04 März 2025

Plädoyer für mehr Realismus im Ukrainekrieg - Macht endlich Schluss mit dieser Art von Politik (Cicero)

Lang aber sehr lesenswert
"Verteidigung der westlichen Werte auf Grundlage amerikanischer Waffen und auf den Knochen ukrainischer Soldaten "
Plädoyer für mehr Realismus im Ukrainekrieg

Macht endlich Schluss mit dieser Art von Politik (Cicero)
Die dramatische Entwicklung im Ukrainekrieg und der neue amerikanische Kurs unter Donald Trump machen unmissverständlich klar: Europa ist mit seiner „wertegeleiteten Außenpolitik“ gescheitert. Nur mit Realismus lässt sich jetzt noch das Schlimmste verhindern.
VON ANDREAS STEININGER am 4. März 2025 21 min
Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen“ (Bundeskanzler Scholz). „Die territoriale Integrität der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen ist wiederherzustellen, was die Grenzen von 2014 einschließt“ (Europäischer Rat). „Mit Putin kann man nicht verhandeln“ (Marie-Agnes Strack-Zimmermann, sinngemäß auch Außenministerin Baerbock). So Beispiele für Zitate führender deutscher und europäischer Politiker in den Jahren seit dem 24. Februar 2022. Alle diese Aussagen implizieren eine Niederlage Russlands, einen Sieg der Ukraine und der sie unterstützenden westlichen Staaten (so etwa durch Rückgewinnung des gesamten Staatsgebietes der Ukraine) sowie die klare politische Position, dass Russland diesen Krieg niemals gewinnen dürfe.
Aber Letzteres ist genau das, was nun zu geschehen scheint. Russland steht kurz davor, seine Interessen durchzusetzen. Man könnte durchaus von einem Sieg sprechen: Dass die Ukraine in den Grenzen vor 2014 wiederhergestellt wird, ist nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge ausgeschlossen, eines der wichtigsten Kriegsziele Russlands war die Verhinderung des Nato-Beitritts der Ukraine, auch dies dürfte erreicht worden sein; mit Russland und Putin wird verhandelt werden, voraussichtlich über die Köpfe der Ukrainer und Europäer hinweg. Und schließlich: Präsident Selenskyj ist mit derben Worten des US-Präsidenten aus dem Weißen Haus geflogen, und es steht zu befürchten, dass die amerikanische Militärhilfe eingestellt wird und damit die Ukraine zumindest militärisch vor dem Kollaps steht. Wenn man russische Medien zurzeit in Augenschein nimmt, dann scheinen die USA die besten Freunde Russlands zu werden. Europa spielt überhaupt keine Rolle mehr.
Keine Lösungsangebote
Vergleicht man die Realität mit den noch nicht lange vergangenen Aussagen des politischen Führungspersonals, so drängt sich die Frage auf, warum hochrangige Vertreter unserer Regierung bzw. der Europäischen Union sich seinerzeit so sehr aus dem Fenster gelehnt haben und insbesondere, warum sie drei Jahre haben verstreichen lassen, ohne irgendwelche Lösungen anzubieten, gerade was mögliche Verhandlungen anbelangt. Auf den Wahlplakaten von Außenministerin Baerbock stand, dass in Europa nur einer herrschen dürfe, Frieden! Getan hat sie hierfür allerdings nicht viel: Nicht ein Vorschlag zu Verhandlungen oder irgendeiner Perspektive außer der Unterstützung des Kampfes ist aus dem Auswärtigen Amt gekommen. Unmittelbar nach dem Showdown im Weißen Haus verkündete die Außenministerin sogleich einen Sechs-Punkte-Plan, der unter anderem die Freigabe von drei Milliarden Euro sowie weitreichenden Waffenlieferungen vorsieht. Aber was ist das Ziel: Vertreibung Russlands aus der Ukraine? Weiteres Standhalten und hoffen, dass bessere Zeiten anbrechen? Doch Friedensverhandlungen? Was dann? Es ist das alte Lied, das schon seit drei Jahren nicht funktioniert. Es wird keine Konzeption entwickelt, keine Perspektive, nur Solidarität und Waffen, aber keine Idee, wie man zumindest das Blutvergießen beenden kann.

Aber auch bereits vor dem denkwürdigen Auftritt von J.D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz und dem öffentlichen Clash zwischen Trump und Selenskyj haben sich viele schweigende Kenner der osteuropäischen Materie gefragt, wieso man denn Verhandlungen so kategorisch ausschließen kann. Schon lange war vielen klar, dass die Ukraine bestimmte Gebiete nicht wird zurückerhalten können, so zum Beispiel die Krim; schon lange war vielen klar, dass, je länger dieser Krieg dauerte, die zahlenmäßige Überlegenheit der russischen Truppen dazu führen würde, dass die Ukraine es in diesem Kampf schwerer haben würde als im Westen kolportiert. Und dass auch weitere Waffenhilfen in Form des Taurus hier nicht die Wende bringen würden. Schon lange war den meisten klar, dass man irgendwann auch mit dem Kriegsherrn Putin wird verhandeln müssen. Wie sonst will man einen Krieg beenden? Vielleicht wird Olaf Scholz irgendwann mal deshalb in die Geschichte eingehen, weil er sein Veto gegen die Lieferung des Taurus und damit gegen eine Eskalation des Konflikts eingelegt hat.

Verteidigung der westlichen Werte auf Grundlage amerikanischer Waffen und auf den Knochen ukrainischer Soldaten 

Es ist unschön zu sagen, man habe immer schon alles vorher gewusst, das klingt oberlehrerhaft, besserwisserisch – und vor allem ruft es den Impuls beim Leser hervor, warum man denn vorher nichts gesagt habe. Die Antwort ist einfach: Es gibt sehr viele Experten zu Osteuropa und zu Russland in Deutschland, die etwas sagen wollten und auch etwas gesagt haben, die zu Mäßigung aufgerufen haben, zur Entwicklung von Konzeptionen für einen Frieden, zu Verhandlungen mit Russland – allein hören wollte niemand diese Meinungen. „Mit einem Aggressor verhandelt man nicht“, so die Aussagen aus Politik und wissenschaftlich-politologischen Institutionen. Der Erfolg war Agonie, Stagnation und eine Fortsetzung des Krieges – und vor allem hat man ein Vakuum geschaffen, in welches Leute wie Trump nun vorgestoßen sind.

Dabei hätte man erkennen müssen, dass die ganze starre Haltung Westeuropas (selbst wenn sie moralisch-ethisch gerechtfertigt war) nur durch die Unterstützung der Ukraine durch die Vereinigten Staaten ermöglicht wurde, da die Europäer hierzu einfach nicht in der Lage waren.

Dies hatte aber auch zur Folge, dass die gesamte Ukraine-Politik im Wesentlichen von der politischen Ausrichtung der USA abhängig war. Das ist nicht neu, sondern tritt nur jetzt zutage, da Trump durch die Politik seines Vorgängers hindurchfährt wie ein Panzer durch einen Porzellanladen. Das gegenwärtige Agieren der amerikanischen Administration über die Köpfe der Europäer hinweg zeigt, dass die Europäer nichts zu sagen haben und nichts zu sagen hatten, weil sie über keine tatsächliche militärische Macht verfügen. Diskutiert hat man in Europa und insbesondere in Deutschland jahrelang aber so, als könnte man irgendetwas entscheiden.

Dies ist einerseits bitter für Deutschland und Europa, andererseits haben wir es uns auch bequem gemacht: Es ist leicht, ständig das Hohelied der Werte zu singen, die es zu verteidigen gelte, wenn andere hierfür die militärischen Mittel bereitstellen, nämlich die USA, oder ihre Knochen hinhalten müssen, nämlich die ukrainischen Soldaten. Ohne den wohlmeinenden Wertevertretern der vergangenen Jahre etwas unterstellen zu wollen, aber diese Diskussionen haben – insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung – einen Hauch von Zynismus.

Hieran ändert auch die Tatsache nichts, dass Europa und insbesondere Deutschland für die Ukraine viel Geld gezahlt haben. Es ist bemerkenswert, dass man sich bei Aussagen zum Ukrainekrieg offenbar immer darauf verlassen hat, dass die USA hinter einem stehen – ein wenig wie der kleine Junge, der einen anderen ärgert und sich dann schleunigst hinter dem Rücken seines großen Bruders versteckt, wenn es ernst wird.

Auch die hektisch einberufene Konferenz in Paris kann nicht verdecken, wie blank Europa und vor allem Deutschland zurzeit dastehen. Es ist eine politische und auch mediale Katastrophe und Bankrotterklärung.

Jetzt herrscht Wut über Trump. Es stimmt, die Auftritte des amerikanischen Präsidenten sind genauso beängstigend wie verstörend. Aber kann man ihm ernsthaft vorwerfen, dass er danach fragt, was die USA von der Unterstützung der Ukraine haben? Als Antwort bleibt vor allem das Sujet dieses Aufsatzes: Es ist immer wieder die abstrakte Größe der Werte, die dann milliardenschwere Unterstützungen sowie viele Tote rechtfertigt.

Ansonsten macht sich auf einmal vielfach betretenes Schweigen breit, und man findet allenthalben Zeichen für einen Kurswechsel. Auf einmal sollen Gespräche möglich sein. Wenn selbst eine Kommentatorin des Spiegel, Sabine Rennefanz, treffend befindet, man müsse sich die Augen reiben, wenn auf einmal dieselben Autoren, welche jahrelang für Waffenlieferungen an die Ukraine und die Verweigerung von Friedensverhandlungen eingetreten sind, nun nach den Einlassungen von Vance und Trump mit einem Fünf-Punkte-Plan aufwarten, der unter anderem Waffenstillstand, eine Waffenstillstandslinie und eine demilitarisierte Zone vorsieht, wobei dies noch kurz zuvor als Verrat an der Ukraine angesehen worden wäre, dann muss man sich die Frage stellen, inwieweit man Politik (und übrigens auch politischer Wissenschaft) nach einer solchen 180-Grad-Wendung überhaupt noch vertrauen kann. Hier zeigt sich Politik als Ideologie und wissenschaftliche Expertise als politischer Opportunismus.

Um nicht über vergossene Milch zu heulen, sondern in die Zukunft zu schauen, ist allerdings die Frage viel interessanter, was zu einer derartigen Fehleinschätzung und in eine Folge zu einer verfehlten Politik geführt hat und wie sich so etwas in Zukunft vermeiden lässt. Bei genauerer Betrachtung kristallisieren sich die folgenden Gründe heraus.

Das Problem der Wertepolitik: Werte sind stumpfe Waffen

In den fetten Jahren zwischen 2007 und 2014 und auch weiterhin noch bis zum Jahr 2022, als es wirtschaftlich gut ging und politisch keine Katastrophen außer einer Corona-Krise anstanden, hat sich national und auch international die Meinung etabliert, dass Politik und internationale Beziehungen im Wesentlichen auf der Grundlage moralischer und ethischer Maßstäbe (sogenannter „Werte-Politik“) zu betreiben sei. Mehr noch, man kann fast sagen, die Moral wurde zu einer Waffe, zu einer Keule, die für jeden, der auch nur kritisch hinterfragte, zum tatsächlichen Karriereende führen konnte.

Es zählte nicht mehr die Macht des Faktischen, sondern vielmehr eine abstrakte Konstruktion von Moral und Ethik, zumeist auch noch unsystematisch mit dem Begriff „Völkerrecht“ vermengt, ausgedacht in wenigen Köpfen in Thinktanks, NGOs, politischen Parteien, Organisationen etc., verbreitet über die Medien und so implementiert in weiten Teilen der Regierenden westlicher Provenienz.

Das Problem dieses moralisch-ethischen Druckmittels, dieser moralischen Waffe, besteht allerdings darin, dass sie nicht real ist. Sie funktioniert nur dann, wenn sich alle daran halten, wenn sich alle in denselben Maßstäben bewegen. Wenn aber jemand mit einem Weltbild aus der Sowjetunion und dem Hass Putins, dem Weltmachtstreben Xis oder dem zweifelhaften Charakter Trumps daherkommt und sich nicht im mindestens darum schert, bricht das ganze System wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Dann entpuppt sich dieses Gewand aus Moral und Werten als des Kaisers neue Kleider. Dann bleibt nur noch die tatsächliche, die reale, die militärische Macht, von der wir in der westeuropäischen Hemisphäre zurzeit nur wenig haben. Auch die Wirtschaft kann eine solche reale Macht sein – im Vergleich zu China und den USA ist sie jedoch in Europa nicht groß genug, um wirklich Druck ausüben zu können. In diesem Zusammenhang kann man auf Nietzsche verweisen. In seiner Ausarbeitung „Zur Genealogie der Moral“ (1887) beschreibt der Philosoph, dass die dienenden Klassen („Sklaven“) durch die Erfindung der Moral versuchen, stärkere Menschen zurückzuhalten und sich dadurch an ihnen zu rächen („Sklavenrevolte“). Moral und Ethik als letztes Druckmittel der Schwachen zur Einhegung von Mächtigen.

Wenn aber diese stärkeren Menschen – und dies sind nun mal zurzeit leider Putin, Tump oder Xi – sich nicht an diesem Moralkodex halten wollen, so lassen sie sich eben auch nicht durch die Werte einer Außenpolitik westlicher Provenienz zurückhalten, egal wie oft man diese Werte beschwört. Um aus dem Sklaventum herauszukommen, hilft jetzt nur noch die Tat und nicht die Beschreiung von Werten.

Niemand will durch moralische Maßstäbe unter Druck gesetzt werden, die andere erfunden haben

Eine an Moral und Werten orientierte Politik hat noch ein anderes Problem: Moral und Ethik werden von Menschen gemacht, sie sind keine Naturgesetze, keine physikalischen Formeln. Sondern hängen in der Regel von der Meinung anderer Menschen ab – von Experten, Wissenschaftlern oder Politikern, welche die Maßstäbe des Moralischen und Ethischen vorgeben. Aber jedes Kind lernt früh, dass sich Meinungen ändern können – so wie jetzt die Einstellung vieler gegenüber Friedensverhandlungen mit Russland. Solch ein „turnaround“ geht schnell! Gestern kann etwas moralisch gewesen sein, was heute als amoralisch gilt, und umgekehrt. Die Maßstäbe richten sich letztlich nach Meinungen anderer – oder schlimmer noch nach Stimmungen. Hierdurch werden Moral, Ethik und Werte zu einer äußerst volatilen Währung.  

Bundeskanzlerin Merkel hat einmal gesagt, dass sie in der DDR Physik studiert habe, weil das Regime die physikalischen Regeln nicht außer Kraft setzen konnte. Gesellschaftliche und moralische Normen hingegen können sich in kürzester Zeit wandeln. Deshalb verfangen diese Werte auch bei den Menschen instinktiv bei weitem nicht so intensiv wie reale und greifbare Werte. Deshalb sind auch so viele bereit, jemanden wie Trump zu wählen, der ihnen zwar keine abstrakten moralischen Versprechungen (etwa von Demokratisierung und Menschenrechten) macht, stattdessen aber etwas Reales, etwas zum Anfassen in Aussicht stellt, etwas, das man versteht. Dies gilt insbesondere dann, wenn es wirtschaftlich schlechter geht.

Das Postulieren von Werten kann das Gegenteil bewirken

Ein weiterer wichtiger Aspekt, warum eine werteorientierte Politik, insbesondere Außenpolitik, sich in gegenwärtigen Zeiten kaum durchführen lässt, ist das Problem der Selbstbeschränkung. Durch das selbstauferlegte Redeverbot mit Russland als dem Aggressor, mit dem man nicht kommunizieren dürfe, ist man in eine Sackgasse geraten. Man wurde also zum Gefangenen der eigenen moralischen Wertvorstellungen. Im Falle der Ukraine bestand nur noch die Wahl, auf den Sieg der Ukraine oder auf einen zumindest vollständigen Rückzug Russlands aus den ukrainischen Gebieten zu hoffen. Beides war seit dem 24. Februar 2022 – trotz der teilweise schwerwiegenden strategischen Fehler Russlands – niemals wirklich im Bereich des Möglichen. Wenn man Militärexperten glauben darf, hätte auch die Lieferung des Taurus keinen entscheidenden Vorteil gebracht. So hat man sich ohne Not der Handlungsoptionen beraubt, die Trump jetzt nutzt.

Am Ende steht sogar das Paradoxon, dass die Werte, die geschützt werden sollen, nämlich Freiheit, Vielfalt, Offenheit durch die impertinente Einhaltung und Durchsetzung derselben selbst verletzt werden. Man sollte vielleicht mal ukrainische Soldaten im Schützengraben an der Front fragen, was sie von einer Wertediskussion in Deutschland oder in Europa halten und ob ihnen am Ende das eigene Leben nicht doch lieber ist als die Verteidigung abstrakter Werte.

Anschein der Arroganz

Deutsche Politiker lieben es, die Menschenrechtslage in anderen Ländern, zum Beispiel China, Aserbaidschan und natürlich in Russland, anzuprangern. Die Verweise auf die Menschenrechtslage sind auch berechtigt, dies steht gar nicht zur Debatte. Dennoch muss man sich nach dem Effekt fragen. Die Kritik wird meistens von den lokalen Medien kolportiert und führt dazu, dass die Bevölkerung des jeweiligen Landes sich angegriffen fühlt. Selbst wenn alle wissen, dass die Kritik zutreffend ist, führt das zu Distanz: Man lässt sich eben nicht gern von einem ausländischen Staat kritisieren, zumal von den Repräsentanten eines Staates, der in seiner Geschichte nicht gerade als Wahrer der Menschenrechte bekanntgeworden ist. Ferner muss man sich auch die Frage stellen, welche Wirkung solche Äußerungen für die Menschenrechtslage in dem jeweiligen Land tatsächlich haben – im Zweifel keine, wenn nicht sogar eine gegenteilige Wirkung.

Am weitaus problematischsten ist jedoch, dass man mit dem erhobenen Zeigefinger die Despoten dieser Welt zusammentreibt. Sie haben auf einmal etwas gemeinsam, nämlich dass Deutschland sie gemaßregelt hat. Das ist aber genau das Gegenteil dessen, was man im Falle Russlands erreichen wollte. Man wollte Russland isolieren, insbesondere von China und anderen Unterstützerstaaten. Dies war noch das erklärte Ziel der Bundesaußenministerin im März 2022, als der Krieg gerade begonnen hatte. Alle Sanktionen hängen vor allem davon ab, ob und inwieweit Russland allein dasteht. Hierzu hätte man aber Länder wie China oder Indien auf die eigene Seite ziehen müssen. Bei teilweise offen vorgetragener Kritik an den innenpolitischen Verhältnissen dürfte dies allerdings schwierig sein, was die Realität jetzt auch beweist. Insbesondere China steht klar an der Seite Russlands. Es ist schwer zu sagen, ob die Aussagen zu Menschenrechten hierfür entscheidend waren, hilfreich waren sie jedoch auf keinen Fall. Und schließlich hat man sogar den Eindruck, dass Russland nicht nur nicht isoliert wird, sondern dass vielmehr Deutschland sich isoliert, sogar innerhalb der EU.

Fehlende Kompetenz in Politik und Medien

Wenn man die vergangenen politischen und medialen Jahre im Hinblick auf die Ukraine analysiert, stellt man fest, dass in vielen Talkshows und Debatten Vertreter von Politik und Medien saßen, die von ihrer Ausbildung und ihrem Werdegang her nur wenig Expertise im Hinblick auf Russland, Osteuropa oder militärische Fragestellungen vorzuweisen hatten. Viele, die über das Verhältnis Ukraine und Russland sprachen, konnten selbst nicht einmal Russisch, geschweige denn Ukrainisch. Würde man jemanden über die USA berichten oder urteilen lassen, der des Englischen nicht mächtig ist? Um den wissenschaftlichen Ansatz zu wählen: Viele Diskutanten waren nicht in der Lage, Quellen aus erster Hand zu lesen, sich mit Leuten direkt zu unterhalten; sie mussten regelmäßig auf Übersetzer und auf Eindrücke oberflächlicher Art zurückgreifen. So kann zum Beispiel auch eine Stimmung innerhalb Russlands oder der Ukraine nur schwer nachempfunden werden.

Ein gutes Beispiel hierfür ist die Hype um Nawalny. Seiner Frau wird im Westen ständig der rote Teppich ausgerollt, sie darf vor den höchsten Gremien sprechen – fair enough, soweit es um ein Symbol der Unterstützung geht. Auf der anderen Seite wird hierdurch jedoch der Eindruck einer machtvollen Opposition in Russland geweckt. Das Gegenteil ist der Fall. Die meisten Russen schätzen Nawalny zwar für seine Aufklärungsvideos zur Korruption in Russland, politisch wurde er aber von den meisten Russen nicht wirklich ernst genommen, schon gar nicht als Gegengewicht zu Putin. Viele haben nicht verstanden, warum er aus dem sicheren Berlin nach Russland zurückgekehrt ist. Manchmal scheinen westeuropäische Politiker bei der Einladung von Oppositionellen aus Osteuropa und von Regierungsangehörigen der Ukraine wie besoffen von der eigenen Solidarität und überschätzen dadurch ihre Wirkmächtigkeit. Auf jeden Fall wird aber durch diese Darstellungen der Blick auf die Realitäten, so auch auf die Einstellung des russischen Volkes im Hinblick auf den Krieg, häufig falsch kolportiert. Und bei diesem Illusionstheater spielen Medien und Politiker Hand in Hand.

