27 März 2023

Klimaforscher Mojib Latif: „Es ist ausgeschlossen, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen“ (Focus-Online)

Klimaforscher
Mojib Latif (68) ist Klimaforscher, Meteorologe und Professor am GEOMAR-Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel. Seit 2017 ist er außerdem Präsident des renommierten "Club of Rome" sowie seit Januar 2022 Präsident der Akademie der Wissenschaften in Hamburg.
„Es ist ausgeschlossen, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen“
Montag, 27.03.2023
Hitze, Dürre, Starkregen: Der Klimawandel ist längst angekommen, auch in Deutschland. Überschreitet die Menschheit bald kritische Kipppunkte im Klimasystem? Und ist das 1,5-Grad-Ziel überhaupt noch erreichbar? Nein, sagt der renommierte Klimaforscher Mojib Latif. Ein Gespräch.
Zusammenfassung:
  • Ich habe stets klar gesagt, dass es so gut wie ausgeschlossen ist, die Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, zumal das Pariser Klimaabkommen meiner Meinung nach etwas missinterpretiert wird, denn das Hauptziel des Abkommens ist es, deutlich unter 2 Grad zu bleiben und nicht 1,5 Grad.
  • Das würde bedeuten, dass die Welt bis 2030 den CO2-Ausaatoß mindestens halbiert. Das sehe ich nicht
  • Wenn ich einige Politiker in Deutschland höre, die sagen, dass wir unsere Emissionen senken müssen, damit das Klima nicht aus dem Ruder läuft, dann ist das nicht richtig. Es zählt nur der weltweite Ausstoß
  • Es ärgert mich auch, wenn in den Medien die Worte der Politiker mehr oder weniger kritiklos übernommen werden
  • Solange China oder Amerika ihren Ausstoß nicht deutlich verringern, ist es völlig irrelevant was wir tun
  • Allein China hat einen Antel von etwa 30 % am weltweiten CO2-Emission
  • Wir hören jedes Jahr nach den Klimakonferenzen, dass die Länder zum 1,5-Grad Limit stehen. Seitdem das Thema auf der weltpolitischen Agenda steht, sind die weltweiten CO2-Emissionen explodiert und seit 1990 um circa 60 Prozent gestiegen.
  • Deutschland hat seine Emissionen im selben Zeitraum um 40 Prozent gesenkt. Das zeigt, dass es geht, und Deutschland zu den Guten gehört. Der politische Wille ist in vielen anderen Ländern, wie China aber nicht da.
  • Es gibt viele gute Gründe, warum wir etwas tun müssen. Aber das Klima würden wir damit nicht retten
  • Wir brauchen globale Anstrengungen, sonst wird das nichts. Deshalb werden wir aus meiner Sicht das Pariser Abkommen nicht erreichen, denn der weltweite Ausstoß an CO2 steigt immer noch. Er sinkt nicht, er steigt 
  • Selbst wenn er gleich bliebe, würden wir die Klimaziele nicht erreichen, so der renommierte Klimaforscher
 Hier zum Gespräch
FOCUS online Earth: Herr Latif, in der Klimaforschung sprechen Forschende von Kipppunkten. Also kritische Grenzwerte, an denen eine kleine zusätzliche Störung zu einer qualitativen Veränderung im System führt. Daraus resultieren unaufhaltsame und unumkehrbare Veränderungen. Häufig kommt Kritik auf, das Konzept der Kipppunkte sei wissenschaftlich nicht haltbar und im Endeffekt eine Erfindung. Stimmt das?

Mojib Latif: Nein, das stimmt nicht. Das Konzept der Kipppunkte ist in der Wissenschaft etabliert. Die Frage, die sich stellt, ist, inwieweit man dieses Konzept auf das Klima anwenden kann. Das ist die eigentliche Frage - nicht ob es überhaupt Kipppunkte in der Natur gibt.

Und dazu muss man zwei Dinge sagen: Erstens, es ist plausibel anzunehmen, dass es durchaus solche Kippelemente im Klimasystem gibt. Wir haben in der Vergangenheit gesehen, dass es sehr schnelle und radikale Klimaänderungen gegeben hat, die man mit dem Konzept der Kipppunkte beschreiben kann. Zweitens ist es aber völlig unklar, ab welcher kritischen Erwärmung solche Kipppunkte ausgelöst werden. Diese Unsicherheit wird in der Öffentlichkeit kaum kommuniziert. Wenn ich von bestimmten Leuten höre, bei 1,5 Grad ist alles vorbei und so weiter… das kann man behaupten, es ist aber nicht wissenschaftlich belegt.

Seriös kann man nicht sagen, wann tatsächlich solche kritischen Schwellen überschritten werden. Ob bei 1,5 Grad oder bei 2 Grad oder erst bei 3 Grad – man weiß es nicht. Aber das ist das beste Argument dafür, die Erderwärmung, soweit es geht, zu begrenzen. Stellen Sie sich vor, Sie fahren im dichten Nebel auf der Autobahn. Dann gehen Sie vom Gas runter, weil Sie ja nicht wissen, ob möglicherweise ein Stauende naht. Wenn wir nicht wissen, wann und ob überhaupt etwas passiert, dann ist es doch das Beste, es nicht herausfinden zu wollen, also das Vorsorgeprinzip gelten zu lassen. Für mich ist die Unsicherheit bezüglich der Kipppunkte, immer das beste Argument, schnell etwas gegen die Erderwärmung zu tun.

Kipppunkte werden oft herangezogen für dramatische Warnungen zur Zukunft des Planeten, etwa wenn es um die Eisschmelze an den Polen geht. Wie hoch ist die Gefahr für Forschende, dort etwas zu übertreiben und in Apokalyptik zu verfallen?

Latif: Das sollten wir nicht tun. Wir sollten immer auf der Basis der Wissenschaft argumentieren. Ich finde, was wir in den letzten Jahrzehnten erlebt haben, ist schon schlimm genug. Da muss man gar nichts draufsetzen. Wir haben 2019 in Deutschland einen Allzeit-Temperaturrekord von 41,2 Grad gemessen. Wir hatten letztes Jahr zum ersten Mal in Hamburg Temperaturen von über 40 Grad. Und wer hätte gedacht, dass man sich in dieser Stadt einmal nach Regen sehnt, wie es in den letzten Jahren der Fall war?

Und dann sehen wir inzwischen auch bei uns Waldbrände, die außer Kontrolle geraten und was sonst noch alles passiert. Man muss gar nicht übertreiben – man muss nur das dokumentieren, was tatsächlich passiert. Und das, was in anderen Weltregionen passiert, zum Beispiel in Spanien. Dort hat bereits jetzt im Frühjahr die Waldbrandsaison begonnen oder die Flut in Pakistan im letzten Jahr, wo ein Drittel des Landes unter Wasser gestanden hat. Das alles zeigt, wie katastrophal die Auswirkungen bereits sind.

Politische Streitfragen werden zunehmend als Wissensfragen verhandelt. Soziologen befürchten, dass typische politische Aushandlungsprozesse darüber verloren gingen. Es entstünde der Eindruck, dass sich aus dem besseren Wissen automatisch Handlungszwänge ergeben. Aber aus der wissenschaftlichen Expertise heraus ergebe sich noch kein politischer Sachzwang. Wie gelingt es, zwischen epistemischen und normativen Fragen zu unterscheiden und entsprechend zu kommunizieren?

Latif : Am Ende sind wir alle Menschen. Auch wenn ich mich um maximale Objektivität bemühe und probiere ausschließlich auf der Erkenntnisseite zu sein, wird es mir nicht immer gelingen. Als Mensch bezieht man meistens doch normative Aspekte mit ein. Die Rolle der Wissenschaft kann idealerweise nur sein, Handlungsoptionen aufzuzeigen. Wir Wissenschaftler können nicht die Rolle der Politik übernehmen. Es gibt es einen Diskurs in der Öffentlichkeit und der hat eben viele Facetten.

Kohleunternehmen werden vielleicht bei der Dinglichkeit des Handelns eher untertreiben und Umweltorganisationen vielleicht eher übertreiben. Das ist eben in einer demokratischen Gesellschaft so. Aber am Ende entscheidet die Politik und das ist auch gut so. Wir in der Wissenschaft berechnen Klimamodelle, aber kein Modell ist perfekt und niemand weiß ganz genau, was passieren wird. Wir müssen also ein Stück weit auf der Basis unsicherer Erkenntnis handeln. Da komme ich wieder zu meinem ersten Punkt: Wenn ich nicht ganz genau weiß, was passiert – möglichst den Ball flach halten.

Von den Kipppunkten zum IPCC-Bericht. IPCC-Leitautor Oliver Geden von der Stiftung Wissenschaft und Politik sagte anlässlich der Veröffentlichung des neuesten Syntheseberichts, die Menschheit habe sich mit dem 1,5-Grad-Ziel „möglicherweise selbst ein Bein gestellt“ . Die Folge könne Fatalismus sein, sobald klar sei, dass es mit dem Ziel nicht mehr klappt - dabei sei jedes Zehntelgrad entscheidend. Wie blicken Sie auf das 1,5-Grad-Ziel? Stimmen Sie Herrn Geden zu? 

Latif : Das Pariser Klimaabkommen wird meiner Meinung nach etwas missinterpretiert, denn das Hauptziel des Abkommens ist es, deutlich unter 2 Grad zu bleiben und nicht 1,5 Grad. Warum das so in die öffentliche Diskussion gekommen ist, weiß ich nicht. Und dann fragt man sich, was bedeutet deutlich unter 2 Grad: 1,9 oder 1,51 Grad? Alles, was belegbar unter 2 Grad ist, entspräche irgendwie dem Pariser Klimaabkommen.

Joachim Müller-Jung meint hingegen in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ , die Spitze des IPCC habe sich "in seinem Zweckoptimismus selbst übertroffen“. Im Bericht lese man von „Botschaft der Hoffnung“, „vielfachen, machbaren und effektiven Optionen“ und „wir haben es immer noch selbst in der Hand“. Er frage sich, ob der IPCC seine Strategie geändert habe. Wie sehen Sie das?

Latif : Das weiß ich nicht. Ich habe diese Art der Kommunikation nie betrieben. Ich habe stets klar gesagt, dass es so gut wie ausgeschlossen ist, die Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Das würde bedeuten, dass die Welt bis 2030 den CO2-Ausstoß mindestens halbiert. Das sehe ich nicht.

Wenn ich einige Politiker in Deutschland höre, die sagen, dass wir unsere Emissionen senken müssen, damit das Klima nicht aus dem Ruder läuft, dann ist das so nicht richtig. Es zählt nur der weltweite Ausstoß. Solange China oder Amerika ihren Ausstoß nicht deutlich verringern, ist es völlig irrelevant, was wir tun.

Wie ermüdend ist es für einen erfahrenen Klimaforscher wie Sie, wenn längst etablierte Konzepte nach Jahrzehnten immer noch attackiert werden?

Latif : Es ist frustrierend, aber nicht ermüdend. Aber das Thema ist zu wichtig, um aufzugeben. Deshalb muss man sich motivieren und hoffen, dass Dinge passieren, von denen man es nicht erwartet hat. Tatsache ist ja, dass es Möglichkeiten gäbe. Die Erneuerbaren Energien fristen allerdings ein Mauerblümchendasein. Auch in Deutschland – obwohl ich Deutschland ausdrücklich lobe. Wir haben unsere Energieversorgung gerade einmal zu 20 Prozent auf Erneuerbare umgestellt. Beim Strom sind wir gut – da haben wir mehr als 40 Prozent, aber beim Verkehr haben wir noch gar nichts gemacht und bei der Wärme nur sehr wenig. Das zeigt ja, was für einen weiten Weg wir noch zu gehen haben bis zur Klimaneutralität und die wollen wir in Deutschland bis 2045 erreichen.

Gibt es auch Vorbilder für Deutschland? Von welchen Ländern können wir lernen?

Latif : Schweden hat beispielsweise einen sehr viel höheren CO2-Preis als wir, und zwar schon sehr lange. Das hat aber nicht zu sozialen Spannungen oder Verwerfungen geführt, weil man gleichzeitig andere Steuern abgeschafft und soziale Projekte gefördert hat. Der CO2-Preis wird auch hierzulande weiter steigen, das heißt: Der Staat wird mehr Steuern einnehmen und hoffentlich die Menschen spüren lassen, dass sie profitieren – dann werden sie den CO2-Preis akzeptieren

Was macht Ihnen in der Klimakrise Hoffnung?

Latif : Dass die Möglichkeiten zur Begrenzung der globalen Erwärmung vorhanden sind. Wenn ich „König der Welt“ wäre, würde ich als erstes die Subventionen für die fossilen Energien abbauen. Dann wären die Erneuerbaren Energien so billig, dass es da keinen Weg drumherum gäbe. Und dann könnte man tatsächlich eine globale Energiewende innerhalb weniger Jahrzehnte hinkriegen. Wir brauchen internationale Kooperationen – die Klimakrise ist nur gemeinsam zu lösen. Wir kriegen es national nicht gebacken!

Eine letzte Frage. Wann haben Sie das letzte Mal gedacht: „Nach mir die Sintflut“?

Latif: Gar nicht – so etwas denke ich nicht. Jeder Mensch hat eine Verantwortung, das müssen auch junge Menschen begreifen. Aufgeben ist keine Option!

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