Die Ablösung der Demokratie durch Aktionismus (Cicero)
Waren in früheren Jahrzehnten Aktivisten und Organisatoren darauf angewiesen, ihre Politaktionen schwerfällig mit Hilfe von Telefonen oder gar Briefen und Plakaten auf den Weg zu bringen, so hat die digitale Kommunikation zu einer erheblichen Effizienzsteigerung im Protestgewerbe beigetragen. Mithilfe von Whatsapp und Co. lässt sich jederzeit und spontan eine wirkungsvolle Versammlung organisieren.
Nichts zu übersehen ist zudem eine erhebliche Internationalisierung und Professionalisierung der Protestbranche. Insbesondere Klimaaktivisten verfügen heutzutage über reibungslos funktionierende und pekuniär gut munitionierte Netzwerke, die in der Lage sind, zumindest in Europa und Nordamerika jederzeit medienaffine Protestformen in die Öffentlichkeit zu bringen. Die „Letzte Generation“ etwa wird unterstützt vom „Climate Emergency Fund“, initiiert von Aileen Getty, Adam McKay oder Rory Kennedy.
Man legt einfach mal das Land lahm
Diese Melange aus technischer Infrastruktur, Geld und Professionalisierung führt zunehmend dazu, dass kleine Minderheit hoch motivierter (und bezahlter) Aktivisten in der Lage sind, eine ganze Gesellschaft zu blockieren oder in Geiselhaft zu nehmen. Das hat zwar mit Demokratie und freier Meinungsäußerung nichts zu tun. Doch darum geht es den Beteiligten auch nicht. Denn anders als in früheren Jahrzehnten möchte der moderne Aktivist nicht auf sein Anliegen aufmerksam machen. Er will der Gesellschaft einfach seinen Willen aufzwingen – unabhängig von allen Mehrheitsverhältnissen.
Die Idee, als kleine Minderheit mit radikalen Mitteln einer ganzen Gesellschaft die eigenen Idiosynkrasien aufzuzwingen, hat allerdings nicht nur bei hippen Protestbewegungen Schule gemacht. Auch biedere Gewerkschaften verlieren zunehmend jedes Augenmaß. Angefangen hat es mit den flächendeckenden Lokführerstreiks organisiert durch die GEL im Jahr 2007 oder ähnlich gelagerten Ausständen der Pilotengewerkschaft Cockpit.
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Seinen vorläufigen Höhepunkt findet dieses Vorgehen in den vollkommen unangemessenen bundesweiten Warnstreik am kommenden Montag. Man legt einfach mal das Land lahm. Weil man es kann. Und weil ein paar Gewerkschaftsfunktionäre ihrem Narzissmus frönen.
Trotzige Kinder in ihrer gesellschaftlichen Sandkastenecke
Doch nicht nur altbackene Gewerkschaften und angesagte Protestbewegungen sind von der Idee besessen, einer Gesellschaft ihren Willen zu diktieren, koste es was es wolle. Dieser Wahn findet sich inzwischen sogar auf Regierungsebene. Ausstieg aus dem Verbrenner, Verbot von Öl- und Gasheizungen, das Durchpeitschen einer ideologisch kontaminierten „Energiewende“: Was die Mehrheit denkt oder will, ist egal. Im Zweifelsfall reicht ein Wahlergebnis von 14 Prozent, um der Gesellschaft den eigenen Willen aufzudrücken.
Diese Ablösung der Demokratie durch Aktionismus selbst auf Regierungsebene hat viele Gründe. Einer ist sicher die zunehmende Heterogenisierung der Gesellschaft. Wo immer mehr Leute zu immer mehr Themen immer unterschiedlichere Meinungen haben, ist die Versuchung groß, der allgemeinen Kakophonie ein Ende zu bereiten und einfach den eigenen Willen brachial durchzusetzen. Hinzu kommen die sozialen Medien, die nicht eben zu einer Versachlichung von Konflikten beitragen.
Vor allen aber hat man den Eindruck, dass unsere Gesellschaft zunehmend eine Schlüsselfähigkeit verliert: die unaufgeregte Konfliktlösung unter reifen Menschen. Man kann sich nicht immer des Eindrucks erwehren, es stattdessen mit Leuten zu tun zu haben, die sich hinsichtlich ihrer Emotionskontrolle und Impulssteuerung in einer Dauerpubertät befinden. Die Fähigkeit, mit Ungemach, Krisen oder Widerständen umzugehen – eine psychologische Kernkompetenz der erwachsenen Psyche –, scheint immer mehr abzunehmen. Wie trotzige Kinder sitzen sie in ihrer gesellschaftlichen Sandkastenecke und schmollen ihr „Ich will aber“. Dass das zu Lasten der Allgemeinheit geht, ist diesen Narzissten natürlich egal. Die hat diesen Egotrip im Zweifelsfall einfach zu ertragen.
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