02 März 2025

Justiz und Meinungsfreiheit „Erschüttert das Vertrauen normaler Bürger in den Rechtsstaat“ (WELT+)

US-Reportage über Meinungsfreiheit in Deutschland sorgt weltweit für Fassungslosigkeit
Ex-Bundesverfassungsgerichts-Präsident Papier: "Mit Schlagworten wie Hatespeech, Fake News oder Hass und Hetze wird oftmals der Versuch unternommen, den Korridor zulässiger Meinungsäußerungen peu à peu enger zu machen."

Justiz und Meinungsfreiheit

„Erschüttert das Vertrauen normaler Bürger in den Rechtsstaat“ (WELT+)
Von Frédéric Schwilden, Autor, 01.03.2025 5 Min
Hausdurchsuchungen wegen Internet-Kommentaren: Aussagen deutscher Staatsanwälte, die im US-Fernsehen über ihr Vorgehen erzählen, befeuern die Debatte über Meinungsfreiheit. Was sagen Staatsanwälte und ehemalige Bundesrichter wie Hans-Jürgen Papier zum deutschen Sonderweg im Kampf gegen „Hass und Hetze“?
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz behauptete Amerikas Vizepräsident J.D. Vance, die Meinungsfreiheit in Deutschland sei bedroht. Der deutsche Noch-Wirtschaftsminister Robert Habeck antwortete gereizt: „It’s none of your business.“ Vance sprach aus einer interessanten Position, denn seit dem Wechsel im Weißen Haus scheint die Meinungsfreiheit eher in den USA unter Beschuss zu stehen.
Die Regierung Trump entzog der White House Correspondents Association das Recht zu entscheiden, welche Reporter aus dem Oval Office berichten. In vielen Bundesstaaten sind in den vergangenen Jahren Hunderte Büchern aus Schulen verbannt worden – darunter auch Werke von Voltaire, Mark Twain und sogar Anne Franks Tagebuch. Bestätigt fühlen mag sich Vance gleichwohl durch die Reaktionen des deutschen Staates auf einen Post mit dem Konterfei Habecks und dem Text „Schwachkopf Professional“. Der Eintrag auf der Plattform X führte im Herbst 2024 zu einer Hausdurchsuchung bei einem Rentner in Bayern. Habeck hat in seiner Amtszeit mehr als 700 Anzeigen erstattet, über 1900 waren es binnen zwei Jahren bei Anzeigenhauptmeisterin Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP). Durchsuchungen folgten auch auf die Beschimpfungen von Dorothee Bär (CSU) als „hirnloser Krapfen“ und Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz (CDU) als „drecks Suffkopf“.
„Melden Sie Hatespeech direkt und einfach über die Meldemaske“, heißt es auf einer Seite des bayerischen Justizministeriums. „Was uns kaputtmacht, sind Fake News, ist Hass und Hetze“, sagte die scheidende Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) kürzlich in der ARD.

Hans-Jürgen Papier, von 2002 bis 2010 Präsident des Bundesverfassungsgerichts, sagt: „Mit Schlagworten wie Hatespeech, Fake News oder Hass und Hetze wird oftmals der Versuch unternommen, den Korridor zulässiger Meinungsäußerungen peu à peu enger zu machen.“ Und er sagt: „Bei der Verwendung des Wortes ‚Schwachkopf‘ im Zusammenhang mit einer politischen Auseinandersetzung habe ich erhebliche Bedenken, ob diese Äußerung strafrechtlich relevant ist. Bei der konkreten Maßnahme der Hausdurchsuchung, bezweifle ich, ob sie allein aufgrund dieser Äußerung verhältnis- und rechtmäßig war.“
Die Bundesnetzagentur zertifiziert inzwischen sogenannte Trusted Flagger. Papier kritisiert, dass damit private Vereinigungen vom Staat legitimiert werden, Einträge auf Social Media zur Löschung vorzuschlagen. Papier warnt: „Es droht eine Quasi-Zensur. Echte Zensur ist das zwar nicht, die würde vom Staat ausgehen. Aber ich halte es für bedenklich in doppelter Hinsicht: Einmal, die Prüfung von Meinungsäußerungen auch im Vorfeld strafrechtlicher Relevanz und dann noch durch private Einrichtungen, die mitunter staatlich finanziert werden, aber keiner demokratischen Legitimation und Kontrolle unterliegen.“

Er hält es für „gefährlich, wenn zivilgesellschaftliche Organisationen für sich den Alleinanspruch geltend machen, zu wissen, was Demokratie bedeutet, diese Demokratie ausschließlich in ihrem Sinne schützen zu wollen, und dabei einen entsprechenden Druck auf staatliche Institutionen ausüben.“

Kurz nach der Münchner Rede von Vance zeigte der US-Sender CBS einen Report über eine Sonderstaatsanwaltschaft für Hasskriminalität aus Göttingen. Drei Staatsanwälte berichten dort über Durchsuchungen wegen Äußerungen, die sie als strafbar erachteten.

In der Sendung fragt die CBS-Reporterin etwa: „Wie reagieren die Leute, wenn Sie ihnen das Handy wegnehmen?“ Der Göttinger Oberstaatsanwalt antwortet: „Sie sind schockiert. Es ist eine Art Bestrafung, wenn man sein Smartphone verliert.“

Thomas Fischer, ehemals Vorsitzender Richter des zweiten Strafsenats am Bundesgerichtshof, kritisiert diese Einschätzung: „Es widerspricht der Verfassung und der staatsanwaltschaftlichen Dienstaufgabe. Die Beschlagnahmung eines Beweismittels ist keine ‚Strafe‘.“ Sein Urteil: „Die Selbstpräsentation der Justiz war von befremdlicher Unprofessionalität und laienhaft.“

WELT AM SONNTAG hat mit mehreren Staatsanwälten gesprochen. Weil sie angehalten sind, sich nicht politisch wertend zu äußern, sprechen sie anonym. Ein Jurist aus Nordrhein-Westfalen sagt über die Göttinger Kollegen: „Das erschüttert das Vertrauen normaler Bürger in den Rechtsstaat.“ Ein anderer bezweifelt, „ob vor der Hausdurchsuchung alle milderen Ermittlungsmöglichkeiten ausgereizt waren“.

Ein systemisches Problem will indes keiner der Befragten erkennen. Sie sprechen wie Papier und Fischer von Einzelfällen. Aber wann wird aus diesen ein Muster?

Nur 40 Prozent glauben, Meinung frei äußern zu können

Ein Staatsanwalt aus Bayern findet: „Es ist politisch gewollt, dass Schwerpunktabteilungen für Hasskriminalität besser ausgestattet werden als andere.“ Ein Berliner Kollege beobachtet trotz „grundsätzlich guter Arbeit der Kollegen, der Polizei und der Gerichte eine gesamtgesellschaftliche Bereitschaft zur Beschränkung der Meinungsfreiheit“.

Ex-Richter Fischer findet hingegen: „Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik konnten so viele Menschen, so viele voneinander abweichende Meinungen äußern. Die Behauptung, ‚man‘ dürfe heute nichts mehr sagen, ist grober Unfug.“ Laut Allensbach-Institut glauben derzeit aber nur 40 Prozent der Deutschen, sie könnten sich frei äußern, in den 70-Jahren waren es noch 83 Prozent.

Der Verfassungsschutz hat neben dem Links- und Rechtsextremismus auch die „Delegitimierung des Staates“ als Beobachtungskategorie, eingeführt in der Amtszeit des Präsidenten Thomas Haldewang von 2018 bis 2024. Personen darin wird zugeschrieben, eine „tatsächlich verfassungsfeindliche Agenda“ zu verfolgen. Dies zeige sich „in einer aggressiven Agitation gegen Repräsentanten und Institutionen des Staates, um dessen Legitimität systematisch zu untergraben.“

Haldenwang erklärte in der „FAZ“ im April 2024: „Auch unterhalb der strafrechtlichen Grenzen“ könnten „Meinungsäußerungen verfassungsschutzrechtlich von Belang sein.“ Bei einer Veranstaltung mit Innenministerin Nancy Faeser sagte er einmal: „Es geht auch um verbale und mentale Grenzverschiebungen. Wir müssen aufpassen, dass sich Denk- und Sprachmuster nicht in unsere Sprache einnisten.“

Papier bestätigt, dass der Verfassungsschutz auch nicht strafrechtlich relevante Dinge beobachten darf. „Aber er hat keine operativen Aufgaben und Befugnisse.“ Der Ex-Verfassungsrichter ist „skeptisch gegenüber dem neu eingeführten Begriff ‚Delegitimierung des Staates‘. Ich halte diese Begriffsverwendung für eine Überziehung des verfassungsschutzrechtlichen Auftrags.“

Die Äußerungen Haldewangs über Denk- und Sprachmuster, so Papier, „überschreiten nach meiner Einschätzung ganz klar seine Aufgaben. Ein Verfassungsschutzpräsident darf keine Politik betreiben. Es ist in meinen Augen eine Grenzüberschreitung, wenn er sich als eine Art Sprach- und Gesinnungspolizei betätigt. Die zuständige Bundesinnenministerin hätte ihn insoweit deutlich in die Schranken weisen müssen.“ Nancy Faeser tat es nicht. Sie veranstaltete lieber Aktionstage gegen Hass und Hetze.

Frédéric Schwilden ist Autor im Politik-Ressort. Er interviewt und besucht Dorf-Bürgermeister, Gewerkschafter, Transfrauen, Techno-DJs, Erotik-Models und Ministerpräsidenten. Er geht auf Parteitage, Start-up-Konferenzen und Oldtimer-Treffen. Sein Roman „Toxic Man“ ist im Piper-Verlag erschienen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen