21 Mai 2025

Biden-Enthüllungen Unter dem Jackett nichts als Knochen, der alte Mann war nur noch ein Skelett (WELT+)

Biden-Enthüllungen

Unter dem Jackett nichts als Knochen, der alte Mann war nur noch ein Skelett (WELT+)
Von Hannes SteinFreier Korrespondent, 21.05.2025, 5 Minuten
Sein Gedächtnis versagte, das „Politbüro“, das Amerika in Wahrheit regierte, dachte heimlich über einen Rollstuhl nach: Was das neue Buch „Original Sin“ über Joes Bidens dramatischen Verfall im Amt enthüllt.
Am Abend des 7. März 2024 hielt Joe Biden seine traditionelle Ansprache zur Lage der Nation vor dem amerikanischen Kongress. Es war eine der besten Reden, die der Schreiber dieser Zeilen je gehört hat. Biden begann (was für amerikanische Verhältnisse ungewöhnlich ist) mit der Außenpolitik: der Ukraine, Israel, der Nato, Amerikas Verpflichtungen gegenüber seinen Verbündeten, der Hoffnung auf eine Zweistaatenlösung im Nahen Osten; der Präsident sprach mit Verve über die Werte einer multiethnischen Demokratie, eines sozial abgefederten Kapitalismus.
Es war eine Rede voller Feuer und Vernunft: Joe Biden, kein großer Redner vor dem Herrn, war schlagfertig, witzig, er improvisierte. In den Wochen davor hatte es Gerüchte gegeben; beunruhigende Gerüchte. Biden sei nicht mehr er selbst, hieß es, er sei kaum noch imstande, seinen schwierigen Beruf auszuüben. Diese Rede schien alle bösen Gerüchte zu widerlegen. Joe Biden, so konnte man nach diesem Auftritt denken, war immer noch da und ganz er selbst – ein alter Mann, gewiss, hauptsächlich aber, nach Jahrzehnten in der Politik, ein alter Fuchs.
Dieser Eindruck war falsch, wie jetzt in einem Buch zu lesen ist, das das politische Amerika erschüttert. Es heißt „Original Sin“ („Erbsünde“) und stammt von Jake Tapper, einem der populärsten Moderatoren des Nachrichtensenders CNN, der Bidens politische Karriere seit Jahrzehnten begleitet, und Alex Thompson, einem Politikredakteur der Website „Axios“.
Die beiden Journalisten decken auf, was bisher in dieser Detailfülle und Drastik nicht bekannt war: dass Biden nur noch dann funktionierte, wenn er ausgeschlafen war, und dann etwa von 10 Uhr vormittags bis 16 Uhr; an Abenden schien er nicht mehr ansprechbar. Er erinnerte sich nicht an Namen von engen Mitarbeitern (seinen nationalen Sicherheitsberater Jake Sullivan nannte er „Steve“). Er wiederholte Anekdoten, die er schon Minuten vorher erzählt hatte. Er sprach so leise, dass ihn kein Mensch verstand.
Kabinettssitzungen wurden zur Qual, die Biden nur durchstand, wenn vorher auf einen Zettel stand, was er sagen würde. Gehen wurde immer mühsamer für ihn; am Ende dachten seine Mitarbeiter darüber nach, ihn heimlich mit einem Rollstuhl zu transportieren. All dies war einem engen Kreis von Vertrauten – Mike Donilon, Steve Ricchetti, Bruce Reed, Anita Dunn, Bob Bauer – bekannt, die, aus Angst vor einem Wahlsieg Trumps, alles taten, um die Realität vor der amerikanischen Öffentlichkeit geheim zuhalten. Von anderen wurden die fünf spöttisch „das Politbüro“ genannt; in Wahrheit, schreiben Tapper und Thompson, waren sie es, die Amerika regierten, Biden war nur ein Mitglied ihres Kreises und nicht das wichtigste.

Ab 2023 war Bidens Verfall dramatisch

Es war nicht von Anfang an so, schreiben die beiden Journalisten. Der Biden des Jahres 2020 war zwar schon deutlich geschwächt, aber der kognitive Verfall, der circa 2023 einsetzte, war dramatisch. Er verschlimmerte sich noch einmal, als sein Sohn Hunter Biden von einem amerikanischen Gericht wegen Steuerhinterziehung und illegalem Waffenbesitz verurteilt wurde; dieser Schuldspruch brach Biden psychisch wohl das Genick. Und immer noch versuchten seine Vertrauten, den Verfall des Mannes zu verbergen – und logen. Belogen die Öffentlichkeit, die Demokraten – und vor allem sich selbst.

Auf die Frage, wie es überhaupt so weit kommen konnte, gibt es verschiedene Antworten. Biden war schon immer dafür berühmt gewesen, dass ihm bei öffentlichen Reden oft alle Pferde davon galoppierten und er zügellos von einer Anekdote zur anderen schwankte; außerdem hatte er als Kind schwer gestottert und gelernt, sein Stottern durch hastiges Sprechen zu kompensieren. Vielleicht waren seine Aussetzer nur ein weiterer Ausdruck dessen, was Leute, die ihn kannten, liebevoll „the Bidenness“ („Bidenheit“) nannten?

Biden hatte immer wieder lichte Momente, bei Wahlkampfveranstaltungen. Doch nach ihnen kam, auch das zeigen die beiden Journalisten, unweigerlich der Absturz, das Zusammenklappen hinter den Kulissen. Der grelle Einbruch der Realität in die Illusion war die Fernsehdebatte mit Donald Trump, der den alten Demokraten vorführte und über ihn hinwegrollte wie ein russischer Kampfpanzer.

Dass Biden nach jenem katastrophalen Auftritt nicht auf die flehentlichen Bitten mancher Parteifreunde hörte, eine mehrstündige Pressekonferenz zu veranstalten – eine Pressekonferenz, bei der er sich ohne Vorbereitungen den Fragen von Journalisten hätte stellen müssen –, lag ganz einfach daran, dass er nicht mehr die Kraft hatte. Nach seiner Ansprache zur Lage der Nation legte ihm ein Kollege die Hand auf die Schulter; er spürte, so beschreiben es die Journalisten in „Original Sin“, unter dem Jackett nichts als Knochen. Der alte Mann war nur noch ein Skelett.

Ein sinkendes Schiff und keine Werft in Sicht

Dass Kamala Harris die Wahl verlor, hat laut Tapper und Thompson vor allem einen Grund: Sie übernahm das Kommando über ein Schiff, das längst im Sinken begriffen war. Und Zeit, eine Werft anzusteuern und die nötigen Reparaturen durchzuführen, gab es nicht mehr. Wenn Kamala Harris eine realistische Chance hatte, so lag sie darin: Sie hätte sich sofort und aggressiv gegen Joe Biden wenden müssen. Aber wie hätte sie dann ausgesehen? Wie eine Opportunistin. Und was hätte sie auf die Frage antworten sollen, ob sie in ihrer Zeit als Vizepräsidentin Bidens Politik nicht mitgetragen habe?

Es fällt schwer, das Buch von Jake Tapper und Alex Thompson dieser Tage zu lesen. Vor kurzem hat Biden die Diagnose erhalten, dass er an einem bösartigen Prostatakrebs leidet, der schon gestreut hat und in die Knochen eingedrungen ist. Der Befund muss dem Betrachter wie eine Metapher für den Zustand der amerikanischen Demokratie vorkommen: auch deshalb, weil die Regierung Trump soeben die Mittel, die vom Kongress für die Krebsforschung bereitgestellt worden waren, zusammengekürzt hat.

Am Ende bleibt die Tragödie eines Mannes, der mehrmals entsetzlich vom Schicksal geschlagen wurde – seine kleine Tochter und seine erste Frau starben bei einem Autounfall, sein Sohn erlag später einem Hirntumor –, eines Präsidenten, der in einer existenziellen Krise versuchte, sein Land vor einem Demagogen zu retten. Aber am Ende wurde ihm die Last zu schwer. Und einen anderen, der sie ihm von den Schultern hätte nehmen können, gab es nicht.
Jake Tapper, Alex Thompson: „Original Sin“. Penguin, 332 S., ca. 22 Euro.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen