Demokratien definieren sich nicht nur über freie Wahlen, sondern über
offene Diskurse. Wenn aber die Verteidigung der Demokratie darin
besteht, algorithmisch bestimmte Inhalte zu unterdrücken oder
Plattformbetreiber unter Druck zu setzen – dann wird Demokratie zur
Simulation ihrer selbst. Die Totalität entsteht nicht mehr durch Verbot,
sondern durch Erwartung. Wenn Durov die Wahrheit sagt, dann wurde er
nicht gezwungen – sondern um Kooperation gebeten. Sanft. Indirekt. Und
genau das macht es so gefährlich.
Es ist die sanfte Zensur, die aus Demokratien Hybridsysteme macht. Regierungen nutzen nicht mehr das Instrument des Gesetzes, sondern die implizite Drohung: Kooperation oder Kontrolle. Wer nicht spurt, wird öffentlich angezählt – wie Elon Musk, wie Durov, wie jede Plattform, die nicht rechtzeitig „freiwillig“ moderiert. So entsteht ein Klima der Präemption, des Zuvorkommens. Es wird gelöscht, bevor es eskaliert. Es wird gesperrt, bevor es viral geht. Und es wird reguliert, bevor sich jemand beschwert. Das ist nicht Freiheit – das ist ihr kodifizierter Schatten.
Man darf dabei nicht naiv sein: Durov ist keine Lichtgestalt. Gegen ihn laufen Verfahren in Frankreich und der Schweiz. Sein Interesse an öffentlicher Gegenoffensive ist evident. Doch Wahrheit ist nicht eigentumsfähig. Auch ein Angeklagter kann Recht haben. Und der Umstand, dass Frankreich ihn 2024 festnahm, ihm eine Kaution auferlegte und erst im März 2025 zurück nach Dubai entließ, macht deutlich: Die Beziehungen waren bereits vor dem Wahltag zerrüttet.
Dass Frankreich nun beteuert, Durov nie zur Wahlbeeinflussung gedrängt zu haben, ist wenig überraschend. Doch ein Dementi ist kein Beweis. Und der Reflex, jede Kritik als „russische Propaganda“ zu diffamieren, ist selbst eine Form der Desinformation. Wenn alles, was nicht auf Linie ist, aus Moskau kommt, dann ist der Diskurs bereits verloren.
Das Wahrheitsregime
Die entscheidende Frage lautet daher: Wie weit darf der Staat im Namen der Desinformationsbekämpfung gehen, ohne selbst zum Produzenten manipulativer Wahrheitsregime zu werden?
Der Digital Services Act (DSA) der EU, der digitalen Plattformen die Verantwortung für die Eindämmung sogenannter „systemischer Risiken“ – etwa Desinformation – überträgt und ihnen bei Versäumnis Sanktionen in Millionenhöhe androht; die millionenschweren Bußgeldbescheide gegen Telegram in Deutschland wegen angeblicher Verstöße gegen das Netzwerkdurchsetzungsgesetz; Macrons öffentliche Überlegung im Sommer 2023, soziale Netzwerke im Falle innerer Unruhen vorübergehend abschalten zu lassen; sowie die im deutschen Koalitionsvertrag verankerte Idee, die bewusste Verbreitung „falscher Tatsachenbehauptungen“ strafbar zu machen – all das verweist auf eine stillschweigende Verschiebung liberaler Ordnungsvorstellungen hin zu einem Regime der präventiven Diskurssteuerung.
Der neue Autoritarismus des 21. Jahrhunderts tritt nicht mehr nur mit Verboten auf, sondern mit regulatorischen Erwartungshaltungen. Er delegiert Macht an Plattformen und normiert Wahrheit über prozedurale Infrastruktur. Was früher als staatliche Zensur benannt worden wäre, erscheint heute als technische Erfüllungspflicht. Der Staat zieht sich nicht zurück – er entgrenzt sich in die Architekturen digitaler Öffentlichkeit hinein.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen