09 Mai 2025

Debattenkultur - Was nicht ins eigene Weltbild passt, heißt „Desinformation“ (WELT+)

"Wahrheit entsteht einzig und allein aus dem freien, oft auch schmerzhaften Diskurs unterschiedlicher Meinungen – ganz egal, ob diese Meinungen uns gefallen oder nicht". 
Debattenkultur
Was nicht ins eigene Weltbild passt, heißt „Desinformation“ (WELT+)
Von Jakob Schirrmacher 09.05.2025, 5 Minuten
Ist „Desinformation“ die größte Gefahr, die es für Demokratien gibt? Oder wird das Schlagwort inzwischen einfach gern benutzt, um Perspektiven gegen den Konsens mies zu machen? Warum sich die Wahrheit nicht dekretieren lässt.
„Desinformiere dich!“ klingt im ersten Augenblick wie der düstere Imperativ eines Orwell’schen Alptraums. Doch haben Sie nicht selbst schon einmal den Gedanken gehabt, dass jene, die lautstark „Desinformation!“ rufen, unter Umständen dem gleichen Mechanismus verfallen, den sie zu bekämpfen vorgeben?
Blicken wir kurz zurück: Seit wenigen Jahren hat sich der Begriff „Desinformation“ wie ein Lauffeuer in Talkshows, Feuilletons, Fachzeitschriften und Twitter-Tiraden ausgebreitet. Auf Podien, in Universitätsseminaren und in unzähligen Artikeln entstand ein merkwürdiger Konsens: „Desinformation“ sei eine der größten Gefahren, die die Demokratie je gesehen habe. Kein Wunder, möchte man meinen, angesichts digitaler Echokammern, manipulativer Algorithmen und einer globalen Pandemie, die uns mehr Gerüchte als Gewissheiten beschert hatte. Doch dieser Diskurs hob selten die zweite Seite der Medaille hervor: Wer entscheidet, was „Desinformation“ ist? Wer vergibt in diesem sprachlichen Schachspiel die Rollen von Schwarz und Weiß? Wer entscheidet, was falsch oder wahr ist, erlaubt oder verboten?
Wie wir wissen: Die ersten Opfer in jedem ideologischen Kreuzzug sind stets die Nuancen, die Differenzierungen. Wo ein Narrativ festgelegt wird – „falsch“ hier, „richtig“ dort – verengt sich der öffentliche Raum, statt eines zivilisierten Mit-Denkers entsteht nur noch ein bedrohliches Zerrbild, das es zu bekämpfen gilt.
Lassen Sie mich also provokant formulieren: Die wahre Bedrohung könnte weniger in der „Desinformation“ selbst liegen, als vielmehr in einer Debattenkultur, die sich in den Anklagegestus flüchtet, anstatt Argumente auszutauschen. Von der Sorge um das Gemeinwohl ist es nur noch ein kleiner Schritt zur rigiden Kontrolle, die „falsche“ Botschaften aussortiert.

Ein Beispiel dafür wäre die Corona-Pandemie. Plötzlich legen Staaten und Konzerne Raster fest, um den Informationsfluss zu regeln, und unter dem Banner des digitalen Gesundheitsschutzes wird im Hintergrund ein engmaschiges Netz geknüpft, das zuweilen selbst sachliche Kritik oder unliebsame Fragen als „irreführend“ unter Verdacht stellt.

Wer jetzt entgegnet, wir lebten doch in einer offenen, liberalen Demokratie, dem möchte ich sagen: Genau diese Errungenschaft macht die Situation so paradox. Das Schutzbedürfnis unserer Demokratie vor Lügen und Propaganda ist aufrichtig und berechtigt – doch das verschafft dem Schlagwort „Desinformation“ eine noch größere Macht. Mit jedem neuen Gesetz zur Bekämpfung vermeintlicher Falschmeldungen wächst die Versuchung, die Schranken unseres Diskursraums enger zu ziehen. Steht am Ende ein völlig zergliederter Raum, in dem wir nur noch gefilterte, standardisierte und streng geprüfte Inhalte wahrnehmen dürfen? Müssen wir uns demnächst digital ausweisen, um unsere Ansichten in der Öffentlichkeit zu äußern, nur damit gewährleistet ist, dass wir keine „Unwahrheiten“ verbreiten?

Diese Fragen sind nicht bloß pessimistische Zukunftsfantasien, sondern finden bereits heute ihre Entsprechung. Regierungen weltweit verabschieden in rascher Folge Gesetze, die Desinformation ahnden sollen, während Plattformen im digitalen Raum ihre Richtlinien verschärfen und ganze Konten sperren. Natürlich wollen wir keine giftigen Lügen in Dauerschleife hören. Aber was, wenn sich selbst felsenfeste Überzeugungen als anfällig für später widerlegte „Wahrheiten“ erweisen? Was, wenn künftige Ereignisse neue Erkenntnisse bringen, die frühere Standpunkte relativieren? Unsere Informationsgeschichte ist reich an Beispielen, in denen konsensfähiges „Wissen“ innerhalb weniger Jahre zur Makulatur wurde.

Schurken und Helden der Wahrheit

Erschwerend kommt hinzu, dass wir es nicht allein mit politischen und medialen Akteuren zu tun haben, sondern auch mit unbewussten Dynamiken, die uns in die Irre führen können. Psychologische Verzerrungen, kollektive Denkmuster und die allseits bekannten Filterblasen verleiten uns, nur jene Informationen aufzunehmen, die unser Weltbild bestätigen. So wird aus einer offenen Gesellschaft, die pluralistisch sein will, eine Ansammlung von Teilöffentlichkeiten, in denen man sich wechselseitig zum Helden oder Schurken erklärt. Die entstehende Kakofonie taugt bestenfalls als Steilvorlage für all jene, die nach schnellen Lösungen und vermeintlicher Klarheit rufen.

Doch was bedeutet „Desinformation“? Ist es schon eine Desinformation, wenn jemand eine Meinung äußert, die dem Mehrheitskonsens widerspricht? Ist es eine Desinformation, wenn Forschungsergebnisse sich später als unvollständig erweisen, weil sich die Datenlage geändert hat? Und noch fundamentaler: Wer definiert diese Grenze? An welcher Stelle hören unliebsame Ansichten auf, bloß unbequem zu sein, und werden zu gefährlichen Falschbehauptungen? Dieser Streit um Definitionen ist nicht neu. Er findet sich in der Philosophie ebenso wie in der Medienwissenschaft, und er mündet bisweilen in Erkenntnistheorien, die betonen, wie fragil unser Verhältnis zur Wahrheit schon seit Jahrtausenden ist.

Wer in die Geschichte schaut, wird feststellen: Die Praxis, Gegnern die Verbreitung von „Desinformation“ vorzuwerfen, ist so alt wie die Politik selbst. Man denke an die Schriften der Antike, in denen sorgfältig konstruierte Trugschlüsse und Gerüchte ganze Kriege befeuerten.

Nein, diese Streitschrift will nicht naiv behaupten, dass alle Informationen gleichwertig sind. Sie will jedoch die Widersprüche aufdecken, die in den gegenwärtigen Debatten nur allzu gern unter den Teppich gekehrt werden. Während wir uns in Europa bisweilen auf die Schulter klopfen, weil wir vermeintlich im Besitz der „objektiven“ Erkenntnis sind, lohnt ein Blick über den Tellerrand: Andere Teile der Welt ziehen ganz andere Grenzen, was sie als „Desinformation“ klassifizieren. Wenn wir so weitermachen, dass jede Regierung, jeder Konzern, jede Akademie eine eigene Definition des Begriffs ausgibt, laufen wir in eine globale Fragmentierung, in der jeder jeden des Lügens bezichtigt – und die eigentliche Debatte über Inhalte und Werte vollständig untergeht.

Es ist an der Zeit, diesen staatlichen Wahrheitsanspruch zu hinterfragen und klarzustellen, dass die Wahrheit sich nicht verbieten, nicht dekretieren lässt. Sie entsteht einzig und allein aus dem freien, oft auch schmerzhaften Diskurs unterschiedlicher Meinungen – ganz egal, ob diese Meinungen uns gefallen oder nicht. Denn Demokratie lebt vom Streit, nicht von Dekreten, vom Zweifel, nicht von Gewissheiten. Wer Wahrheit per Gesetz definieren will, bekämpft letztlich nicht die Lüge, sondern die Demokratie selbst. Eine offene Gesellschaft muss Meinungen, die unangenehm oder falsch erscheinen, aushalten, solange sie nicht strafbaren Tatbeständen wie Volksverhetzung unterliegen. Gerade in Krisensituationen braucht es eine möglichst offene Debatte, um politische Fehler und Fehleinschätzungen zu korrigieren. Ein Klima, in dem schnell das Etikett „Desinformation“ vergeben wird, bedroht genau diesen Korrekturmechanismus.

Jakob Schirrmacher ist Dozent für Medienbildung, Digitalisierung und Sozialstrukturwandel. Der voranstehende Text ist ein Auszug aus seinem soeben erschienenen Buch „Desinformiere dich! Eine Streitschrift“ (164 Seiten, 17,95 Euro). Erhältlich bei Amazon.

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