14 Mai 2025

Blick in das ehemals geheime AfD-Gutachten des Verfassungsschutzes - Wer Bill Gates kritisiert und Aiwanger verteidigt, ist offenbar rechtsextrem (Cicero)

Blick in das ehemals geheime AfD-Gutachten des Verfassungsschutzes
-

Wer Bill Gates kritisiert und Aiwanger verteidigt, ist offenbar rechtsextrem (Cicero)
Gestern hat Cicero das bisher geheim gehaltene Gutachten zur AfD öffentlich gemacht. Selbst eine kursorische Lektüre zeigt, dass die vom Verfassungsschutz zusammengetragenen „Beweise“ in erheblichem Umfang fragwürdig sind. Das allerdings hat schon lange Tradition.
VON MATHIAS BRODKORB am 14. Mai 2025 9 min
Der Fall Rolf Gössner ist der wohl größte Geheimdienstskandal der Republik. Insgesamt 38 Jahre lang beobachtete der Verfassungsschutz den linken Menschenrechtsanwalt rechtswidrig. Er hielt Gössner für einen gefährlichen Kommunisten. Als Gössner von der Überwachung Wind bekam, klagte er dagegen und gewann in allen Instanzen – bis hin zum Bundesverwaltungsgericht. Aber das dauerte viele Jahre. Man kann an Gössner gut studieren, wie der Verfassungsschutz arbeitet. Und zwar bis heute.
In einem Aufsatz hatte Gössner für eine Liberalisierung der Drogenpolitik plädiert und für „tiefgreifende politische und ökonomische Veränderungen (…). Wir brauchen einen konsequenten Ausbau demokratischer Strukturen, die Verbesserung von Transparenz und demokratischer Kontrolle in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, sowie eine Stärkung und Absicherung der Bürgerrechte statt deren Aushöhlung."
Der Verfassungsschutz sah darin einen verfassungswidrigen „Aufruf zur Etablierung eines sozialistischen Staats- und Gesellschaftssystems“, weil Gössner sich eindeutig der „Signalwörter der kommunistischen Doktrin“ bedient habe. Es handele sich dabei quasi um einen internen Szene-Code, der von den angesprochenen Extremisten „sofort verstanden“ würde.
Als Beleg verwies der Verfassungsschutz auf das „Kleine Politische Wörterbuch“ der DDR aus dem Jahr 1983. Auch in diesem finde sich die Formulierung „tiefgreifende Veränderung“ – und zwar als Schritt hin zur „sozialistische(n) Revolution“. Weil Gössner ebenso wie die DDR-Autoren von „tiefgreifender Veränderung“ gesprochen hatte, war für den Verfassungsschutz der geheime Verschwörungsplan einer kommunistischen Internationale offengelegt. Es war wie in einem berühmten Film von Monty Python, in dem das Aussprechen des Wortes „Jehova“ zu Schwierigkeiten führen kann.
„Windmühlen der Schande“
Mit diesem Prinzip des Verfassungsschutzbingo arbeitet man im deutschen Inlandsgeheimdienst noch heute – auch in Sachen AfD. Vor Jahren hatte Björn Höcke einmal mit Blick auf das Holocaustmahnmal in Berlin vom „Denkmal der Schande“ gesprochen. Die damals weithin fehlinterpretierte Äußerung galt einem großen Teil der Öffentlichkeit als unumstößlicher Beleg dafür, dass Höcke an der Verharmlosung des Nationalsozialismus arbeite.

Im Betonklotz von Köln, der Zentrale des Bundesamtes für Verfassungsschutz, scheint man eine regelrechte Bingo-Datenbank aufgebaut zu haben, mit der man Äußerungen aus den Reihen der AfD einer Analyse unterziehen kann. Und siehe da: Man würde bei dem Wort „Schande“ fündig.

Vor wenigen Wochen hatte Alice Weidel im Zusammenhang mit einem Wahlkampfauftritt die Errichtung von Windrädern im „Grimmschen Märchenwald“ scharf kritisiert und von den „Windmühlen der Schande“ gesprochen, die man wieder abreißen müsse. So wird es auch im aktuellen AfD-Gutachten ausführlich zitiert. Und dann schlägt die Jehova-Fraktion aus Köln zu.

Weil einst auch Björn Höcke das Wort „Schande“ verwendet hatte, scheint die AfD-Vorsitzende mit Hilfe von Windrädern ebenfalls der Verharmlosung des Nationalsozialismus zuzuarbeiten. Denn: Höcke sei in der Partei nicht nur sehr einflussreich, sondern man habe auch „zahlreiche Belege für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung in seinen Positionierungen“ finden können. Da Weidel „den Sprachgebrauch von Höcke“ übernehme, unterstütze sie wohl dessen Positionen.

Das ist ungefähr das Niveau, auf dem im Gutachten hunderte belanglose Zitate ausgewertet werden. Als ultimativen Beleg hierfür formuliert der VS: „Höcke hatte am 17. Januar 2017 in einer Rede in Dresden (SN) das Holocaust-Mahnmal in Berlin als ,Denkmal der Schande‘ bezeichnet.“ Bingo!

Mit Verschwörungen dem Antisemitismus auf der Spur

Damit die bloße Verwendung des Wortes „Schande“ zu einem Angriff auf die Verfassung werden kann, muss wie schon bei Gössner und im Falle der „tiefgreifenden Veränderung“ ein geheimer „Code“ unterstellt werden, den nur der gerissene Verfassungsschutz entschlüsseln kann. Diese Logik zieht sich durch das ganze Gutachten. Und das Codewort „Code“ muss vor allem dort zum Einsatz kommen, wo die Beweise eher dünn sind.

Wenn man jemanden des Rechtsextremismus überführen will, gehört es in Deutschland zum Einmaleins, ihn auch des Antisemitismus zu bezichtigen, also der rassistisch motivierten Abwertung von Juden. Das Dilemma des Verfassungsschutzes: „Direkt geäußerter und unverstellt zum Hass gegen Jüdinnen und Juden aufstachelnder Antisemitismus ist dabei nicht festzustellen“, und „israelbezogener Antisemitismus“ nur „in einem Fall“. Die Lösung des Problems: Der Begriff des Antisemitismus muss uferlos ausgeweitet und der hinter den harmlos klingenden Äußerungen liegende „Code“ freigelegt werden.

Zum Zwecke der Ausweitung des Begriffs des Antisemitismus behilft sich der Verfassungsschutz mit dem „sekundären Antisemitismus“, den er auch „Erinnerungs-Abwehrantisemitismus“ nennt. Er definiert ihn wie folgt: „Die Erinnerung an die Verfolgung durch die Nationalsozialisten und den Holocaust wird als von Jüdinnen und Juden betriebene Diffamierung der deutschen Identität und als moralische Demütigung verstanden; als Mittel, um ungerechtfertigte Wiedergutmachungszahlungen zu erhalten oder die israelische Politik im Nahen Osten zu legimitieren.“ Daran ist so viel richtig, als von Antisemiten eine Verharmlosung der nationalsozialistischen Verbrechen zu erwarten ist. Das allerdings macht umgekehrt noch nicht jeden Einwand gegen die mehrheitlich in Deutschland praktizierte Erinnerungskultur antisemitisch.

George Soros als Weltschlüssel

Als Entschlüsselungscode für erwiesenen Antisemitismus muss in den Akten des Verfassungsschutzes vor allem ein Name herhalten: George Soros. Der liberale Milliardär jüdischer Herkunft finanziert weltweit NGOs und mitunter auch Medien, darunter das deutsche Recherche-Netzwerk Correctiv. Und Soros spendet sein Geld nicht an beliebige Organisationen und auch nicht zu beliebigen Zwecken. Ihm geht es dabei häufig um Menschenrechte, Demokratie und eine globalisierte Welt. Für viele rechte Akteure ist Soros daher zum Sinnbild des „Globalismus der Eliten“ geworden.

Und weil Soros Jude ist, wird damit in den Augen des Verfassungsschutzes jedes kritische Wort über ihn zum Antisemitismus: „Soros dient (…) als personifizierte Projektionsfläche. Entsprechend genügt bereits eine mehr oder weniger kontextlose Nennung des Namens ‚Soros‘, um – ohne dies direkt aussprechen zu müssen – antisemitische Bilder von omnipotenten Juden aufzurufen (…).“ Er hat schon wieder „Jehova“ gesagt.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Es gibt in der AfD vereinzelt antisemitische Äußerungen. Am 21. August 2023 sagte zum Beispiel ein AfD-Kandidat für die Kommunalwahl in Schleswig-Holstein in einem öffentlich zugänglichen Tweet: „Türken haben Deutschland wieder aufgebaut, Afrikaner wiedervereinigt und eine andere Minderheit, die wir fast ausgerottet haben, regiert dieses Land.“ Aber für diese ziemlich klar antisemitischen Äußerungen braucht man weder den ominösen „sekundären“ Antisemitismus noch geheimnisvolle Codes. Er liegt offen zutage. Aber das ist selten so. Deshalb wird Verfassungsschutzbingo gespielt.

Der implantierte Antisemitismus

Ein sprechendes Beispiel hierfür ist eine Äußerung des umstrittenen AfD-Europa-Abgeordneten Petr Bystron. Dem wird folgende Äußerung zur Last gelegt, wir zitieren das VS-Gutachten vollständig:

„Und sie [Anm.: die Menschen] haben erkannt, dass sie von den Altparteien verraten wurden, für Rüstungskonzerne, für die Pharmaindustrie, eben an die Globalisten. Und sie haben begriffen, dass wir da sind für die Mittelschicht, für die Menschen, die arbeiten und Steuern zahlen, die Familie mit Kindern, die dieses Land tragen, für die Unternehmer, die Arbeitsplätze schaffen und Wohlstand sichern. Und zwar, dass wir kämpfen gegen die Kriegstreiber, die uns in Kriege hetzen wollen. Gegen die Globalisten, die uns zwangsimpfen wollten, die uns enteignen wollen, uns ja im Prinzip versklaven wollen. Und die Menschen haben verstanden, dass wir die Einzigen sind, die den Mut haben, gegen die Schwabs, Gates und Soros dieser Welt anzukämpfen. [....] Aber aus Brüssel kommt das Gift. Dort werden von den Globalisten still und heimlich Vorgaben gemacht, die nachher nur in den nationalen Parlamenten nur noch durchgewunken werden.“

Diese Passage atmet zweifelsfrei verschwörungstheoretischen Geist. Aber ist sie auch antisemitisch? Für den Verfassungsschutz schon. Dieser schreibt:

„Der antisemitische Gehalt der Äußerung kommt hier zuvorderst in der Aufzählung der genannten Personen zum Ausdruck. Obwohl Bill Gates selbst kein Jude ist, wird ihm im Kontext antisemitischer Verschwörungstheorien aufgrund seines scheinbar übermächtigen Einflusses ein ‚Jüdischsein‘ unterstellt.“

Man muss den Vorgang in seine Einzelteile zerlegen, um den darin enthaltenen Irrsinn freizulegen, der selbst an Verschwörungstheorien erinnert. In Wahrheit nimmt Bystron mit keinem Wort auf das Judentum Bezug. Dieser Bezug wird erst durch den Verfassungsschutz in den Text eingebaut, indem er bereits den bloßen Verweis auf den Namen „Soros“ zum Antisemitismus erklärt.

Weil die Aussage Bystrons damit als antisemitisch kontaminiert gilt, werden auch alle andren Aussagen als Ausdruck antisemitischer Absicht interpretiert, selbst die Erwähnung des Nichtjuden Bill Gates. Man sollte es zweimal lesen: „Obwohl Bill Gates selbst kein Jude ist, wird ihm im Kontext antisemitischer Verschwörungstheorien aufgrund seines scheinbar übermächtigen Einflusses ein ‚Jüdischsein‘ unterstellt.“ Der Verfassungsschutz merkt gar nicht mehr, dass er selbst es ist, der Gates zum Juden wider Willen erklärt, um diese Unterstellung anschließend Bystron in die Schuhe zu schieben.

Die Aiwanger-Pointe

Und es geht noch kurioser. Der Nachweis des Antisemitismus des Herrn Björn Höcke geht nämlich so: Zur Last gelegt wird ihm ein Facebook-Post, in dem er sich über das vom Bayerischen Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger als Schüler mitgeführte antisemitische Flugblatt äußert. In dem Post Höckes heißt es, das Flugblatt sei ein „geschmackloser und morbider Schülerscherz“ gewesen. Er triefe nur so vor „pubertären Allmachtsfantasien“. Die Sache sei „primitiv und dumm“ gewesen und eine „klassische Jugendsünde“. Aber es sei wohl davon auszugehen, dass Aiwanger sich nunmehr „sittlich weiterentwickelt“ habe.

Man würde Höckes Statement ja nahezu als Gegenteil eines antisemitischen Vorfalls interpretieren müssen. Aber nicht so der Verfassungsschutz, der mit seinen geheimnisvollen „Codes und Chiffren“ die antisemitischen Tiefenschichten freilegen kann: Mit der Bezeichnung als „Jugendsünde“ verharmlose Höcke „auch den grundsätzlich gegen die Menschenwürde gerichteten Antisemitismus“. Auch Anti-Antisemitismus ist Antisemitismus.

Es sei noch einmal betont: In dem Gutachten befinden sich natürlich auch Aussagen, die verfassungsfeindlich, mindestens aber geschmacklos sind. Nach kursorischer Lektüre bewegen sich rund 20 Prozent aller zitierten Aussagen in einem Umfeld, bei dem die Frage nach der Verfassungsfeindlichkeit zumindest nicht an den Haaren herbeigezogen ist.

Aber in den 80 Prozent anderen Fällen bietet der Verfassungsschutz ein intellektuell beklagenswertes Bild, das selbst an Verschwörungstheorien erinnert. Wenn diese Behörde unseren Rechtsstaat und unsere Demokratie schützen soll, dann Prost Mahlzeit Meinungsfreiheit!

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen