„Ursprünglich trat man mit der Idee an, die einstmaligen Verfilzungen hinter sich zu lassen und mit den Erneuerbaren Energien gegen die ‚autoritäre‘ Atomkraft ein neues Zeitalter der Demokratie und der Transparenz einzuleiten. Mit sanften, ungefährlichen Energien und dezentralen Strukturen zeichnete man im grünen Milieu eine ökologische Utopie“, kommentierte Wendland die von Cicero aufgedeckten Machenschaften im Wirtschafts- und Umweltministerium, als dort 2022 die Abschaltung der letzten deutschen Kernkraftwerke trotz Energiekrise durchgesetzt wurde.
Und weiter: „Die Enthüllungen zeigen in aller Deutlichkeit, dass man für die Etablierung der Energiewende letztlich die gleichen Filzstrukturen wieder aufbaute – nur mit anderen Akteuren.“ Zur Jahrtausendwende habe die rot-grüne Koalition das politische Fundament für den Energiewende-Staat gelegt. „Grüne und Sozialdemokraten etablierten in den Ministerien in den folgenden Jahrzehnten eine Art staatliche Energiewendelobby. Beamte und Staatssekretäre trieben das große Projekt des Atomausstiegs systematisch voran.“
Die beiden veröffentlichten 2021 eine Studie mit dem Titel „Klimaneutrales Deutschland 2045 – Wie Deutschland seine Klimaziele schon vor 2050 erreichen kann“. Im Vorwort erklärten sie den von ihnen angestrebten radikalen Umbau des Energiesystems und der industriellen Landschaft zu einer „Frage unseres gemeinsamen politischen Willens und unserer Gestaltungskraft als Gesellschaft.“ Der Werdegang beider, Baake und Graichen, zeigt, wie aristokratisch der Energiewende-Staat organisiert ist.
Es ist eine Erbmonarchie, in der der Begründer der Dynastie nach wie vor misstrauisch über das Regierungsgeschehen wacht. Sein Name ist Jürgen Trittin. Der Ur-Grüne, der über den Kommunistischen Bund zur Anti-AKW-Bewegung und der sich neu formierenden linksalternativen Partei kam, betrachtet den erfolgreich durchgesetzten Atomausstieg als sein Lebenswerk. Als 1998 Rot-Grün an die Macht kam, wurde er Minister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit im Kabinett des SPD-Kanzlers Gerhard Schröder. Er war damit Chef der obersten Atomaufsichtsbehörde Deutschlands.
Als Staatssekretär holte er Rainer Baake aus Hessen, wo dieser bereits unter Landesumweltminister Joschka Fischer Kernkraftwerksbetreibern das Leben schwer gemacht hatte. In Bonn unter Trittin erhielt er den Auftrag, den bundesweiten Atomausstieg durchsetzen. Gemeinsam mit dem Minister verhandelte Baake mit den Energiekonzernen, die im Juni 2000 einer schleichenden Stilllegung ihrer hochprofitablen Reaktoren zustimmten. Der Grünen-Basis ging das zwar nicht schnell genug, doch für Trittin war es ein epochaler Erfolg. Um so wichtiger war und ist es ihm, ihn zu verteidigen. Und dafür setzte er auf personelle Kontinuität, die in bemerkenswerter Weise sogar Regierungswechsel überdauerte.
Erbfolger Patrick Graichen
Als die Christdemokratin Angela Merkel 2005 zum ersten Mal Bundeskanzlerin wurde, konnte sie ihr 2002 im Bundestag gegebenes Versprechen, die Atomausstiegsvereinbarung „rückgängig [zu] machen und der Kernenergie in Deutschland wieder eine Perspektive [zu] geben“, nicht in die Tat umsetzen. Denn sie bildete eine Koalition mit den Sozialdemokraten, bei denen sich der angegrünte, kernkraftkritische Flügel (angeführt von Hermann Scheer) durchgesetzt hatte. SPD-Umweltminister Sigmar Gabriel machte da weiter, wo Trittin aufgehört hatte. Gabriel ersetzte zwar dessen Staatssekretär Rainer Baake durch einen Sozialdemokraten, doch Baakes wichtigster Schüler, sein persönlicher Referent Patrick Graichen, blieb im Ministerium und wurde unter Gabriel Referatsleiter für Klima- und Energiepolitik.
Eine Bundestagswahl später machte sich Merkel mit dem Koalitionspartner FDP daran, zwar keine grundsätzliche Abkehr vom Atomausstieg, aber eine Laufzeitverlängerung durchzusetzen. Doch dann kam es 2011 in Japan zu einem Reaktorunglück, in dessen Folge sich Merkel (auch auf Druck von Markus Söder, der damals bayerischer Umweltminister war) für ein Ende der Kernkraft bis zum Jahr 2022 entschied. Die antinukleare Energiewende wurde zur parteiübergreifenden Staatsdoktrin.
Harte Wirtschaftsinteressen
Mit Deutschlands totaler Hinwendung zu den „Erneuerbaren“ wuchs unterdessen auch das Interesse des Großkapitals. Energiekonzerne verwandelten sich in Grünstromerzeuger. Und die einst von Idealisten geprägte Windkraft- und Solarbranche wuchs dank der planwirtschaftlichen Förderung durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) zu einer milliardenschweren Industrie heran.
Die frühere Grünen-Politikerin Michaele Hustedt, die als „Mutter“ des EGG gilt, beäugte diese Entwicklung im Nachhinein kritisch. Beim Schreiben des Gesetzentwurfs hätte die rot-grüne Parlamentariergruppe Unterstützung durch den Bundesverband Erneuerbare Energien gehabt, „denn der war damals noch kein Wirtschaftsverband, sondern eher ein Akteursverband, ein Verband, deren Mitglieder etwas für Klimaschutz und Erneuerbare Energien tun wollten“, sagte die ehemalige Bundestagsabgeordnete 2017. „Heute haben wir es mit harten Wirtschaftsverbänden zu tun. Ich sage das nicht als Vorwurf, sondern es ist eben Business geworden, und da stecken auch Leute drin, deren ökologische Motivation nur noch eine von vielen ist.“
Problematisch an dieser Branche ist ihre Abhängigkeit von der Politik. Ohne das immer komplizierter gewordene Regelwerk des EEG hätten die meisten Betreiber von Windkraft- und Photovoltaikanlagen in Deutschland wohl kaum eine Chance, am Strommarkt zu bestehen. Für die Erneuerbaren-Branche ist es daher existenzentscheidend, dass es ihren Lobbyisten gelingt, die Nähe zu Politik und Bürokratie zu finden, um die Ausgestaltung des Energiesystems zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Und das ist ihnen in den bald zweieinhalb Jahrzehnten der Energiewende so gut gelungen wie keiner anderen Branche jemals zuvor. Sie sind sich so nahe gekommen, dass zwischen Energiewende-Bürokraten und Energiewende-Lobbyisten nicht mehr zu unterscheiden ist.
Agora Energiewende
Nach dem schwarz-gelben Atomkraft-Schwenk 2011 witterten zwei Männer ihre große Chance, die deutsche Energiepolitik mit strategischem Weitblick und viel Geld mitzugestalten: Bernhard Lorentz und Hal Harvey. Lorentz war damals Chef der von Erben des Metro-Handelskonzerns gegründeten Stiftung Mercator, die er ganz auf das Thema Klimaschutz ausgerichtet hatte. Hal Harvey war sein großes Vorbild aus den USA, der mit den Dollars amerikanischer Milliardäre ein weitverzweigtes Netz aus Klimaschutzorganisationen aufgebaut hat.
In einem 2022 erschienenen Porträt beschrieb die Wochenzeitung Die Zeit Hal Harvey als jemanden, der zwar im Hintergrund wirkt („aus dem Schatten heraus, mit sehr viel Geld und sehr viel Einfluss“), aber offen und stolz darüber spricht. „Bei einem Treffen in Berlin erzählt er, wie er über Jahrzehnte Kampagnen orchestriert, Stiftungen gegründet und Vertraute in die richtigen Positionen gebracht hat – bis in die obersten Etagen des Bundeswirtschaftsministeriums. Jetzt sind seine Leute an der Regierung und übersetzen seine Ideen in Politik.“
Lorentz und Harvey gründeten 2012 Agora Energiewende in Berlin, eine finanziell und personell bestens ausgestattete Lobbyorganisation, die das amerikanische Modell des Thinktanks auf Deutschland übertrug. Zum Gründungsdirektor machten sie den Grünen-Politiker Rainer Baake. Der hatte sich als Staatssekretär unter Umweltminister Trittin den Ruf erarbeitet, der „Manager der Energiewende“ zu sein. Mit dem Regierungswechsel 2005 verließ er die Politik und wurde Geschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe. Ab 2012 baute er Agora Energiewende auf und wechselte keine zwei Jahre später, Anfang 2014, zurück in den Staatsapparat.
Stiftung Klimaneutralität
In Merkels zweitem schwarz-roten Kabinett erhielt SPD-Chef Sigmar Gabriel das Wirtschaftsministerium, das fortan auch für die Umsetzung der Energiewende zuständig sein sollte. Bislang war dieses Thema im Umweltministerium angesiedelt. In jenen Fluren des Wirtschaftsministeriums, durch die noch der Geist Ludwig Erhards wehte, machte man sich damals die Hoffnung, die Energiepolitik werde durch den Zuständigkeitswechsel marktwirtschaftlicher gestaltet. Doch das Gegenteil sei eingetreten, berichtet ein Ministerialbeamter, der anonym bleiben will. „Nicht wir haben die Energiewende geprägt. Sondern die Energiewende-Leute aus dem Umweltministerium haben uns unterwandert.“
Zum zuständigen Staatssekretär machte der Sozialdemokrat Gabriel den Grünen Rainer Baake. Bei Agora Energiewende übernahm daraufhin Baakes Stellvertreter den Chefposten: Patrick Graichen, der schon dessen persönlicher Referent im Umweltministerium war und 2012 aus dem Staatsdienst zur stiftungsfinanzierten Lobbyorganisation gewechselt war.
Agora-Direktor blieb Graichen bis Ende 2021. Dann gelang ihm derselbe Karriereschritt wie seinem Mentor und Vorgänger: Robert Habeck ernannte Graichen zum Energie-Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium. Baake hatte das Ministerium wieder verlassen, als es 2018 an die CDU fiel. Mit Bernhard Lorentz und Hal Harvey gründete er 2020 die Stiftung Klimaneutralität, deren Direktor er seitdem ist.
Klimaneutralität als Staatsziel
Im April 2021 veröffentlichte die Stiftung gemeinsam mit Agora Energiewende die Studie „Klimaneutrales Deutschland 2045“. Wenige Tage darauf erklärte das Bundesverfassungsgericht in einem Aufsehen erregenden und unter Staatsrechtlern umstrittenen Beschluss die Erreichung der Klimaneutralität zum Staatsziel, das der demokratischen Willensbildung im Parlament entzogen ist. Daraufhin verschärfte die schwarz-rote Koalition hektisch ihr Klimaschutzgesetz. Das Zieljahr 2045 ist seitdem darin festgeschrieben.
Wie schnell
diese von Trittins wichtigstem Mann, Baake, und dessen Erbfolger
Graichen postulierte politische Idee gesetzliche Realität wurde, ist
fast schon unheimlich. Und nun landet diese Idee sogar noch in der über
den einfachen Gesetzen stehenden Verfassung, die nur mit einer
Zweidrittelmehrheit zu ändern ist. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.
Doch wenn sie der Energiewende-Staat einmal hat, gibt er sie nicht
wieder her.
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