Oder um auf die militärische Expertise zu sprechen zu kommen: Selbst Bundespräsident Steinmeier sprach von den sogenannten „Kaliberexperten“ als denjenigen, die ständig in Talkshows von Waffen schwadronieren, ohne selbst jemals auch nur eine Pistole in der Hand gehabt zu haben. Sicher, man wird nun entgegengehalten, dass man sich in vieles einarbeiten kann, aber es ist etwas anderes, ob man einmal 15 Monate oder länger in Uniform gesteckt und ein Gefühl dafür entwickelt hat, wie so ein Laden funktioniert. Dann braucht man auch nicht die Dienstgrade auswendig zu lernen, wozu die Vorgängerin von Verteidigungsminister Pistorius, Christine Lambrecht, als Verteidigungsministerin nicht einmal bereit war. Nicht ernst genommen oder gar verächtlich gemacht wurden etliche ehemalige Generäle, die im Hinblick auf eine Eskalation stets zur Vorsicht mahnten. Man muss nicht immer ihre Meinung teilen, aber warum hört keiner auf erfahrene Offiziere, sondern nur auf Leute, die noch nie eine Kaserne von innen gesehen haben?

Dasselbe gilt auch für die Einschätzung der Ukraine. Die Ukraine hat zweifellos größte Anstrengungen unternommen und große Erfolge in Sachen Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit erzielt. Die hier teilweise (etwa von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen) vertretene Auffassung, die Ukraine stehe bereits an der Schwelle zur Europäischen Union im Hinblick auf ihre rechtsstaatliche und wirtschaftliche Konstitution, ist allerdings problematisch. Auch das wissen zahlreiche Experten, die sich seit vielen Jahren mit der Ukraine befassen. In den Talkshows wird jedoch häufig das Bild vermittelt, die Ukraine sei quasi schon Mitgliedstaat.

Meinungs-Mainstream

Der Verfasser dieses Aufsatzes schließt sich ausdrücklich nicht der Meinung von Vizepräsident Vance an, in Europa und Deutschland herrsche eine Meinungsdiktatur. In westlichen Staaten existieren keine gelenkten Medien wie in Russland oder anderen autoritär geführten Staaten. Tatsache ist aber auch, dass lange Zeit jede Kritik etwa an der Ukraine oder eine realistische Darstellung der Situation in Russland als Kreml-Propaganda dargestellt wurde. Man lief und läuft Gefahr, die eigene Reputation zu ruinieren und den Kontakt zu maßgeblichen Kreisen in den Medien zu verlieren, wenn man eine andere Meinung etwa zur Frage der Waffenlieferungen vertreten hat. Man erinnere sich nur noch einmal an den Shitstorm, den Präsident Steinmeier nach seiner Anmerkung zu den „Kaliberexperten“ erntete. Wenn jemand in der Position des Bundespräsidenten schon kaum mehr eine durchaus berechtigte Kritik anbringen kann, wie mag es dann jemandem gehen, der in Redaktionen oder Institutionen sein täglich Brot verdienen muss, der vielleicht beruflich wie finanziell von bestimmten Institutionen abhängig ist? Dieser Jemand wird sich dreimal überlegen, ob er sich mit der herrschenden Auffassung anlegt.

Dies hat zur Folge, dass sich viele nicht mehr geäußert haben und quasi in die innere Emigration gegangen sind. Hierdurch entsteht aber ein gewisser Meinungsmainstream, der nicht nur zu Verdrossenheit beim außenstehenden Beobachter führt, weil immer dieselben Floskeln repetiert werden, sondern auch im Hinblick auf die Beurteilung von Situationen gefährlich ist. Es entsteht so etwas wie ein – um mit Luhmann zu sprechen – autopoetisches System, in welchem sich alle gegenseitig in ihrer Meinung bestärken, neudeutsch auch als „Bubble“ bezeichnet. In der Praxis äußert sich das häufig so, dass es an einer medialen Polarität zu bestimmenden Themen fehlt. Normalerweise existieren eine linke Betrachtungsweise und ein konservativer Standpunkt. Zunehmend, und Russland und die Ukraine sind ein typisches Beispiel hierfür, berichten und kommentieren viele Medien annähernd synchron. Langfristig führt dies zur Unterschätzung eines Gegners.

