Bis anhin ist es so, dass aus jedem der 299 Wahlkreise mindestens ein Abgeordneter in den Bundestag einzieht, nämlich derjenige, der die meisten Stimmen gewinnt. Die Bürger des Wahlkreises haben damit einen direkten Ansprechpartner, der lokale Belange in der Bundeshauptstadt vertritt. Und in den Fraktionen, in denen direkt gewählte Abgeordnete sitzen, kommt zumindest ein ungefähres Stimmungsbild der verschiedenen deutschen Landschaften zustande.
In den Zeiten der grossen Koalition unter Bundeskanzlerin Angela Merkel hatten die Bundestagspräsidenten Norbert Lammert und Wolfgang Schäuble, beides Christlichdemokraten, vergeblich darauf gedrungen, dass die Abgeordneten das XXL-Problem endlich in Angriff nehmen. Doch Union und SPD konnten sich nicht einigen. Nun also die «Ampel».
Wahlkreise ohne eigene Abgeordnete?
Nach dem Willen der drei Regierungsfraktionen soll die Bedeutung eines Sieges im Wahlkreis künftig extrem relativiert werden: Hat eine Partei mit der sogenannten Erststimme viele Direktmandate, aber im Verhältnis dazu wenige Zweitstimmen gewonnen, dann sollen die Direktmandate an der Zweitstimmengrenze gekappt werden. Die «schlechtesten» Wahlkreissieger wären draussen.
Das würde bedeuten, dass manche Wahlkreise in Zukunft keinen eigenen Vertreter im Bundestag mehr hätten. Bisher konnte eine solche Situation nur entstehen, wenn ein direkt gewählter Abgeordneter vorzeitig ausschied. Dann wurde das Mandat von der jeweiligen Landesliste seiner Partei durch einen «Nachrücker» besetzt.
Wenn die «Ampel» sich mit ihrem Vorschlag durchsetzt – und danach sieht es aus, denn für die Reform genügt eine einfache Mehrheit im Bundestag –, dann werden künftig vor allem die Landeslisten der Parteien darüber entscheiden, wer ins Parlament kommt. Diese Listen aber sind Machtinstrumente eines kleinen Kreises von Parteifunktionären. Landesvorstände kungeln sie aus, und ein paar Dutzend bis ein paar hundert Parteitagsdelegierte nicken sie ab.
Eigenwillige Politiker hätten es noch schwerer
Kandidaten, die gelegentlich querschiessen, die Parteilinie infrage stellen oder dem Landesvorsitzenden aus irgendeinem anderen Grund nicht passen, hätten es in diesem Fall schwer. Weil sie in der Regel weit hinten auf den Landeslisten platziert würden, hätten sie nur noch mit einem besonders hohen Sieg im Wahlkreis eine Chance. «Nur» zu gewinnen, würde für sie nicht mehr reichen.
Das heisst: Die deutsche Politik würde noch gleichförmiger werden, als sie ohnehin schon ist. Und die ohnehin problematische Tendenz zur Selbstrekrutierung würde weiter zunehmen; es gibt Studien darüber, dass Abgeordnete heute immer häufiger eine Vergangenheit als Abgeordnetenmitarbeiter haben. Aus der Volksvertretung Bundestag würde mehr denn je eine Funktionärsvertretung werden, entrückt vom Leben der normalen, arbeitenden Bürger.
Dass ausgerechnet die selbsternannte «Fortschrittskoalition» diesen Vorschlag macht, ist kein Wunder: FDP und Grüne haben deutlich geringere Chancen als die (allerdings schrumpfenden) Volksparteien SPD und CDU, Wahlkreise direkt zu gewinnen. Die meisten ihrer Mandatsträger haben höchstens eine lose Bindung an den jeweiligen Heimatkreis.
Viele von ihnen leben gern in der Hauptstadt, und sie nehmen weder durch regelmässiges Nach-Hause-Pendeln mit der unzuverlässigen Deutschen Bahn noch durch Kontakte mit Bürgern im Wahlkreis wahr, was dort gedacht wird. «Berliner Blase» nennt der Volksmund diese abgeschottete Welt. Es ist nie nett gemeint.
«Das Land» gegen «die Hauptstadt»
Die Tendenz zur Entkoppelung von Repräsentanten und Repräsentierten gibt es schon seit Jahren, aber noch nie hatte sie demoskopisch so grosse Auswirkungen wie seit der Regierungsübernahme von Bundeskanzler Olaf Scholz. Binnen nur eines Jahres ist das Vertrauen in demokratische Institutionen wie Kanzler, Regierung und Bundestag eingebrochen, das ermittelte das Meinungsforschungsinstitut Forsa in diesem Monat.
Soll in Deutschland eine Kluft wie in den USA entstehen, in denen «das Land» in der öffentlichen Wahrnehmung gegen «die Hauptstadt» steht? Die Gefahr ist real.
Leider wirkt an der Amerikanisierung der Verhältnisse auch die Union mit. Der CSU-Generalsekretär Martin Huber etwa dröhnte, die «Ampel» plane «organisierte Wahlfälschung». Direkt gewählten Abgeordneten den Einzug ins Parlament zu verweigern, kenne man «nur aus Schurkenstaaten». Was kommt als Nächstes? Die «gestohlene Wahl»?
Hubers trumpeske Diktion ist besonders unangemessen, wenn man bedenkt, dass den Christlichdemokraten und Christlichsozialen in ihren vielen Jahren an der Regierung selbst keine überzeugende Lösung eingefallen ist.
Ein kosmisch gerechtes Stimmgewicht
Das deutsche Wahlrecht liesse sich anders an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts anpassen. Die Richter hatten 2012 den Versuch unternommen, vom Gesetzgeber so etwas wie ein kosmisch gerechtes Stimmgewicht einzufordern. Inzwischen scheint empirisch bewiesen zu sein, dass so etwas unmöglich ist. Die Konsequenz sind ein XXL-Parlament und Wahlzettel, die kein Mensch mehr versteht. Ohne irgendwelche «Gerechtigkeits»-Abstriche geht es also nicht.
Was tun? Man könnte zur früheren Regelung zurückkehren: mit Überhangmandaten, aber ohne sogenannte Ausgleichsmandate. In 20 Legislaturperioden waren die Überhangmandate noch nie ausschlaggebend für eine Regierungsbildung. Um den Vorgaben des Verfassungsgerichts gerecht zu werden, müsste die «Ampel»-Mehrheit ein solches neues altes Wahlrecht nur, wie andere Staaten das auch tun, in die Verfassung schreiben.
Der Bundestag hätte dann unter Umständen immer noch etwas mehr Mitglieder als 598, aber Exzesse wie in den vergangenen Jahren – als man versucht hatte, alles besser zu machen – wären nicht mehr möglich. Eine weitere Option wäre die behutsame Zusammenlegung von Wahlkreisen.
Die Koalition hat sich, wie gesagt, für die Lösung entschieden, die auf die regionale Verankerung der Abgeordneten pfeift. Ihr Gesetzentwurf mag schlank und auf den ersten Blick elegant erscheinen, aber das Parlament, das dabei herauskäme, wäre furchtbar: noch mehr Berliner Blase, noch weniger politische Vielfalt, noch mehr Entfremdung zwischen Wählern und Gewählten.
Nachtrag: In einer früheren Textfassung war von 295 Wahlkreisen in Deutschland die Rede. Es sind allerdings 299. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.
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