25 Mai 2025

Der Fall Durov - Die sanfte Zensur in Europa (WELT+)

Der Fall Durov

Die sanfte Zensur in Europa (WELT+)
Von Jakob Schirrmacher, 24.05.2025, Lesedauer: 5 Minuten
Hat Frankreichs Geheimdienst vor der Wahl in Rumänien versucht, „konservative Stimmen zum Schweigen zu bringen“? Die Vorwürfe, die Telegram-Gründer Pavel Durov erhebt, wiegen schwer. Nun werden sie durch einen rumänischen Journalisten gestützt.
Ein Vorfall könnte einen langen Schatten auf das politische Selbstverständnis Europas werfen. Sollte zutreffen, was Telegram-Gründer Pavel Durov öffentlich behauptet, sehen wir uns mit einem Vorgang konfrontiert, der die Integrität unserer demokratischen Kultur infrage stellt. Demnach soll Nicolas Lerner, Direktor des französischen Auslandsgeheimdienstes DGSE, kurz vor der rumänischen Präsidentschaftsstichwahl am 18. Mai 2025 versucht haben, direkten Einfluss auf die Inhalte von Telegram zu nehmen – mit der Forderung, „konservative Stimmen in Rumänien zum Schweigen zu bringen“ und rechte Kanäle zu sperren. Der Vorwand: die Bekämpfung von Desinformation.
Durov verweigerte den Zugriff, berief sich auf die Meinungsfreiheit – und entblößte damit das, was sich zunehmend als strukturelles Machtgefüge abzeichnet: eine neue, hybride Form politischer Kontrolle, in der Geheimdienste, supranationale Institutionen und Plattformbetreiber ein informelles Regime der Zensur etablieren. Der französische Staat, flankiert vom Außenministerium, bestreitet die Vorwürfe energisch. Man habe sich lediglich über Inhalte mit Terrorbezug oder Kinderpornografie beklagt, nicht über Politik. Doch der Kontext macht diese Verteidigung fragil. Denn die Wahl in Rumänien war keine gewöhnliche: Sie war ein Stellvertreterkrieg auf dem Feld der Narrative. Nicușor Dan, pro-europäisch, westlich, systemkonform. George Simion, rechts, EU-skeptisch, unberechenbar. Die Wahl war kein bloßer Urnengang – sie war ein Testfall geopolitischer Loyalität.
Und Telegram? Die Plattform wurde zur Bühne dieser Machtfrage erklärt. Rumäniens Regierung, Frankreich und die EU verweisen auf russische Einflussoperationen. Doch hier liegt der epistemische Kurzschluss: Der bloße Verdacht russischer Manipulation wird allzu oft zur Legitimationgrundlage für präventive Eingriffe erklärt, auch gegen legitime Stimmen. Der Generalverdacht ersetzt die Differenzierung. Und der Begriff der Desinformation wird zum Gummiparagrafen, mit dem politische Abweichung zum sicherheitspolitischen Risiko umdeklariert wird.
Man muss die Chronologie betrachten. Bereits die erste Wahlrunde im November 2024 wurde annulliert – wegen russischer Desinformationskampagnen. Das war beispiellos. Und es lieferte den Präzedenzfall, auf den sich nun alle stützen, um auch im Mai 2025 jede digitale Abweichung als potenzielle Bedrohung zu markieren. Tatsächlich stützt ein Bericht des rumänischen Journalisten Marius Tuca die Darstellung von Durov: Demnach hat der französische Geheimdienstchef Lerner in Rumänien nur zwei Tage nach der Wahl besucht. Der Wahlsieg von Dan mit 53,6 Prozent der Stimmen wurde gefeiert als Sieg Europas. Doch was, wenn es zugleich ein Sieg der Informationskontrolle war?

Demokratien definieren sich nicht nur über freie Wahlen, sondern über offene Diskurse. Wenn aber die Verteidigung der Demokratie darin besteht, algorithmisch bestimmte Inhalte zu unterdrücken oder Plattformbetreiber unter Druck zu setzen – dann wird Demokratie zur Simulation ihrer selbst. Die Totalität entsteht nicht mehr durch Verbot, sondern durch Erwartung. Wenn Durov die Wahrheit sagt, dann wurde er nicht gezwungen – sondern um Kooperation gebeten. Sanft. Indirekt. Und genau das macht es so gefährlich.

Es ist die sanfte Zensur, die aus Demokratien Hybridsysteme macht. Regierungen nutzen nicht mehr das Instrument des Gesetzes, sondern die implizite Drohung: Kooperation oder Kontrolle. Wer nicht spurt, wird öffentlich angezählt – wie Elon Musk, wie Durov, wie jede Plattform, die nicht rechtzeitig „freiwillig“ moderiert. So entsteht ein Klima der Präemption, des Zuvorkommens. Es wird gelöscht, bevor es eskaliert. Es wird gesperrt, bevor es viral geht. Und es wird reguliert, bevor sich jemand beschwert. Das ist nicht Freiheit – das ist ihr kodifizierter Schatten.

Man darf dabei nicht naiv sein: Durov ist keine Lichtgestalt. Gegen ihn laufen Verfahren in Frankreich und der Schweiz. Sein Interesse an öffentlicher Gegenoffensive ist evident. Doch Wahrheit ist nicht eigentumsfähig. Auch ein Angeklagter kann Recht haben. Und der Umstand, dass Frankreich ihn 2024 festnahm, ihm eine Kaution auferlegte und erst im März 2025 zurück nach Dubai entließ, macht deutlich: Die Beziehungen waren bereits vor dem Wahltag zerrüttet.

Dass Frankreich nun beteuert, Durov nie zur Wahlbeeinflussung gedrängt zu haben, ist wenig überraschend. Doch ein Dementi ist kein Beweis. Und der Reflex, jede Kritik als „russische Propaganda“ zu diffamieren, ist selbst eine Form der Desinformation. Wenn alles, was nicht auf Linie ist, aus Moskau kommt, dann ist der Diskurs bereits verloren.

Das Wahrheitsregime

Die entscheidende Frage lautet daher: Wie weit darf der Staat im Namen der Desinformationsbekämpfung gehen, ohne selbst zum Produzenten manipulativer Wahrheitsregime zu werden?

Der Digital Services Act (DSA) der EU, der digitalen Plattformen die Verantwortung für die Eindämmung sogenannter „systemischer Risiken“ – etwa Desinformation – überträgt und ihnen bei Versäumnis Sanktionen in Millionenhöhe androht; die millionenschweren Bußgeldbescheide gegen Telegram in Deutschland wegen angeblicher Verstöße gegen das Netzwerkdurchsetzungsgesetz; Macrons öffentliche Überlegung im Sommer 2023, soziale Netzwerke im Falle innerer Unruhen vorübergehend abschalten zu lassen; sowie die im deutschen Koalitionsvertrag verankerte Idee, die bewusste Verbreitung „falscher Tatsachenbehauptungen“ strafbar zu machen – all das verweist auf eine stillschweigende Verschiebung liberaler Ordnungsvorstellungen hin zu einem Regime der präventiven Diskurssteuerung.

Der neue Autoritarismus des 21. Jahrhunderts tritt nicht mehr nur mit Verboten auf, sondern mit regulatorischen Erwartungshaltungen. Er delegiert Macht an Plattformen und normiert Wahrheit über prozedurale Infrastruktur. Was früher als staatliche Zensur benannt worden wäre, erscheint heute als technische Erfüllungspflicht. Der Staat zieht sich nicht zurück – er entgrenzt sich in die Architekturen digitaler Öffentlichkeit hinein.

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