Auch krass: Nur drei Prozent der Weimarer und Erfurter trauen Katrin Göring-Eckardt
(Grüne) zu, ihre Wahlkreisbelange im Bundestag zu vertreten. Sie ist an
der Basis damit durchgefallen. Ihre Grünen Parteikollegen werden das
geahnt haben und setzten sie auf den ersten Platz der Thüringer
Landesliste – so kommt die Verliererin wieder sicher nach Berlin.
Moritz Oppelt von der CDU hingegen kann sich ab sofort wieder der Steuerfahndung widmen, wie er es vor seiner Zeit im Bundestag tat: Der Jurist gewann seinen Wahlkreis Rhein-Neckar mit 34 Prozent der Erststimmen, ist aber nicht durch die neuerdings entscheidende Zweitstimme für seine Partei gedeckt. Seine Konkurrenten der AfD und der SPD unterlagen mit einem Abstand von jeweils knapp 15 Prozent. Sie ziehen dennoch fröhlich – und zwar beide – in den Bundestag ein – über die Liste natürlich.
Auch wenn die Wähler einen Direktkandidaten eindeutig abstrafen wollten, kann der Parteikader sich durchsetzen. Der SPD-Politiker Carsten Schneider rutschte in seinem Erfurter Wahlkreis von 24,4 auf 7,9 Prozent der Erststimmen ab. Das war eine Backpfeife.
Als Ostbeauftragter der Bundesregierung hat er aus Sicht der Erfurter nicht performt. Egal: Im Bundestag darf er über die Landesliste trotzdem Platz nehmen. Backpfeife mit Trostpflaster für monatlich 11.227 Euro.
Der Kern vom Kern des Problems: In der Absicht, den Bundestag zu verkleinern, hat man den frei gewählten Abgeordneten (Erststimme) in seiner Bedeutung dezimiert und die von den Parteikadern ausgehandelte Parteiliste (Zweitstimme) entsprechend aufgewertet.
Denn: Direktmandate werden nur noch dann vergeben, wenn sie innerhalb des jeweiligen Bundeslandes in das Zweitstimmen-Kontingent der Partei passen – sonst verfallen sie. Siehe oben.
Die Parteikader benutzen die Listenaufstellung als Machtinstrument. Noch bevor das Volk zu den Urnen gerufen wird, sind hier bereits die Karten vergeben. Mit diesem Wahlrecht werden Loyalisten für ihre Loyalität prämiert. Der frei gewählte Abgeordnete ist dem Parteikader zu autonom, zu selbstbewusst und damit auch zu wenig kalkulierbar.
Mit Fug und Recht nannte CSU-Chef Markus Söder
die Wahlrechtsreform, die allein in Bayern dafür sorgte, dass drei
Wahlkreissieger nicht im Bundestag vertreten sind, „unverschämt, fies
und undemokratisch“.
Bundesweit derselbe Befund: Insgesamt 23 Kandidaten schafften es nicht in den Bundestag, obwohl sie in ihrem Wahlkreis die meisten Erststimmen bekommen haben. Besonders betroffen: die Union. Von CDU und CSU gingen 18 Erststimmensieger leer aus.
Kein Wunder, bei der akribischen Vorbereitung: Vertreter der Ampelparteien, die diese Reform gegen die Union durchgesetzt hatten, sind relativ selten unter den Verlierern. Warum die FDP dieses undemokratische Ansinnen durchgewunken hat, bleibt bis heute unerklärlich.
Vier Wahlkreise sind durch die Wahlrechtsreform zu Vollwaisen geworden: Die hessische 160.000-Einwohner-Stadt Darmstadt zum Beispiel oder auch Tübingen mit seiner großen Universität aus dem 15. Jahrhundert haben keine Vertretung mehr im Bundestag.
Daneben gibt es 19 halb verwaiste Wahlkreise, für die immerhin irgendein Direktkandidat in den Bundestag einzieht – aber eben nicht derjenige, den die meisten mit ihrer Erststimme gewählt hatten, sondern der örtliche Verlierer, wie im Fall Göring-Eckardt.
Strafe muss sein: Ausgerechnet der Mitarchitekt der Wahlrechtsreform – der Jurist, Scholz-Loyalist und Noch-Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt von
der SPD – schaffte es nicht in den Bundestag, obwohl er sich auf der
Hamburger-SPD-Landesliste auf Platz Eins hatte absichern lassen.
Der Grund: Zu viele Sozialdemokraten in Hamburg haben ihren Wahlkreis gewonnen. Zu wenige haben mit der Zweitstimme SPD gewählt. Die Landesliste wurde funktionslos.
Mit einem Wahlergebnis von 22,7 Prozent in Hamburg (minus 6,9 Prozentpunkte gegenüber 2021) standen der SPD nur drei Bundestagssitze zu. Da Schmidt seinen Wahlkreis verlor, nutzte ihm auch die Landesliste nichts. In diesem Fall galt: Den ersten bissen die Hunde. Der Mann wird sich nun nach einem Job in der Privatwirtschaft umschauen müssen – zum ersten Mal in seinem Leben.
Fazit: Die Reform der Reform gehört auf die
Tagesordnung der Koalitionsgespräche, die heute beginnen. Die
„demokratische Mitte“ muss beweisen, dass für sie Mitte auch mittig
bedeutet – und nicht mittelmäßig oder gar mysteriös.
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