10 März 2023

Sprache der Qualitätsmedien - Der Offenbarungseid (Cicero+)

Sprache der Qualitätsmedien
- Der Offenbarungseid (Cicero+)
Unsere Qualitätsmedien setzen ihre Glaubwürdigkeit mit ihrem nachlässigen Umgang mit Quellen und Behauptungen täglich mehr aufs Spiel. „Wohl“, „offenbar“ und „mutmaßlich“ sind dabei zu Schlüsselwörtern einer neuen journalistischen Unkultur geworden, in der Voreingenommenheit und Schnelligkeit den Ton angeben.
VON JENS PETER PAUL am 5. März 2023
Jedes Mal, wenn sich unsere Qualitätsmedien ein mindestens hundertprozentiges Vertrauen ihrer Kundschaft in die eigene Arbeit bescheinigen, um die nächste Preis- oder Gebührenerhöhung zu rechtfertigen und die eigene Unersetzlichkeit zu betonen, also mittlerweile einmal pro Woche, gibt es neuen Anlass, eben diese Behauptung anzuzweifeln. Das liegt nicht nur an einem wachsenden sprachlichen Unvermögen, insbesondere im Umgang mit dem Konjunktiv, einst der beste Freund des Journalisten, weil nur er es vermag, Behauptungen, Ereignisse, Zitate und Tatsachen elegant aufzuteilen nach Herkunft, Plausibilität und Wahrheitsgehalt. Es liegt auch und vermehrt an einem liederlichen Umgang mit den Quellen, von denen es mehr gibt als jemals zuvor in der Geschichte der Menschheit.  

Die Digitalisierung der Medienbranche hat Verfahren und Usancen hervorgebracht und gefördert, die sich mit anständigem journalistischen Handwerk nicht gut vereinbaren lassen. So lauten die häufigsten Quellen angeblicher oder tatsächlicher „Nachrichten“ inzwischen „wohl“ und „offenbar“. Und das ist nicht in Ordnung. Ja, es ist regelrecht verkehrt.

Vielleicht stimmt es sogar

Nähme man – nur ein Beispiel – der Tagesschau die Quellenangaben „wohl“ und „offenbar“ weg, wäre es an manchen Tagen um die Hälfte der Sendung geschehen. „Wohl“ bedeutet: „Für uns sieht es ganz danach aus und wir sind schlauer als Du“. „Offenbar" steht für: „Jemand hat dieses und jenes behauptet, aber wir waren zu faul oder wir hatten keine Zeit oder beides, es selbst nachzuprüfen.“ Kein Grund zur Aufregung, könnte gut sein, dass es stimmt, es kommt schließlich von dpa, aber warten auf einen Beweis dürfen wir natürlich nicht, denn dann „hätten wir das ja nicht“. 

Und etwas „nicht zu haben“, also eine mehr oder weniger Aufsehen erregende Nachricht nicht gebracht zu haben, vielleicht wegen zweifelhafter Herkunft, ist der GAU in jeder anschließenden Redaktionskonferenz, schmerzhaften Rechtfertigungsbedarf des für das Nichthaben verantwortlichen zur Folge habend. Focus Online baute ein ganzes Geschäftsmodell auf dieses Prinzip, den sekundenschnellen Meldungsklau, um den Platz zwischen den Anzeigen und PR-Artikeln zu füllen, aber von denen erwartet man auch nichts anderes mehr. ARD und ZDF sollten immer noch einen anderen Anspruch besitzen. Haben sie aber nicht.

Nordkorea und offenbar - ein Witz

Seltsam dabei: Je existentiell wichtiger das Thema, etwa Atomkrieg, desto großzügiger auch bei ARD aktuell die Nonchalance. So kommt es, dass Nordkorea gestern offenbar begonnen hat, seine Atomanlagen abzubauen, heute Nordkorea offenbar nur trickst und morgen Nordkorea wohl aber nun ganz bestimmt seine Atomanlagen abbaut. In keinem Land der Welt sind Vorgänge weniger „offenbar“ als in Nordkorea, nicht einmal in Russland oder China – macht aber nichts. 

Das „offenbar“, die kleine Stiefschwester des „offensichtlich“, kann sich so wenig wehren wie der Zuschauer (m/w/d), und das wird gnadenlos ausgenutzt. „offenbar“ ist keine Quelle und „wohl“ auch nicht. News, in denen „offenbar“ oder „wohl“ auftauchen, sind nicht fit to print und auch nicht fit to broadcast, sondern – von wenigen begründungspflichtigen Ausnahmen abgesehen – entweder ein Fall für weitere Recherche oder für die Löschtaste.

Info dann aus dritter Hand

„Offenbar“ hat sich als Metapher für „Hörensagen“ und „Irgendjemand behauptet, dass...“ verbreitet wie eine schlimme Krankheit. Man achte einmal darauf: Wo „offenbar“ steht, Medium egal, handelt es sich fast immer um die Darstellung eines anderen Mediums, das nur zu oft sich wiederum ebenfalls bei einem dritten Medium bedient hat. Info dann aus dritter Hand – nix mehr offenbar, vollends undurchschaubar, vor allem das gerne reichlich egoistische Interesse, das der ursprüngliche Urheber mit seiner Darstellung verfolgt. 

Eine Anti-offenbar-Diät täte der Glaubwürdigkeit der Medien ziemlich gut, stellte aber die aktuellen Arbeitsabläufe komplett auf den Kopf, zumal seriöse Nachrichten eine höhere Qualifikation der damit befassten Journalisten erfordern bei viel geringerem Output, also teurer wären und auch zeitraubender. 

Mehrmals pro Tag käme es dann schon in mittelgroßen Häusern vor, dass die Redaktion eine Meldung, eine Story, eine Darstellung „totrecherchiert“, wie es leicht verächtlich heißt, also tatsächlich der Löschtaste überantwortet oder erst einmal zwecks eingehender Untersuchung zur Seite legt – der wichtigste Job seriöser Kolleginnen und Kollegen, geradezu ein Liebesdienst am Leser, Hörer, Zuschauer, aber – siehe oben – bei den Chefs gar nicht gerne gesehen. Wer eine Sache totrecherchiert, wird nicht etwa gelobt, sondern nach dem zweiten Mal mitleidig angeschaut und nach dem dritten Mal abgemahnt. Hätte die Geschichte schön in das eigene Framing gepasst („Merz versucht es offenbar am rechten Rand“) – um so schlimmer. Ein Verlust für jeden aktivistisch begabten Vorgesetzten.  „Das Ding ein wenig zuspitzen“ zaubert dagegen ein Lächeln auf das Gesicht der Chefs. Mit fremden Federn geschmückt (minimaler eigener Aufwand) und damit sogar in die Agenturen gekommen (bundesweiter Ruhm) – was will man mehr?

Es waren wohl die bösen Polen

Eben deshalb lesen, sehen, hören wir von der Tagesschau linear, nonlinear, online und als Podcast „Berichte“ mit Überschriften wie „Fischsterben in der Oder geht offenbar auf polnische Bergbaubetriebe zurück“. Nun könnte man ein Dreivierteljahr nach dem ersten Fischsterben selbst von einer überforderten Bundesumweltministerin eine exakte Ursachenangabe verlangen. Zugleich sollten deutsche Qualitätsmedien sich ihrer Sache schon verdammt sicher sein, bevor sie der polnischen Regierung einen derartigen Vorwurf um die Ohren hauen, ist doch das bilaterale Verhältnis dank der Regierungen Merkel und Scholz hinreichend beschädigt. Weit gefehlt. 

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„Offenbar“ ist hier auch im März 2023 gar nichts, aber andererseits sind die Polen ja „rechts“, pflegen – ganz anders als wir mit der Auswahl unserer Verfassungsrichter – einen befremdlichen Umgang mit der Judikative und wollen zudem von einem vorschnellen Kohleausstieg nichts wissen. Damit sind sie öffentlich-rechtlich und rot-grün-gelb als Umweltschweine gelabelt, haben also von der ARD keinerlei übertrieben sorgfältige Darstellung mit tragfähigen Beweisen zu erwarten.  

Reichelt ist doch selbst schuld

Geht es nicht um unsere verantwortungslosen östlichen Nachbarn, sondern gar um den weltweit bekannten Sittlichkeitsverbrecher und Ober-MeTooer Julian Reichelt, Ex-Chef der Bild-Zeitung, verbietet sich erst recht jeder handwerklich korrekte Umgang mit Darstellungen, Behauptungen, Vorwürfen. Bereits die zarteste Anmerkung, bis heute lägen zwar allerlei anonyme Mutmaßungen, Gerüchte, Indizien und Anschuldigungen vor, nicht aber ein einziger auch nur halbwegs gerichtsfester Beweis für „Vögeln, fördern, feuern“ (Der Spiegel), wird in der Branche als unerhörte Parteinahme für einen unbelehrbaren Intensivtäter bewertet und empfiehlt sich daher nicht. 

Zwei Jahre und eine fristlose Kündigung später kann „die Furcht vor seiner Rache“ (Der Spiegel, März 2021) im Hinblick auf Karriere im Axel-Springer-Verlag zwar nicht mehr ganz so groß sein. Das heißt aber nicht, dass sich die Quellenlage und damit die Grundlage der Vorwürfe gegen Reichelt seither entscheidend verbessert hätten. Oder wie t-online es unter Berufung auf die ARD-Sendung Reschke Fernsehen (nur echt mit Deppenleerzeichen) jüngst formulierte: „Das Ausmaß seines mutmaßlichen Machtmissbrauchs soll wohl größer gewesen sein.“ 

Soll wohl mutmaßlich. So so. Und „offenbar“? Wo bleibt bei T-Online das „offenbar“? Ah, hier: „Zudem sollen offenbar zwei Mitarbeiterinnen von Bild im Jahr 2019 Vorwürfe gegen Reichelt erhoben haben.“ Mein lieber Scholli, wenn das nicht endlich für Berufsverbot, Sicherungsverwahrung und Aberkennung der Bürgerrechte reichen sollte, dann weiß ich auch nicht. 

Reihenabwurf der Juristen

Sollen wohl mutmaßlich offenbar Vorwürfe. Härter wird es auch nach der zehnten Wiederholung nicht. Ein Schelm, wer hierbei an die Juristen des Hauses denkt, denen die Beweislage ebenfalls tief im Herzen nicht geheuer ist und die deshalb die ganzen Gummirelativierungsvokabeln gleich im Reihenabwurf auf den Text durchsetzen, immer in der Hoffnung, vor Gericht werde, das im Falle der Klage etwas nutzen. So kraterübersät sieht er dann auch aus, der Text.

Egal. Julian Reichelt habe sein ganzes Bild-Leben lang andere Menschen verleumdet, bloßgestellt und vorgeführt und junge Kolleginnen verführt, so das gängige Narrativ der Medienbranche, da habe er jetzt, nach seinem Fall und einer skandalösen Wiederauferstehung als AfD-Sympathisant (eine kontrafaktische Darstellung) mit eigener YouTube-Show, selbstverständlich keinerlei Schonung zu erwarten. Das mag auf einer Gefühlsebene erklärbar sein, ist aber unprofessionell und dient lediglich dem Zweck, die eigentliche Frage bereits im Ansatz zu unterbinden: Stimmt das, was der Mann da in seinen Sendungen behauptet, oder stimmt es nicht? Alles andere ist sekundär. Welche Jammerlappen haben hier Angst vor der Antwort? 

Abwägungen und Wahrscheinlichkeiten

Bis heute kennt die Öffentlichkeit keine einzige Person, die mit einer nachprüfbaren Schilderung der Abläufe behaupten würde, sie sei von Reichelt erst gevögelt, dann gefördert und dann gefeuert worden. Keine einzige.   

Reichelt hat also das Stadium „umstritten“, wie wir sehen, längst verlassen – er ist Unperson, wird besonders auf Facebook und Twitter von einem rund um die Uhr lauernden Mob wie Freiwild behandelt, an dem man sich nach Belieben austoben kann, Anlass egal, Rechtfertigung siehe oben. Und nein: Das ist keine Bekundung von Mitleid, sondern eine schlichte Feststellung. 

Natürlich gibt es auch Fälle, in denen die Platzierung von „wohl“ und „offenbar“ in Ordnung geht. Zum Beispiel, wenn eine Abwägung vorzunehmen, eine Wahrscheinlichkeit zu schätzen ist, möglichst für den Rezipienten nachvollziehbar. Eine Angestellte eines Finanzamtes verbrannte ein Dokument – offenbar hatte sie etwas zu verbergen. Wohl war ihr wohl nicht dabei. Der Text schildert einen Sachstand und der Autor sagt dazu, welche Erklärung oder welchen Verlauf er für plausibel hält. Das ist etwas anderes als der Missbrauch von „wohl“ oder „offenbar“ als dürftigen Ersatz für eine Quelle. Manchmal steht neuerdings ganz am Schluss noch das verschämte Sätzchen „Zeitung XY hat zuerst über die Sache berichtet“. Klar: Die sollen gefälligst schuld sein, wenn es nicht stimmte. 

Strauß und Brandt: umstritten

Zurück zu „umstritten“, ein weiteres Lieblingswort der Qualitätsmedien, klein, fies, gefährlich. „Umstritten“ waren Rosa Luxemburg und Matthias Erzberger. „Umstritten“ waren die jüdischen Professoren an den deutschen Hochschulen nach 1933. Aber nur so lange, bis es keine mehr gab. Die Voraussetzungen und Methoden, die dazu führten, waren demgegenüber bis 8. Mai 1945 leider gar nicht umstritten. Tags drauf wimmelte es bis in die 90er Jahre hinein von tapferen Widerstandskämpfern. 

„Umstritten“ waren Robert Havemann, Wolf Biermann, Oskar Brüsewitz und Stefan Heym. „Umstritten“ war auch Franz Josef Strauß. Und – was Jüngere ebenfalls oft nicht wissen – heftigst auch Willy Brandt. 

Abkanzeln und verleumden

„Umstritten“ sind heute Künstler, Politiker, Wissenschaftler. „Umstritten“ ist seit drei Jahren Hendrik Streeck, gefolgt – zu seiner eigenen Verwunderung – von Christian Drosten. „Umstritten“ ist sogar Dieter Nuhr, weil er es sich als einer der wenigen ARD-Leute erlaubt, offensichtliche Absurditäten „absurd“ zu nennen, was die Frankfurter Rundschau nach jeder Sendung aufs Neue in ihrem miserablen Deutsch und mit drei abgestandenen Argumenten aus der „Autovervollständigen“-Datei auf die Palme treibt.   

Das Wort hat Konjunktur, denn mit „umstritten“ lässt sich jeder abkanzeln und verleumden, der den Mächtigen auf den Wecker geht, undogmatisch denkt, sich weigert, das zu sagen, was alle anderen sagen, und Courage zeigt. Also genau das tut, was in keiner kirchlichen oder bundespräsidialen Sonntagsrede als flammender Appell an die Gesellschaft fehlen darf. 

„Umstritten“ ist ein übles Wort, das mit minimaler Vorbereitung gegen alles und jeden gewendet werden kann, sogar von einem Tag auf den anderen – gestern noch Liebling, heute bereits „umstritten“. Erst neulich waren sogar Spaziergänge „umstritten“, denn sie hatten laut Frank-Walter Steinmeier „ihre Unschuld verloren“, der größte Blödsinn, der die Villa Hammerschmidt und das Schloss Bellevue jemals verlassen hat. Und das will etwas heißen. Heinrich Lübke wäre das nicht passiert.

Claudia Roth beherrscht den Code

„Umstritten“ ist der Gummiknüppel der auf der richtigen Seite der Moral stehenden Empörten, der lässig vorgezeigte Einsatzmehrzweckstock der von Staatsknete abhängigen Kulturschaffenden und deshalb ganz zufällig auch der chinesischen KP, der Ai Weiwei ein Dorn im Auge ist. 

Warum ist eigentlich Claudia Roth mit ihrer elenden documenta so gar nicht umstritten? Weil sie die richtigen Bekenntnisse und Symbolwörtchen beherrscht. Das sind jene kleinen Abzeichen, oft nur für Insider zu entschlüsseln, die sie als den Guten zugehörig ausweist. Taten zählen da gleich nur noch bedingt. 

Angela Merkel: umstritten

„Umstritten“ ist neuerdings sogar Angela Merkel, und zwar, mangels ihres Machtapparates, täglich ein wenig mehr. Dass auch ihr das passieren könnte, hätte sie niemals für möglich gehalten angesichts der ganzen Verehrung und Zuneigung, die ihr 16 Jahre lang seitens der Qualitätsmedien zuteilwurde. Tja, Frau Bundeskanzlerin a. D., leider sind die zugleich aber auch ein bisschen anpasserisch und wankelmütig. 

Für die taz bringt Uwe Tellkamp sogar das Kunststück fertig, allein mit seiner Teilnahme eine ganze Diskussionsrunde zu einer „umstrittenen“ zu machen: Kaum ist er angekündigt – zack, alle kontaminiert. Tatsächlich erwies sich die Sorge der Kreuzberger Redaktion nach der Veranstaltung als nur zu berechtigt: „Zweifel an der Reichsbürger-Razzia werden geäußert“. Zweifel! Razzia! Reichsbürger! Was erlauben die sich! Und was wird das mit der Innenministerin machen, mit ihren Gefühlen? Wo uns allen die stundenlangen Schusswechsel mit der GSG 9 noch in Erinnerung sind!

Okay, der Zweifel war einst die Urzelle der europäischen Aufklärung, aber wenn es um die gute Sache geht, den großen Kampf gegen alles „Nichtwirklichlinke“, kann das natürlich keine Rolle spielen, sind Zweifel eher „aus der Zeit gefallen“, wie es von Rot-Grün in solchen Fällen gerne ein wenig schwachbrüstig heißt, als wäre Modernität ein Wert an sich.  

Womit Putin so alles rechnet

Die Umstrittenen haben keineswegs immer recht. Aber sie sind sehr oft das Gegenteil von Opportunisten, was sie ja gerade für eben jene zur Reiz- und Hassfigur macht, beweisen sie doch, dass es auch anders geht. Umstrittene suchen den gewaltfreien Streit und finden sich nicht ab mit dem Zustand der Welt, wie sie ist, und mit ihrer Ursache, mit dummer Politik. Umstrittene zweifeln nicht nur, sondern sagen das auch. 

Wenn das verkehrt, verachtenswert sein soll, dann will ich gar nicht wissen, was richtig ist. Dass ARD-Tagesschau und ZDF-Heute ohne „umstritten“ und die Empörung über Umstrittene nach „wohl“ und „offenbar“ noch mehr Text fehlen würde, ist kein gutes Zeichen für den Zustand des deutschen Journalismusses (mein einziger Apostroph hat heute frei). 

Gedankenlesen können sie

Zur Abrundung dieser Philippika noch ein Blick auf die Gedankenlesefähigkeiten der Medienbranche. Und die sind, wahrscheinlich als Ausgleich für das eine oder andere Defizit, verblüffend bis erstaunlich. So weiß der Tagesspiegel: „Selenskyj rechnet mit der Ermordung Putins durch dessen Vertraute“. Der Spiegel meldet: „Olaf Scholz rechnet nicht mit Rezession in Deutschland“. Sogar „Putin rechnet“ – und zwar, MSN News ist absolut sicher, „bei Niederlage mit eigenem Tod“, während Franziska Giffey „mit Klagewelle gegen ein Enteignungsgesetz rechnet“ (B. Z.). 

Die journalistische Lebenserfahrung sollte auch an dieser Stelle zu Vorsicht gemahnen. Womit Politiker und Despoten tatsächlich rechnen, ist das eine (oft dürften sie es nicht einmal selbst genau wissen). Was sie sagen, womit sie angeblich rechnen, steht auf einem anderen Blatt. Wie sie da erscheinen in diesen Beispielen, Selenskyj, Scholz, Putin, Giffey, haben sie durchweg aus ihrer Sicht gute Gründe, ihre Prognosen so und nicht anders hinausposaunen. 

Es gibt oft ein Kalkül. Oder es gibt zahllose Akteure, die gute Gründe kennen, Putin eine solche Vorhersage zu unterstellen (die er selbst kaum geäußert haben dürfte), etwa, weil sie selbst aus umsatztechnischer Perspektive Interesse an einem langen Krieg haben. 

Das müssen nicht durchgehend verwerfliche Beweggründe sein, aber wenn eine Zeitung behauptet, sie könne in den Kopf eines Fremden schauen, dann ist das mit hoher Wahrscheinlichkeit unzutreffend. Unglücklicherweise passt die einzige hier korrekte Schlagzeile „Giffey sagt, sie rechne mit einer Klagewelle gegen ein Enteignungsgesetz“ nicht in die drei Spalten und richtig sexy klingt sie auch nicht, sondern fast ein wenig misstrauisch.  

Scholz rechnet - mit oder ab?

Schließlich darf man aber auch bei diesem Phänomen nicht pauschal urteilen. Eine ältere Überschrift des Weser-Kurier war trotz der uns nunmehr alarmierenden Einleitung „Scholz rechnet“ völlig korrekt – und zwar, es ging gegen Martin Schulz und dessen Wahlpleite 2017 - „mit der SPD ab“. Da arbeitete er nämlich noch als Hamburger Bürgermeister. Und als schließlich am 19. Februar 2022 aus Washington gemeldet wurde „US-Präsident Joe Biden rechnet mit russischem Angriff“, war diese Prognose leider nicht nur absolut zutreffend, sondern entsprach mit hoher Wahrscheinlichkeit auch der tatsächlichen Überzeugung des US-Präsidenten, schon im Interesse der eigenen Glaubwürdigkeit.

Glaubwürdigkeit – also das, was unsere Qualitätsmedien durch ihren liederlichen Umgang mit Quellen und Behauptungen täglich ein wenig mehr aufs Spiel setzen. Die Alternativen „Löschtaste“ oder „Nachprüfung“ erscheinen ihnen - die Konkurrenz macht es ja nicht anders – wohl offenbar unzumutbar.

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