Sie war angezählt und Friedrich Merz entrüstet: 2,6 Millionen Wähler, die der Union die Erststimme gegeben hätten, so rechnet er es ihr in der Wirtschaftswoche vor, hätten CDU und CSU die Zweitstimme bewusst verweigert.
"Das Potenzial der CDU kommt in den Erststimmen mit 40,8 Prozent zum Ausdruck. Nur 35,2 Prozent bei den Zweitstimmen sind eine überdeutliche Antwort der Wähler an Wahlprogramm und personelles Angebot der Union."
Das saß.
Und für alle, die noch immer nicht verstanden, was er meinte, legte er
nach. Die Union habe zwar jetzt „den Auftrag zur Regierungsbildung“, nur
von Merkel war bewusst nicht die Rede.
„Die gigantischen Haushaltsprobleme“, so Merz damals,
ließen sich „mit Fiskalpolitik“ (sprich: Sparen, Schulden und
Steuererhöhungen) nicht lösen, weshalb man ein erhöhtes
Wirtschaftswachstum brauche – oder einen wie ihn. Wenn ohnehin abzusehen
sei, dass die Lösung der wirtschaftlichen Probleme mit ihr nicht
gelinge? Merz:
"Dann sollte man der großen Koalition schon am Anfang ein schnelles Ende wünschen. Alles andere kostet nur noch mehr Zeit".
Merz war damals nicht mit der Macht, sondern mit der Mehrheit. Das Handelsblatt kommentierte:
"Merz spricht offen aus, was in der Union viele denken".
Womit wir in der Gegenwart gelandet wären. Geschichte wiederholt sich offenbar doch. Jedenfalls hat innerhalb der Union auf die erneute Große Koalition niemand Lust, wahrscheinlich nicht mal Merz selbst – weswegen er schon jetzt öffentlich nach einem neuen Namen sucht.
Das Pikante: Der Hauptakteur ist zugleich der Hauptbetroffene und der Hauptschuldige einer Situation, die er nicht gewollt und dennoch herbeigeführt hat. Das ruft unweigerlich Franz Kafka auf den Plan:"Der Umgang mit Menschen verführt zur Selbstbeobachtung".
Um Friedrich Merz diese Introspektion zu erleichtern, hier fünf Anmerkungen zum Zustand der Union.
#1 Das gebrochene Versprechen
Friedrich Merz wollte der große Klare sein: Ein Mann, der sagt, was er denkt und tut, was er sagt.
Doch seine Partei sieht in ihm nun den Mann der gebrochenen Versprechen. Er wollte die AfD halbieren, die Staatsfinanzen ordnen und in Deutschland eine Migrationswende vollziehen.
Bemerkenswert ist: Noch bevor Merz den Fuß ins Kanzleramt gesetzt hat, sind seine Kernversprechen gebrochen. Die AfD triumphiert und liegt in den aktuellen Umfragen nur noch zwei Prozentpunkte hinter der Union; kurz nach der Wahl wurde das große Schuldenpaket beschlossen und Zurückweisungen an der Grenze wird es nicht geben. Durch Stefan Zweig hätte Merz gewarnt sein können:
"Wahrheit und Politik wohnen selten unter einem Dach".
#2 Willkommen im Gefängnis der SPD
„Unter meiner Führung wird es keine Kooperation zwischen der CDU und der AfD geben.“ Dieses Enthaltsamkeitsgelübde ist moralisch ehrenhaft und politisch unklug. Denn damit begibt sich Merz in ein Haus, das für ihn nur ein Zimmer ohne Aussicht zu bieten hat. Sir Winston Churchill hätte vor der Wahl zur Verschwiegenheit geraten:
Ein wahrer Diplomat ist ein Mann, der zweimal nachdenkt, bevor er nichts sagt.
Merke: Wer ein Haus mit mehreren Zimmern unterschiedlicher Preisklassen betritt, befindet sich im Hotel. Wer ein Haus betritt, in dem das Zimmer zugewiesen und die Tür von außen verriegelt wird, befindet sich im Gefängnis.