Handlungsoptionen

Die ersten Reaktionen europäischer Politiker nach dem diplomatischen Desaster zwischen Selenskyj und Trump im Weißen Haus lassen Schock und Hilflosigkeit erkennen. Die Ukraine sei nicht allein, verkündete Außenministerin Baerbock und schob sogleich den bereits erwähnten Sechs-Punkte-Plan hinterher. Europa müsse sich neu definieren, so Kommissionspräsidentin von der Leyen. Wenn aber Europa militärisch nicht in der Lage ist, der Ukraine in ausreichender Weise beizustehen, ohne sich gleichzeitig selbst zu entwaffnen, stellt sich die Frage, was eine derartige Solidarität bringt. Durch Finanzhilfen wird der ukrainische Staat einstweilen vor dem Zusammenbruch gerettet, und der Krieg geht weiter wie in den vergangenen drei Jahren. Und wieder die Frage: mit welchem Ziel?

Europa kann nur dann wieder mitreden und eine glaubhafte Solidarität zeigen, wenn es selbst über Machtmittel verfügt. Dies beinhaltet eine wirtschaftliche Stabilität, eine politische Einigkeit der EU und auch eine militärische Schlagkraft. Wirtschaftlich schwächeln die Staaten Europas zurzeit, insbesondere Deutschland. Was die Einigkeit anbelangt, so haben die zurückliegenden 50 Jahre der Europäischen Union gezeigt, wie schwierig es ist, Einigkeit auch nur in kleinen Fragen herzustellen. Und nach allem, was man hört – der Autor ist kein Experte! –, ist es um die militärische Schlagkraft auch nicht sonderlich gut bestellt, zumindest nicht um die Deutschlands. Nach dem Streit zwischen Selenskyj und Trump hört man gleichermaßen aus Berlin und Paris, dass nun massiv aufgerüstet werden soll.

Eine Armee kann man jedoch nicht einfach aus dem Boden stampfen. Dafür reicht nicht allein ein Sondervermögen von zig Milliarden Euro; es braucht auch eine Bevölkerung, welche dazu bereit ist. Hier sind wir wieder bei den Werten. Einer Bevölkerung, die sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten auf Fragen fokussiert hat, welche – gelinde gesagt – weitab von allem Militärischen lagen, muss jetzt auf Landesverteidigung eingeschworen werden. In diesem Zusammenhang müssen viele gesellschaftliche Themen der vergangenen Jahre zurückgestellt werden – dies wird zu Friktionen führen.

Kurz gesagt: Die zukünftige Regierung Deutschlands muss im Eiltempo die Wirtschaft stabilisieren, Europa einigen und eine schlagkräftige Armee schaffen – schon, wenn man dies nur liest, merkt man, wie illusorisch und abgehoben das klingt. Man will nicht in der Haut der zukünftigen Regierenden stecken. Aber es wäre schon einmal ein Anfang, wenn man sich von einer reinen Werteorientierung bisheriger Regierungen umorientiert: Man muss nicht alle bisherigen Werte negieren, aber die Interessen des Landes gehören im Hinblick auf Wirtschaft und Verteidigung in den Vordergrund. Auch sollte der Bevölkerung dahingehend reiner Wein eingeschenkt werden, dass es in den nächsten Jahren nichts zu verteilen gibt außer Mühsal und gegebenenfalls auch Einschränkungen.

Bis zu einem wirtschaftlichen und militärischen Erstarken Deutschlands und Europas kann noch viel Zeit vergehen. Bis dahin sind die außenpolitischen Handlungsoptionen im Hinblick auf Russland, die Ukraine und die Vereinigten Staaten gering. Im Zweifel kann man zurzeit nur kleine Brötchen backen. Der britische Premierminister Keir Starmer und der französische Präsident Emmanuel Macron scheinen das vor ihren umschmeichelnden Besuchen bei Trump begriffen zu haben, Selenskyj offensichtlich nicht. Selbst Nato-Generalsekretär Mark Rutte riet Selenskyj dazu, sich bei Trump zu entschuldigen. Wenn man ausschließlich von Werten ausgeht, ist dieser Vorschlag absurd: Wofür sollte sich Selenskyj entschuldigen? Aber dennoch hat Rutte recht: Es geht jetzt um Realitäten dergestalt, dass die USA die Militärhilfe nicht von einem Tag auf den anderen einstellen. Dies ist ein gutes Beispiel für eine interessengeleitete Politik, die den bisherigen Wertevorstellungen eher nicht entspricht.

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