Unter dem Jackett nichts als Knochen, der alte Mann war nur noch ein Skelett (WELT+)
Am Abend des 7. März 2024 hielt Joe Biden seine traditionelle Ansprache zur Lage der Nation vor dem amerikanischen Kongress. Es war eine der besten Reden, die der Schreiber dieser Zeilen je gehört hat. Biden begann (was für amerikanische Verhältnisse ungewöhnlich ist) mit der Außenpolitik: der Ukraine, Israel, der Nato, Amerikas Verpflichtungen gegenüber seinen Verbündeten, der Hoffnung auf eine Zweistaatenlösung im Nahen Osten; der Präsident sprach mit Verve über die Werte einer multiethnischen Demokratie, eines sozial abgefederten Kapitalismus.
Es war eine Rede voller Feuer und Vernunft: Joe Biden, kein großer Redner vor dem Herrn, war schlagfertig, witzig, er improvisierte. In den Wochen davor hatte es Gerüchte gegeben; beunruhigende Gerüchte. Biden sei nicht mehr er selbst, hieß es, er sei kaum noch imstande, seinen schwierigen Beruf auszuüben. Diese Rede schien alle bösen Gerüchte zu widerlegen. Joe Biden, so konnte man nach diesem Auftritt denken, war immer noch da und ganz er selbst – ein alter Mann, gewiss, hauptsächlich aber, nach Jahrzehnten in der Politik, ein alter Fuchs.
Ab 2023 war Bidens Verfall dramatisch
Es
war nicht von Anfang an so, schreiben die beiden Journalisten. Der
Biden des Jahres 2020 war zwar schon deutlich geschwächt, aber der
kognitive Verfall, der circa 2023 einsetzte, war dramatisch. Er
verschlimmerte sich noch einmal, als sein Sohn Hunter Biden von einem
amerikanischen Gericht wegen Steuerhinterziehung und illegalem Waffenbesitz verurteilt
wurde; dieser Schuldspruch brach Biden psychisch wohl das Genick. Und
immer noch versuchten seine Vertrauten, den Verfall des Mannes zu
verbergen – und logen. Belogen die Öffentlichkeit, die Demokraten – und
vor allem sich selbst.
Auf die Frage, wie es überhaupt so weit kommen konnte, gibt es verschiedene Antworten. Biden war schon immer dafür berühmt gewesen, dass ihm bei öffentlichen Reden oft alle Pferde davon galoppierten und er zügellos von einer Anekdote zur anderen schwankte; außerdem hatte er als Kind schwer gestottert und gelernt, sein Stottern durch hastiges Sprechen zu kompensieren. Vielleicht waren seine Aussetzer nur ein weiterer Ausdruck dessen, was Leute, die ihn kannten, liebevoll „the Bidenness“ („Bidenheit“) nannten?
Biden hatte immer wieder lichte Momente, bei Wahlkampfveranstaltungen. Doch nach ihnen kam, auch das zeigen die beiden Journalisten, unweigerlich der Absturz, das Zusammenklappen hinter den Kulissen. Der grelle Einbruch der Realität in die Illusion war die Fernsehdebatte mit Donald Trump, der den alten Demokraten vorführte und über ihn hinwegrollte wie ein russischer Kampfpanzer.
Dass Biden nach jenem katastrophalen Auftritt nicht auf die flehentlichen Bitten mancher Parteifreunde hörte, eine mehrstündige Pressekonferenz zu veranstalten – eine Pressekonferenz, bei der er sich ohne Vorbereitungen den Fragen von Journalisten hätte stellen müssen –, lag ganz einfach daran, dass er nicht mehr die Kraft hatte. Nach seiner Ansprache zur Lage der Nation legte ihm ein Kollege die Hand auf die Schulter; er spürte, so beschreiben es die Journalisten in „Original Sin“, unter dem Jackett nichts als Knochen. Der alte Mann war nur noch ein Skelett.
Ein sinkendes Schiff und keine Werft in Sicht
Dass
Kamala Harris die Wahl verlor, hat laut Tapper und Thompson vor allem
einen Grund: Sie übernahm das Kommando über ein Schiff, das längst im
Sinken begriffen war. Und Zeit, eine Werft anzusteuern und die nötigen
Reparaturen durchzuführen, gab es nicht mehr. Wenn Kamala Harris eine
realistische Chance hatte, so lag sie darin: Sie hätte sich sofort und
aggressiv gegen Joe Biden wenden müssen. Aber wie hätte sie dann
ausgesehen? Wie eine Opportunistin. Und was hätte sie auf die Frage
antworten sollen, ob sie in ihrer Zeit als Vizepräsidentin Bidens
Politik nicht mitgetragen habe?
Es fällt schwer, das Buch von Jake Tapper und Alex Thompson dieser Tage zu lesen. Vor kurzem hat Biden die Diagnose erhalten, dass er an einem bösartigen Prostatakrebs leidet, der schon gestreut hat und in die Knochen eingedrungen ist. Der Befund muss dem Betrachter wie eine Metapher für den Zustand der amerikanischen Demokratie vorkommen: auch deshalb, weil die Regierung Trump soeben die Mittel, die vom Kongress für die Krebsforschung bereitgestellt worden waren, zusammengekürzt hat.
Am Ende bleibt die Tragödie eines
Mannes, der mehrmals entsetzlich vom Schicksal geschlagen wurde – seine
kleine Tochter und seine erste Frau starben bei einem Autounfall, sein
Sohn erlag später einem Hirntumor –, eines Präsidenten, der in einer
existenziellen Krise versuchte, sein Land vor einem Demagogen zu retten.
Aber am Ende wurde ihm die Last zu schwer. Und einen anderen, der sie
ihm von den Schultern hätte nehmen können, gab es nicht.
Jake Tapper, Alex Thompson: „Original Sin“. Penguin, 332 S., ca. 22 Euro.
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