, Chefreporter Wissenschaft, 14.03.2023
Genährt wird die Sorge von einem kleinen Kreis von Wissenschaftlern unter anderem vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), welche die grundlegenden Arbeiten zum Thema geschrieben haben. Doch das Wissen über Kipppunkte gleicht einer Fata Morgana: Je näher man sie betrachtet, desto weniger bleibt von ihnen übrig.
So erwies es sich als problematisch, robuste Warnungen vor Kipppunkten in der wissenschaftlichen Literatur unterzubringen. Dass es dennoch gelang, verrät, wie mit Wissenschaft Politik gemacht wird.
PIK-Direktor Johan Rockström warnte auf dem Weltwirtschaftsforum in
Davos im Januar vor 16 Kipppunkten, neun zeigten „Anzeichen der
Instabilität“, mahnte Rockström. Sie drohten „die Menschheit zu
unterminieren.“
Der UN-Klimarat, der das Wissen zum Klimawandel zusammenfasst, hatte zuvor ein ganz anderes Urteil über Kipppunkte dokumentiert. Die Phänomene könnten zwar „nicht ausgeschlossen werden“, doch es gebe „ungenügende Evidenz“, einen „Mangel an Daten“, das Thema sei „herausfordernd“.
Auch führende Kollegen aus der Klimaforschung äußern sich weitaus vorsichtiger über Kipppunkte-Risiken als Rockström und seine Kollegen vom PIK. Das Wissen über die Phänomene ist so löchrig wie tauender Permafrostboden. Dennoch haben es die PIK-Forscher geschafft, dringliche Warnungen vor Kipppunkten in die wissenschaftliche Literatur zu schleusen.
Das mit Abstand einflussreichste Papier
Die bis heute grundlegende Publikation zu den Kipppunkten stammt von einer Gruppe um Rockström und seinem Vorgänger, dem Gründungsdirektor des PIK, Hans Joachim Schellnhuber. Zusammen mit ihrem PIK-Kollegen Stefan Rahmstorf, dem britischen Klimatologen Timothy Lenton und anderen hatten sie 2008 eine Umfrage mit Antworten von 52 Klimaforschern veröffentlicht, die rasch zu einer der meistzitierten Arbeiten der Klimaforschung aufstieg. Tausende Studien beziehen sich auf sie, es ist das mit Abstand einflussreichste Papier zum Thema.
Mit jener Publikation von 2008 machte der Begriff „Kipppunkt“ Karriere, Massenmedien berichteten weltweit, und mittlerweile verlinken 63 Wikipedia-Artikel auf den Aufsatz. Der Wikipedia-Artikel über Kipppunkte selbst liest sich fast wie eine Kopie der PIK-Arbeit. Das Problem: Sie genügte nicht den Standards einer wissenschaftlichen Studie.
Die Umfrage der PIK-Forscher war zwar im Wissenschaftsmagazin „Proceedings of the National Academy of Sciences“ (PNAS) erschienen, dem Magazin der Nationalen Akademie der Wissenschaften der USA (NAS). Es war aber keine begutachtete Studie, sondern ein „Einstandsartikel“, den neu gewählte NAS-Mitglieder einreichen dürfen, „um sich den Lesern von PNAS vorzustellen“. 2005 war Schellnhuber in die NAS aufgenommen worden, die Kipppunkte-Umfrage war seine erste PNAS-Veröffentlichung.
PNAS veröffentlichte den Kipppunkte-Beitrag als eine „Perspective“. Im Gegensatz zu Studien genügen „Perspectives“ schwachen Kriterien: Solche Texte brauchen laut PNAS lediglich „ein kritisches wissenschaftliches Problem identifizieren, eine Bewertung auf dem neuesten Stand der Technik liefern und neue Einsichten oder einen neuen Ansatz zu seiner Lösung bieten“.
Schellnhuber und das „Bauchgefühl der Wissenschaft“
Es reicht also ein interessanter Überblick über ein relevantes Forschungsthema. Ob es wissenschaftlich substanzielle Belege gibt für die dargelegten Phänomene, ist für eine „Perspective“ nicht von Belang. So gelangte die Kipppunkte-Warnung in ein renommiertes Wissenschaftsmagazin.
Umfragen wären problematisch, räumten die Autoren selbst ein. Es würde bemängelt, dass sie nicht zum Bestand wissenschaftlicher Erkenntnisse beitrügen, sondern lediglich Vorurteile reproduzierten. Dabei hätten sich Umfragen als „wertvolle Informationsquelle öffentlicher Politikgestaltung erwiesen“. Schellnhuber spricht vom „Bauchgefühl der Wissenschaft“.
Der Begriff „Kipppunkte“ veränderte die Klimadebatte: Er werde verwendet, um „ein politisches Problem zu lösen, indem die öffentliche Wahrnehmung auf neue und substanzielle Weise umstrukturiert wird“, kommentierten Chris Russill von der Carleton University und Zoe Nyssa von der University of Chicago 2009 im Fachblatt „Global Environmental Change“.
Ein Jahr nach ihrer Umfrage publizierte Schellnhuber zusammen mit Kollegen erneut über Kipppunkte in „PNAS“, diesmal eine Umfrage unter 43 Klimaforschern. Die Gutachter akzeptierten sie diesmal als richtige Studie, allerdings blieb deshalb von dem alarmierenden Duktus des vorherigen Aufsatzes wenig übrig: „Ungenaue Wahrscheinlichkeitsabschätzung von Kipppunkten im Klimasystem“, hieß die Arbeit.
Der Text offenbarte, dass es für Kipppunkte-Alarm zu früh schien: „Obwohl die Expertenschätzungen eine große Unsicherheit hervorheben, weisen sie einigen der oben aufgeführten Ereignisse eine signifikante Wahrscheinlichkeit zu“, schrieben Schellnhuber und seine Kollegen ungewohnt zurückhaltend. Die Arbeit ging unter im Vergleich zur vorherigen, sie erreichte nur einen Bruchteil der Zitate.
In der Hitze des Sommers 2018
Als Rockström, Schellnhuber und Kollegen 2018 wieder die Kipppunkte mit Dringlichkeit in die Debatte speisen wollten, gingen sie erneut auf Nummer Sicher und wählten eine PNAS-„Perspective“ ohne harte Begutachtung. Der Beitrag war von „PNAS“ ungewöhnlich schnell publiziert worden: schon 17 Tage nach Eingang in der Redaktion. Bei Studien können Monate oder gar Jahre vergehen bis zur Veröffentlichung.
Der ungewöhnliche heiße Sommer 2018 in Europa und den USA half vermutlich bei der Platzierung des Aufsatzes, der vor einer „Heißzeit“ warnte, vor „Hothouse Earth“, aus der es kein Zurück mehr gebe. Neue Erkenntnisse brachten die Autoren nicht, es handelte sich um die bekannten Spekulationen über die angeblichen Kipppunkte, die eine „Stabilisierung des Klimas verhindern“ könnten.
Die „Perspektive“ entfaltete enorme Wucht, die mediale Resonanz war riesig. Der Aufsatz war laut einer Analyse die „einflussreichste Klima-Veröffentlichung 2018“, und „Heißzeit“ wurde von der Gesellschaft für Deutsche Sprache zum „Wort des Jahres“ gewählt.
Zwar äußerten renommierte Klimaforscher, wenn sie überhaupt mal danach gefragt wurden, Zweifel: Kipppunkte seien „denkbar, wir können sie nicht ausschließen, aber wir wissen eigentlich wenig“, sagte etwa 2020 Jochem Marotzke, Direktor des Max-Planck-Instituts für Meteorologie. Doch die PIK-Forscher ließen sich nicht beirren.
In „Nature“ veröffentlichten sie Ende 2019, kurz vor der UN-Klimakonferenz in Madrid, einen Kommentar: „Klima-Kipppunkte – zu riskant, um dagegen zu wetten“. „Die steigende Gefahr von abrupten und unumkehrbaren Klimaumschwüngen“, hieß es in dem Text, „muss zu politischen und wirtschaftlichen Taten zwingen“.
Fehler führen zu Korrektur eines „Nature“-Kommentars
Der Klimaforscher Justin Ritchie, der nicht an dem Aufsatz beteiligt war, zeigte sich irritiert angesichts des auffällig häufig im Text vorkommenden Wortes „falls“; das Wort „könnte“ kam sogar 25-mal vor: „Wenn es elfmal ‚falls‘ braucht, um eine Meinung zu stützen, dann sollte man die Substanz überprüfen“, schrieb er. „Nach dem Lesen bin ich nun weniger überzeugt von bevorstehenden Kipppunkten.“
Der „Nature“-Kommentar musste ein halbes Jahr nach Veröffentlichung ungewöhnlich stark korrigiert werden: Gleich fünf Fehler in der zentralen Abbildung des Artikels hatten Leser entdeckt. Bei „Nature“ waren sie nicht aufgefallen – der Text hatte als Kommentar ohne Begutachtung veröffentlicht werden können.
Die Autoren aber ließen nicht locker. Eine Gruppe um Rockström und Schellnhuber veröffentlichte 2022 erneut eine dramatische Warnung vor Kipppunkten: „Climate Endgame – Erforschung katastrophaler Klimawandelszenarien“ lautete der Titel einer weiteren „Perspective“ in PNAS. Die Thesen: Die Welt wäre auf dem Weg in ein Extremszenario, Extremszenarien würden vernachlässigt, ihre Betonung könnte Klimaschutz-Handeln beschleunigen.
Bislang hatten Klimaforscherkollegen zwar die Nase gerümpft über all die schillernden Kipppunkt-Publikationen, aber öffentlich meist geschwiegen. Das „Climate Endgame“ aber provozierte Kritik.
„Meinung, keine neue Wissenschaft“
„Meiner Meinung nach gibt es kaum Beweise dafür, dass der Klimawandel schlimmer ist, als wir dachten, noch dass Bewertungen die Risiken herunterspielen oder dass wir dem Untergang geweiht sind“, erklärte der Klimatologe Reto Knutti von der ETH Zürich. Der Artikel spiegele „nicht das Mainstream-Denken zum Thema Klima wider“.
Es sei „nicht die erste derartige PNAS-Perspektive derselben Autoren“, betonte Knutti. Jene Veröffentlichungen seien zwar „interessant zu lesen“, aber eben Meinungsbeiträge, keine neue Wissenschaft. „Ich schätze die Autoren und ihre Arbeit“, erklärte Knutti, aber solche Artikel würden „vorhersehbar verzerren und verwirren, ohne neue Erkenntnisse zu liefern“.
Auch der Umweltforscher Roger Pielke Junior von der University of Boulder widersprach den Thesen der PIK-Forscher: Er wies darauf hin, dass unrealistische Extremszenarien im UN-Klimabericht am häufigsten von allen Szenarien verwendet werden. Aktuelle Schätzungen zeigten zudem eine deutlich geringere Erwärmung, als im „Climate Endgame“-Artikel behauptet.
Aber die Kipppunkte-Gruppe um Rockström und Schellnhuber arbeitete bereits an den nächsten Veröffentlichungen. Im Herbst 2022 hatte Rockström mit Kollegen eine Kipppunkte-Studie in „Science“ unterbringen können, wonach bereits oberhalb von 1,5 Grad Erwärmung Kipppunkte drohen könnten. Medien weltweit berichteten.
Schellnhuber, der diesmal nicht an dem Artikel beteiligt war, durfte ein kurzes Vorwort beitragen: „Die Analyse zeigt, dass selbst eine globale Erwärmung von 1 °C, eine Schwelle, die wir bereits überschritten haben, uns in Gefahr bringt, indem sie einige Kipppunkte auslöst“, schrieb Schellnhuber.
„Verzerrung in der Berichterstattung“
Nicht in die Schlagzeilen gelangte wie üblich die Kritik: Der „Science“-Aufsatz müsste mit Vorsicht rezipiert werden, kommentierte der Klimaforscher Philippe Huybrechts von der Vrije Universiteit Brussel. Die Übersichtsarbeit in „Science“ sei politisch gefärbt; Berichte des UN-Klimarats seien vorsichtiger gehalten – aus gutem Grund: „Wir wollen unsere Aussagen ja nicht schon in fünf Jahren wieder revidieren“, sagte Huybrechts der „NZZ“.
Der Klimatologe Thomas Stocker von der Universität Bern, Vorsitzender des fünften UN-Klimareports, mahnte angesichts der Studie ebenfalls zur Vorsicht: „Ich bin der Auffassung, dass sich das so eindeutig noch nicht sagen lässt, der Stand der Forschung gibt das nicht her“, sagte er der „Zeit“. Die Klimawissenschaft wisse „noch zu wenig über Kipppunkte, sowohl was die Theorie betrifft als auch die Modelle und die Beobachtungen“, erläuterte Stocker.
Er beklagte „einen Bias in der Berichterstattung“, also eine Verzerrung: Kipppunkte erregten viel Aufmerksamkeit, weil sie „anschaulich und dramatisch“ wirkten. „Aber für die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft ist das meiner Ansicht nach riskant, denn wir diskutieren immer noch auf der Basis von relativ wenig Evidenz“, mahnte Stocker.
Nutznießer der Kipppunkte lässt das Unwissen kalt. Die Vereinten Nationen, für die globale Probleme wie der Klimawandel statusfördernd sind, griff die „Science“-Studie von Rockström dankbar auf. Im September 2022 warnten die UN: „Wenn die Welt einen Kipppunkt erreicht, werden wir mit unwiderruflichen Veränderungen konfrontiert sein.“
Kurz darauf twitterte die Grünen-Politikerin Kathrin Henneberger von den Klimaprotesten im Kohlerevier in Lützerath: „Global sind wir dabei die Klimakipppunkte zu überschreiten. Hier wird derweil gebaggert als wäre das alles nicht real, als gäbe es keine Klimakrise.“
PIK-Forscher Stefan Rahmstorf nutzt seine Kipppunkte-Aufsätze für
eigene Produkte: „Wir sind dabei, gefährliche Kipppunkte zu
überschreiten“, twitterte er Ende September 2022.
„Die dadurch ausgelösten, unumkehrbaren Veränderungen werden auch für
uns in Deutschland verheerend sein und können ganze Gesellschaften
destabilisieren“, schrieb Rahmstorf. Dazu stellte er eine Werbung für
ein neues Buch, an dem er mitgewirkt hat: „3 Grad mehr – Ein Blick in
die drohende Heißzeit“.
Mitte Februar ließ ein internationales Forscherteam Luft aus der Kipppunkte-Hysterie: „Die meisten Kippelemente besitzen nicht das Potenzial für abrupte zukünftige Änderungen innerhalb von Jahren“, resümierten die Experten im Fachblatt „Reviews of Geophysics“. Bei manchen würde es sich wohl nicht mal um Kipppunkte handeln, gleichwohl könnte die Erwärmung die Phänomene in „schwerwiegender Weise“ verändern.
Klimaforscher Stocker warnt vor Übertreibungen: Er habe mal in einer Debatte den Standpunkt vertreten, „dass wir noch nicht genug über Kippelemente wissen“, doch die Stimmung sei so aufgeheizt gewesen, dass er nicht mehr zu Wort gekommen wäre, erzählte der Klimaforscher.
Sogar „gewaltsamer Widerstand“ sei in der Debatte propagiert worden. Es habe niemand widersprochen, sagte Stocker. „Das fand ich sehr beängstigend.“
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