Merz sieht in seiner Sammelzelle, die er sich mit Lars Klingbeil und Saskia Esken teilen
muss, keine Sonne, nur Gitterstäbe. Als Gefangener der SPD ähnelte sein
Programm dem, was er sich eigentlich für illegale Migranten ausgedacht
hatte: Brot. Bett. Seife.
#3 Mann ohne ausreichende Legitimation
Merz fehlt es auch deshalb an Durchsetzungskraft, weil seine Legitimation die schwächste ist, die je ein Regierungschef im Nachkriegsdeutschland besessen hat. Bei der Wahl holte die Merz-CDU – rechnet man Söders CSU heraus – nur 22,6 Prozent der Stimmen. Selbst mit den sechs Prozent der CSU reichte es insgesamt für nicht mehr als das zweitschlechteste Ergebnis in der Parteigeschichte.
Zum Vergleich: Bei der Bundestagswahl 2013 holte die Union unter Merkel
41,5 Prozent (ohne die CSU 34,1 Prozent). Vier Jahre später – erneut
unter Merkel – erreichte man gemeinsam 33 Prozent (ohne die CSU 26,8
Prozent). Adenauer (50,2 Prozent) und Kohl (48,8 Prozent) kämpften ohnehin in einer anderen Gewichtsklasse.
#4 Es gibt kein Machtpoker, dafür viel Palaver
Die bisherigen Koalitionsverhandlungen sind ebenfalls exakt das Gegenteil dessen, was versprochen war. Sie sind weder lautlos, noch effektiv. Nachdem die CDU ohne Gegenleistung einer Reform der Schuldenbremse und damit einer Neuverschuldung von mindestens einer Billion Euro zugestimmt hat, bewegt sich nichts mehr. Die SPD kommt vor Lachen kaum in den Schlaf.
Die Koalitionsgespräche, wo in 16 Arbeitsgruppen 256 Personen miteinander Kaffeetrinken und Positionen austauschen, gleichen einer großen Therapiestunde. Den 96 Verhandlern der CDU, assistiert von 48 CSUlern, stehen 112 Genossinnen und Genossen gegenüber. Wer die Selbstgewissheit in den Gesichtern der SPD-Delegation sieht, könnte meinen, die Sozialdemokraten haben mit einem Erdrutschsieg die Bundestagswahl gewonnen.
#5 Attraktives Konkurrenzangebot
Die Union ist unruhig geworden. In der Führung grummelt
es, aber an der Basis herrscht das blanke Entsetzen. Wer sich inmitten
dieser Düsternis einen Lichtblick verschaffen will, schaut in die
Staatskanzlei von Düsseldorf.
Dort steht NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst in den Startlöchern. Sein Auftritt am Dienstagabend bei Sandra Maischberger darf als vornehme Art der Bewerbung verstanden werden.
Zum Wahlerfolg der Union sagte er: „Wenn eine Regierung, wo ja alle unsere politischen Mitbewerber aus der Mitte drin waren, fast 20 Prozent verliert, und wir gewinnen in Summe nur vier Prozent, dann ist das kein gutes Ergebnis. Da beißt die Maus keinen Faden ab!“
Seine Umfragewerte geben ihm recht: In NRW holten die Christdemokraten nach Bayern und Rheinland-Pfalz das drittbeste Ergebnis (30,1 Prozent). Und auch in den Beliebtheitswerten rangiert Wüst auf Platz drei, deutlich vor Merz (Platz fünf).
Fazit: Die Pointe der Geschichte ist, dass sich der Nach-Wahl-Poker von 2005 zwar wiederholt, aber mit neuer Rollenverteilung. Friedrich Merz spielt heute – notgedrungen – die damalige Merkel. Aber wer spielt den neuen Merz? Das Casting hat begonnen, am Drehbuch wird noch geschrieben.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen