07 Mai 2025

Der andere Blick - Merz' schwacher Start als Kanzler ist keine Gefahr für die Demokratie. Das Gerede von Weimarer Verhältnissen ist verantwortungslos (NZZ)

Der andere Blick
Merz' schwacher Start als Kanzler ist keine Gefahr für die Demokratie. Das Gerede von Weimarer Verhältnissen ist verantwortungslos (NZZ)
Schon am ersten Tag drohte die Koalition in Deutschland an inneren Widersprüchen zu scheitern. Politiker aller Couleur sahen den nahenden Untergang der Republik. Das ist Unfug.
Von Morten Freidel, 07.06.2025, 3 Min.
Einen Tag nachdem Friedrich Merz mit Ach und Krach zum Bundeskanzler gewählt wurde, stehen schon Besuche in Paris und Warschau an. Merz will sich mit den wichtigsten europäischen Verbündeten abstimmen, der politische Alltag ist zurück. Auch in Berlin steht noch alles. Keine Rauchschwaden über dem Regierungsviertel.
Das muss jeden erstaunen, der die Diskussion am Vortag mitbekommen hat. Nachdem Merz im ersten Wahlgang die erforderliche absolute Mehrheit verfehlt hatte, sahen Politiker nicht etwa nur die schwarz-rote Koalition in Gefahr. Sondern gleich die ganze Demokratie.
Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder warnte davor, Merz scheitern zu lassen. Das könnte ein «schlimmer Vorbote für Verhältnisse wie in der Weimarer Republik sein», schrieb er. Es gehe jetzt «um die Demokratie». Ähnlich äusserte sich die Co-Parteichefin der Grünen, Franziska Brantner. Sie attestierte der Republik nach dem gescheiterten ersten Wahlgang einen Vertrauensverlust.
Die beiden waren nicht die Einzigen, die sich so äusserten. Von einer «Staatskrise» war die Rede, von einem «enormen Schaden» für das Gemeinwesen. Überall wurden die ganz grossen Geschütze aufgefahren.
Es wird viel Kitt brauchen, um dieses Bündnis zu erhalten
Man sollte sich noch einmal vergegenwärtigen, was geschehen ist. 18 Abgeordnete aus den Reihen von Union und SPD haben im ersten Wahlgang nicht für Merz gestimmt, ihm fehlten am Ende wenige Stimmen. Die Wahl ist aus guten Gründen geheim, die Abgeordneten sind nur ihrem Gewissen unterworfen. Man kann sie dazu aufrufen, mit ihrer Fraktion zu stimmen, zwingen kann man sie nicht. Im Gegenteil: Das wäre verfassungswidrig.

Dass die Parlamentarier Merz durchfallen liessen, mag vieles sein: egoistisch, verantwortungslos, womöglich sogar dumm. Es war aber sicher nicht demokratiegefährdend. Die Demokratie hat an diesem Dienstag vielmehr einwandfrei funktioniert. Das Parlament ist an keiner Stelle vom Grundgesetz abgewichen. Eine Regierung muss stets die Möglichkeit haben, an inneren Widersprüchen zu zerbrechen, selbst am ersten Tag. Auch das gehört zur Demokratie.

Merz’ Scheitern im ersten Wahlgang zeigt damit vor allem eines: wie gross die Fliehkräfte in der Koalition schon jetzt sind. Bürgerlichen Abgeordneten ist sie zu links, linken Sozialdemokraten zu rechts. Die einen sind wütend, weil Merz seinen angekündigten Politikwechsel schon vor Amtsantritt verwässern musste. Die anderen, weil er Stimmen der AfD für einen parlamentarischen Antrag zur Migration in Kauf nahm.

Die Demokratie kann viel verkraften

Mit SPD und Union haben sich zwei Partner zusammengetan, die in wesentlichen politischen Fragen auseinanderliegen. Es wird viel Kitt brauchen, um dieses Bündnis zu erhalten.

Sicher, die Regierung mag nach diesem Debakel geschwächt sein. Nur sollte man eine stabile Regierung nicht mit einer stabilen Demokratie verwechseln. Die Warnungen vor dem Untergang sind mittlerweile so drastisch, dass man von einer Lust sprechen muss. Wer allerdings ständig den Zusammenbruch beschwört, der redet ihn irgendwann herbei. Der höhlt selbst das Vertrauen in das demokratische Gemeinwesen aus, wie manche Gegner vom rechten Rand, das ist die Ironie.

Dabei kann die deutsche Demokratie viel verkraften. Hitzige Streits und Wortgefechte. Knappe Mehrheiten und rebellierende Parlamentarier. Sogar ein Scheitern von Friedrich Merz.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen