19 März 2023

Neue Flüchtlingskrise - „Wir schaffen das - nicht!“ (Cicero+)

Neue Flüchtlingskrise
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„Wir schaffen das - nicht!“ (Cicero+)
Boris Palmer, der grüne Oberbürgermeister von Tübingen, plädiert für mehr Realismus in der Flüchtlingsfrage. Mit seinem ungebrochenen Sinn für Realismus wäre er der richtige Innenminister für Deutschland.
VON MATHIAS BRODKORB am 19. März 2023
Aufmerksamen Beobachtern war schon vor ein paar Monaten klar, dass Deutschland mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine neue Flüchtlingskrise zusteuert. Dazu musste man schon vor einem halben Jahr nur ein wenig rechnen können, die Erfahrungen der Jahre 2015 und 2016 einbeziehen, auf die Berichte von vor Ort Verantwortlichen hören und über ein bisschen gesunden Menschenverstand verfügen.

Führende Migrationsforscher wie der Direktor des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), Frank Kalter, wollten damals aber so gar nichts davon wissen. Die Theorie jedenfalls, dass es für Flucht und Migration Gründe sowohl in den Herkunftsländern (push-Faktoren) als auch in den Ankunftsländern (pull-Faktoren) gebe, hielt er noch vor rund sechs Monaten bloß für eine „sehr vage Idee, mehr nicht“. Die These, dass die westliche Welt durch allzu großzügige Regelungen für Fluchtbewegungen und damit auch für Tote im Mittelmeer mitverantwortlich ist, störte offenbar das eigene behagliche Gemüt.

Das Herz weit, die Möglichkeiten endlich

Was vor ein paar Monaten noch mit wissenschaftlicher Dignität bloß zu einer spinnerten Idee erklärt wurde, ist nun in Deutschland trotzdem handfeste Realität geworden. Die zweite Flüchtlingskrise ist längst da. Wenn Kommunalpolitiker wie der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Bündnis 90/Die Grünen) heute von einer „Flüchtlingskrise“ sprechen, meinen sie das Folgende damit: Sie wenden sich gar nicht gegen den moralischen Anspruch, Menschen in Not zu helfen. Der moralische Kompass ist auch bei ihm völlig klar. Allein, er stellt einfach die Frage, ob das Herz zwar „weit“ ist, „doch unsere Möglichkeiten“ trotzdem möglicherweise „endlich“ (Joachim Gauck).

Und das hat einen nachvollziehbaren Grund. Schon vor der neuerlichen Flüchtlingskrise hatte Deutschland ein Problem mit galoppierenden Mieten, weil es zu wenige Wohnungen gibt; mit Unterrichtsausfall aller Orten, weil es zu wenige Lehrer gibt; mit zu wenigen Kindergartenplätzen, weil es zu wenige Erzieher gibt. Von inzwischen explodierenden Heiz-, Energie- und Lebensmittelkosten ganz zu schweigen. Aber das alles hat nun Konsequenzen. Nicht in den Stadtvierteln und Regionen, in denen die politischen Entscheider und gut Betuchten leben. Sondern in den sozialen Brennpunkten der Republik.

Integration in Marzahn-Hellersdorf

Die eigentliche Integrationsleistung wird ja in Wahrheit auch nicht in Berlin-Charlottenburg oder Hamburg-Blankenese erbracht, sondern zum Beispiel im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf. Während die politische Schickeria allabendlich die multikulinarische Gesellschaft in der Innenstadt genießt, streiten sich sozial schwache Flüchtlinge und ebenso sozial schwache Einheimische in der multikulturellen Gesellschaft um jeden Quadratmeter und jeden Euro. Und um das kulturelle Selbstverständnis.

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Boris Palmer beschreibt die Lage in seiner Stadt Tübingen dabei so: Weil es nicht mehr genug Erzieher, aber (auch durch die Flüchtlinge) mehr Kinder zu versorgen gebe, musste er die Öffnungszeiten seiner Kitas drastisch einschränken. Das rief freilich den Unmut einheimischer Eltern hervor, die nun immer mehr Probleme bei der Vereinbarkeit von Arbeits- und Familienleben haben. Oder: Die Stadt verfüge nur über rund 2.000 sozial gestützte Wohnungen, von denen aber schon heute rund 20 Prozent durch Flüchtlinge belegt seien.

Keine Chance mehr für Einheimische auf staatlich geförderte Wohnungen

Da vor allem Flüchtlinge aus Afghanistan, Syrien etc. keine Chance auf dem privaten Wohnungsmarkt hätten und er dennoch verpflichtet sei, ihnen eine Unterkunft zu organisieren, bleibe ihm nur eines übrig, nämlich sie in den sozial gestützten Wohnungen unterzubringen. Die Folge: „Einheimische“ mit geringem Einkommen hätten keine Chance mehr, vom staatlich geförderten Wohnungsangebot zu profitieren. Teilweise müssten sogar 70jährige Rentner, so berichtet es jedenfalls Palmer, nach Jahrzehnten aus Tübingen wegziehen, weil sie sich die Mieten in der Stadt nicht mehr leisten könnten.

Als im mecklenburgischen Dorf Upahl unlängst dessen Einwohner gegen die Errichtung einer Flüchtlingsunterkunft protestierten, wurde bundesweit darob wieder einmal die Nase gerümpft. „Im Osten alles Nazis“, schien die Interpretation der Ereignisse zu sein. In dem Dorf wohnen derzeit 500 Menschen, die Flüchtlingsunterkunft soll die Einwohnerzahl nahezu verdoppeln. Besorgte Einwohner stellten sich vor laufenden Kameras ungefähr folgende Fragen: „Wenn die rund 400 geplanten Flüchtlinge vor allem Frauen mit Kindern aus der Ukraine wären, dürfte das klappen. Was aber, wenn 400 junge Männer aus dem muslimischen Kulturkreis dort einquartiert werden? 400 junge Männer mitten in der Pampa? Ohne Möglichkeit einer sinnvollen Beschäftigung? Ja, was wäre dann eigentlich? Kann das wirklich gut gehen?“ Die Angestammten haben daran jedenfalls bis heute ihre Zweifel.

400.000 zusätzliche Asylbewerber in diesem Jahr

Boris Palmer prophezeit, dass in diesem Jahr auch ganz ohne ukrainische Kriegsflüchtlinge mit ungefähr 400.000 weiteren Asylbewerbern zu rechnen ist. Das wäre jedenfalls das Ergebnis, wenn man die Daten aus den Monaten Januar und Februar auf das gesamte Jahr 2023 hochrechnete. Palmer ist sich sicher: „400.000 wird noch viele Upahls schaffen. Das sollte man im Bund erkennen. Und deshalb ist es auch die ‚Ordnung in der Flüchtlingspolitik‘, von der wir nicht abgehen können.“ Und dann sagt er einen Satz, der aufhorchen lässt: „Wir schaffen das – nicht!“

„Ordnung“ in der Asyl- und Flüchtlingspolitik. Das ist das Thema des Boris Palmer dieser Tage. Er scheint überzeugt davon, dass es selbstverständlich so etwas wie pull-Faktoren gibt, auch wenn namhafte Wissenschaftler das bestreiten. Also Anreize, sein Glück in Deutschland zu suchen, weil die Sozialleistungen so hoch sind.

Pull-Faktor Sozialleistungen

In Frankreich jedenfalls erhielten Flüchtlinge pro Monat nur rund 500 Euro pro Person, sagt er. In Deutschland sind es hingegen etwa 50 Prozent mehr. Auch so erklärt sich Palmer, dass in Frankreich nur etwa ein Zehntel der Flüchtlinge angelandet sind, die nun in Deutschland leben. Wenn man hier deutlich mehr Geld als in Frankreich erhalte, sei doch eines klar: „Ist doch völlig logisch, dass ich dann in Deutschland bleibe, ist doch klar.“ Palmer glaubt offenbar an die „pull-Faktoren“, von denen manch ein Wissenschaftler beharrlich behauptet, dass es sie gar nicht gebe.

Der grüne Oberbürgermeister von Tübingen drängt also gar nicht darauf, dass Europa keine Flüchtlinge und Asylbewerber mehr aufnehmen solle. Ihm geht es vielmehr darum, die dadurch verursachten Lasten auf ganz Europa fair zu verteilen. Und wirklich nur solche Menschen aufzunehmen, die tatsächlich politisch verfolgt werden – oder vor einem Krieg fliehen.

Aber Tatsache ist: Nur rund 50 Prozent jener, die in Deutschland Asyl beantragen, werden letztlich tatsächlich als Verfolgte anerkannt. Die andere Hälfte bleibt dennoch auf Kosten des Steuerzahlers im Land – ganz häufig über viele Jahre hinweg – und wird auf die Kommunen verteilt. Die müssen sich dann um alles kümmern und wissen inzwischen gar nicht mehr recht, wie das noch gehen soll: Kita, Schule, Arzt, Wohnung etc.

Bürgermeister müssen heute Probleme lösen

Für Palmer gibt es daher nur drei Lösungen für das grundsätzliche Problem. Die erste wäre, dass die europäischen Außengrenzen wirksam geschützt würden. Die zweite wäre, dass unberechtigte Asylbewerber unmittelbar abgeschoben würden. Beides hält er indes für völlig unrealistisch und kurzfristig für nicht umsetzbar. Aber Bürgermeister und Landräte müssen nicht irgendwann, sondern heute und morgen die Probleme lösen.

Also bleibe nur eine dritte Möglichkeit, so Palmer. Man müsse zwar den tatsächlich Hilfsbedürftigen ohne Wenn und Aber helfen, aber den Glücksrittern zugleich das Geschäft vermiesen, also die pull-Faktoren beseitigen. Als einzige Lösung bleibe nur übrig, dass die Bundesländer in ihre Aufnahmeeinrichtungen endlich „Ordnung reinbringen“. Die Verfahren müssten dort vom Anfang bis zum Ende durchgeführt werden. Und nur die, die wirklich „bleiben dürfen“, sollten letztlich auch auf die Kommunen verteilt werden.

Fehlanreize reduzieren

Dadurch würden sich die Zuweisungszahlen an die Kommunen schlagartig halbieren. Und in den zentralen Aufnahmeeinrichtungen sollte es dann nur noch Sachleistungen und keine Geldleistungen mehr geben. „Dafür macht man sich normalerweise nicht auf den Weg“ nach Deutschland, ist Palmer überzeugt. Die Idee scheint also zu sein: Je kleiner die Fehlanreize, desto kleiner auch das Problem. Eigentlich sollte man meinen, dass man gegen diese Logik nichts Sinnvolles sagen kann.

Kaum hatte Palmer diesen Vorschlag aber unterbreitet, widersprach bei Maybrit Illner die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Malu Dreyer. Bloße Sachleistungen für eigentlich nicht schutzbedürftige Personen, sondern bloße Glücksritter? „Möchten wir nicht.“, sagte sie dazu nur sporadisch. Und genau das sind die viel beschworenen „pull-Faktoren“, die es nach manch „wissenschaftlicher Meinung“ am Ende gar nicht gibt, obwohl sie natürlich trotzdem existieren, weil die Politik sie aus falsch verstandener Humanität selbst herbeiführt.

Aber Palmer beschäftigt sich gar nicht nur mit der Frage, wie man unberechtigte Leistungsempfänger zugunsten der wirklich Hilfsbedürftigen von Deutschland am besten fern hält. Er fragt sich zugleich, wie man mit dem aktuellen Schlamassel trotzdem klarkommen könnte.

Man müsste ihn nur machen lassen!

Da wäre das Beispiel Kita. Eigentlich hätte er sofort eine Lösung für das Problem parat, ukrainische Kinder in seinen Kitas zu betreuen, ohne die Versorgungsqualität für alle anderen zu beeinträchtigen. Und das hätte übrigens auch den Vorteil, dass die ukrainischen Eltern dann dem Arbeitsmarkt zur Verfügung ständen und nicht auf Leistungen des Sozialstaates angewiesen wären. Die meisten von ihnen wollen das ja auch gar nicht.

Wenn man ihn vor Ort denn einfach nur machen ließe! Er hätte nämlich Räume, pädagogisches und Spielmaterial und es gäbe auch Ukrainer, die die Bildung und Betreuung „ihrer“ Kinder übernehmen könnten. Nur eines hätte er nicht: anerkanntes Fachpersonal nach deutschen bürokratischen Standards. Und weil es das nicht gäbe, müsste er nun stattdessen für alle das Versorgungsniveau qualitativ wie quantitativ verschlechtern. Gerechtigkeit für alle auf miserablem Niveau. Ungefähr das ist offenbar die Idee des deutschen Sozialstaates in einer Notlage. Für Palmer ist daher klar: „Wir müssen von den deutschen bürokratischen Standards runter. Wir müssen den Papierkram einfach mal beiseite legen.“ Und einfach etwas Sinnvolles machen. Jedenfalls dann, wenn es nicht anders geht.

Innenminister Palmer?

Eigentlich wollten die Grünen Palmer, weil er nicht orthodox genug für sie ist, bis vor kurzem noch loswerden. Dieser Versuch allerdings ist gescheitert. Aber man müsste sich in Wahrheit umgekehrt wünschen, dass jemand wie Palmer demnächst der Bundesregierung angehört und das Land auf Vordermann bringt. Zum Beispiel als Innenminister. Mit klarem moralischem Kompass, aber dennoch ausgestattet mit dem nötigen Maß an Realismus und Wirklichkeitssinn.

Am 8. Oktober 2023 wird in Hessen gewählt - und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) ist die Spitzenkandidatin der örtlichen SPD. Wenn sie erfolgreich wäre, würde automatisch ein Platz frei in der Bundesregierung. Wahrscheinlich wäre Palmer deutschlandweit die beste Option für eine würdige Nachfolge, wenn es denn nur um Sachargumente und die Lösung von Problemen ginge. Jaja, ich weiß. Das ist ziemlich unrealistisch. Aber man wird doch noch träumen dürfen. Oder?

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