09 Mai 2025

Der andere Blick - Rußland ist wieder eine Großmacht. (NZZ)

Die Nato muss sich entscheiden:
Wenn sie Putin nicht bezwingen kann, ist es Zeit für eine Verständigung (NZZ)
Putin hat mit dem Krieg Fakten geschaffen. Russland ist wieder eine Großmacht. Der Westen sollte das anerkennen.
Eric Gujer, 09.05.2025, 5 Min.
Ein neuer kalter Krieg hat sich auf Europa herabgesenkt. Offene, gerade noch bis an die Grenze des Naiven liberale Gesellschaften entdecken das Freund-Feind-Denken wieder. Die Rüstungsausgaben schiessen in die Höhe, als liesse sich das Geld nicht besser verwenden.
Zum ersten Mal seit 1945 stellt ein Land in einem zwischenstaatlichen Krieg die europäische Nachkriegsordnung infrage. Russland zieht mit Waffengewalt die Grenzen neu. Das verlangt nach einer Antwort, und so dreht sich die Spirale der Konfrontation weiter.
Dennoch hat Russland ein Kriegsziel bereits erreicht. Seit 1990 kannte die Nato nur eine Richtung: ostwärts. Erst traten die osteuropäischen Satellitenstaaten und die früheren Sowjetrepubliken im Baltikum bei, dann schien eine Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens denkbar.
Der Westen nannte es einen Sieg der Freiheit, für Moskau sah es verdächtig nach Hegemoniestreben aus. Diese Entwicklung wurde mit dem Krieg definitiv gestoppt.
Warum Washington die Sicherheitsinteressen Moskaus ignorierte
Heute fragt sich die Nato bang, wann Russland angreifen könnte – in fünf Jahren oder schon in drei? In der Zwischenzeit hält Moskau den Druck auf Westeuropa hoch: Sabotageakte, Brandstiftungen, Cyberangriffe. Russland ist in der Offensive.
Die Nato hat das Heft des Handelns aus der Hand gegeben. Sie muss froh sein, wenn sie die Präsidentschaft Trumps intakt übersteht. Dass die neue US-Regierung ein Rohstoffabkommen mit Kiew abgeschlossen hat und erstmals wieder Rüstungsgüter liefert, gilt schon als Hoffnungszeichen.
Putin zählt die Toten nicht, und das Leid lässt ihn kalt. Er kann den Krieg daher schon jetzt als Erfolg verbuchen. Ob die russischen Truppen noch ein paar Kilometer westwärts vordringen, ob sich Moskau die Krim und andere besetzte Gebiete de iure oder nur de facto einverleiben kann, ist sekundär. Das strategisch entscheidende Faktum ist die Rückkehr Russlands in den Kreis der Grossmächte.

Putin hat unmissverständlich klargemacht, dass Russland wieder ein Hauptakteur in Europa ist. Das Land nimmt erneut den Platz ein, den es auf dem Schlachtfeld von Poltawa vor 300 Jahren mit Blut und Eisen erkämpft hat.

Dreimal war Russland im letzten Jahrhundert dem Zusammenbruch nahe: 1917, 1941 und 1991. Jedes Mal eroberte es seine Stellung in Europa zurück. Seine Grösse, seine Bevölkerungszahl und seine Ressourcen, ferner die Atomwaffen versetzen das Land in die Lage, über das Schicksal des Kontinents mitzuentscheiden.

Wenn Russland eine politische und militärische Schwächephase durchleidet wie letztmals nach dem Kollaps der Sowjetunion, ist diese nur temporär. Diese Lektion hat der Westen nach dem Fall der Berliner Mauer ignoriert. Er erlebt jetzt die Rückkehr der Geschichte.

«Zum Teufel damit», rief Präsident George Bush senior aus, als er sich mit der Frage konfrontiert sah, ob Amerika Moskau an der Gestaltung der europäischen Ordnung nach dem Kalten Krieg als halbwegs gleichberechtigten Partner beteiligen sollte.

Washington stand vor einem Dilemma. Die Sicherheitsinteressen der osteuropäischen Staaten und jene Russlands widersprachen sich diametral. Polen, Ungarn und Tschechien drängten auf den Beitritt. Nach der sowjetischen Unterdrückung besassen sie jedes moralische und politische Recht auf Selbstbestimmung.

Moskau hingegen versuchte, schon die Ausdehnung der Nato auf das Gebiet der ehemaligen DDR zu verhindern – von Osteuropa ganz zu schweigen. Es benötigte jedoch westliche Finanzhilfe und gab daher widerwillig nach.

Michail Gorbatschow stimmte im Zwei-plus-vier-Vertrag der Zugehörigkeit von ganz Deutschland zur Allianz zu, was ihm Helmut Kohl mit 12 Milliarden Mark und günstigen Krediten versüsste. Aber es war klar, dass sich Moskau nie mit der Vergrösserung des Bündnisses abfinden würde.

Amerika setzte alles auf die osteuropäische Karte. So erklärte die US-Aussenministerin Madeleine Albright kühl: «Wir benötigen die Zustimmung Russlands zur Erweiterung nicht.» Das war insofern plausibel, als die Nato-Mitgliedschaft Stabilität in einen notorisch instabilen Raum brachte. Die ehedem von Moskau und Berlin bedrängten Mittelstaaten entwickelten sich zu prosperierenden Demokratien.

Was damals richtig war, muss aber heute nicht mehr zweckmässig sein. Die Lage hat sich in drei Dekaden grundlegend verändert. Russland ist wieder ein Machtfaktor, den man nicht mit einigen Milliarden abspeisen kann. Und es ist zugleich ein Schurkenstaat und Aggressor.

Die Nato steht heute vor einer Weichenstellung wie Anfang der neunziger Jahre. Sie muss sich entscheiden, ob sie den Schurkenstaat mit allen Mitteln eindämmt oder ob sie Russland als Grossmacht akzeptiert und in eine europäische Sicherheitsordnung einzubinden versucht.

Trumps Motive bei den Ukraine-Gespräche blieben zwielichtig

Konfrontation oder Kooperation: Aus dieser Grundentscheidung ergibt sich auch, in welcher Weise der Westen die Ukraine künftig unterstützt. Nach der Invasion eilten die USA wie die Europäer Kiew zu Hilfe; das geboten Eigeninteresse und Gerechtigkeitsempfinden. Aber die Unterstützung war nie vorbehaltlos.

Der Westen liess sich immer ein Hintertürchen offen. Ein Nato-Beitritt stand schon vor Donald Trump nicht zur Debatte, die Waffenlieferungen überstiegen nie ein gewisses Mass. Die Atommacht Russland sollte nicht provoziert werden.

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