist es kein Wunder, dass es immer die Regierung gestützt hat. In aller Klarheit: Jedenfalls bei den späteren Entscheidungen lagen qualitativ hochwertige wissenschaftliche Erkenntnisse vor, die der Regierungslinie widersprochen haben. „Das haben wir damals nicht gewusst“ – das wäre eine billige Ausrede.

Vertuschen und Schönreden hilft nicht

Die Justiz hat die harten Corona-Maßnahmen des Staates ohne Wenn und Aber gestützt. Das ist aber nicht die Aufgabe der Gerichte im Rechtsstaat. Sie müssen den Staat und seine Behörden kontrollieren, korrigieren und ihnen – wenn es nötig ist – auch in den Arm fallen. Zum Schutz der Bürger vor dem Staat. Das ist hier nicht passiert. Die Justiz hat dadurch viel Vertrauen in der Bevölkerung verspielt.

Das ist fatal. Denn langfristig funktioniert ein Rechtssystem nur, wenn die Bürger ein Minimum an Vertrauen haben. Gerichte, denen die Bevölkerung nicht vertraut, werden auf die Dauer irrelevant. Politik und Gesellschaft müssen das aufarbeiten – intensiv und ohne Tabus. Wir müssen aus dem Versagen der Justiz in der Corona-Pandemie lernen und Konsequenzen ziehen. Vertuschen und Schönreden hilft nicht. Denn in der nächsten Krise muss der Rechtsstaat besser funktionieren.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen