16 März 2025

Der andere Blick: Die Demokratie ist so lebendig wie schon lange nicht mehr (NZZ)

Thema der Woche:

Die Demokratie ist so lebendig wie schon lange nicht mehr(NZZ)

Das Jammern über den Zustand der Demokratie ist längst eine Waffe, um Andersdenkende mundtot zu machen und so in letzter Konsequenz die Demokratie selbst einzuschränken. Die selbsternannten Retter der Volksherrschaft folgen dabei einem festen Plan.

Von Eric Gujer, 15.03.2025, Chefredakteur  NZZ

Phase 1: Keine Parlamentsrede und kein Leitartikel kommt ohne die Warnung aus, die Demokratie sei in Gefahr. Die üblichen Verdächtigen sind Putin, Trump, Orban und die AfD. Auch der Journalismus und die Zivilgesellschaft seien bedroht.

Phase 2: Sobald sich der Glaube, die Demokratie sei gefährdet, durchgesetzt hat, wird diese mit juristischen, politischen und finanziellen Mitteln verteidigt. Es versteht sich von selbst, dass die Verteidigung politisch nicht neutral ist. Sie richtet sich immer gegen «rechts». Das können Rechtsextreme, die AfD oder die CDU sein.

Eine Industrie von «Demokratie-Experten» untersucht den Zustand der Volksherrschaft. Fragen nach ihrer Unabhängigkeit wischt die Industrie vom Tisch: «Die Demokratie zu verteidigen, bedeutet keine parteiische Einmischung.» Selbstbewusster hat kaum jemand seine Selbstermächtigung formuliert. In der Pandemie wurde «die» Wissenschaft als widerspruchsfreier Monolith behandelt. Die Politik instrumentalisierte «die» Wissenschaft für ihre Zwecke. Heute ist «die» Demokratie ein solcher Monolith, und die Industrie bestimmt, was zu ihr gehört und was nicht.

Phase 3: Was nicht passt, wird ausgegrenzt. Wenn das EU-Parlament Ungarn verächtlich als «elektorale Autokratie» taxiert, geht das in Ordnung. Wenn der US-Vizepräsident Vance Deutschland einen Mangel an Meinungsfreiheit vorwirft, kennt die Aufregung keine Grenzen. Die Schlagseite ist offenkundig. Die Musterdemokraten zeichnen sich durch zwei Eigenschaften aus: Selbstgerechtigkeit und Bigotterie.

Wenn der Staat die Zivilgesellschaft simuliert

Das beste Beispiel für den geradezu obsessiven Schutz der Verfassungsordnung, der in sein Gegenteil umschlägt, ist Deutschland. Bereits im Jahr 2010 trat dort ein Gesetz in Kraft, das die Kinderpornografie eindämmen sollte, aber zugleich weitgehende Vollmachten zur Zensur von Internet-Inhalten schuf. Die Idee, man müsse den digitalen Raum intensiv überwachen, fand hier einen frühen gesetzgeberischen Niederschlag.

Das Gesetz wurde zwar bald aufgehoben. Zu gross war die Kritik. Zu gross erschienen die Nebenwirkungen für die politische Kultur.

Die Autorin des Gesetzes, Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen, fand aber bald darauf in Brüssel die Bühne, um ihre Vorstellungen europaweit durchzusetzen. Von der Leyen erhielt damals den Spottnamen «Zensursula». Er steht repräsentativ für eine Geisteshaltung, deren Objekte austauschbar sind. Bald schon standen die Hassrede und die Gefährdung der Demokratie durch Internet-Konzerne und Autokraten im Zentrum.

Noch immer ist Deutschland ein Land, wo die Engführung des Diskurses durch den Staat ausgiebig praktiziert wird. Vor der Kamera ruinierten drei niedersächsische Staatsanwälte den Ruf des Rechtsstaats, indem sie feixend erzählten, wie die Polizei Bürger aus dem Schlaf reisst, weil diese in den sozialen Netzwerken angeblich die Grenzen der Meinungsfreiheit überschritten haben.

Dies kann in Deutschland allerdings schon dann der Fall sein, wenn man einen Politiker im Internet als «Schwachkopf» tituliert. Lachend schilderten die Strafverfolger, wie die Beschlagnahme des Handys meist die grösste Strafe darstelle, schwerer noch als eine hohe Geldstrafe.

Die Staatsmacht schlägt hart zu. Die politische Entsprechung ist die konstante Drohung, die AfD zu verbieten. Das Verbot der zweitstärksten Partei würde endgültig die Bekämpfung des Autoritären selbst ins Autoritäre umschlagen lassen.

Die fehlende Verhältnismässigkeit blieb lange unhinterfragt – auch weil die Repression ein zweites, freundliches Gesicht besitzt: die Förderung. An vorderster Front dabei zwei Bastionen des rot-grünen Justemilieu: das Innen- und das Familienministerium mit ihren Millionen-Etats.

Ein typisches Beispiel für den Förderexzess ist die Amadeu-Antonio-Stiftung. Sie widmet sich dem Kampf gegen «Rassismus und rechte Gewalt». Für das Jahr 2023 weist sie Einnahmen von 9,5 Millionen Euro aus. Zwei Drittel sind Zuschüsse der öffentlichen Hand.

Eine NGO, die hauptsächlich durch den Staat finanziert wird, ist eines gewiss nicht mehr: eine Nichtregierungsorganisation. Sie wird unvermeidlich zum Instrument der politischen Interessen einer Regierung und der hinter ihr stehenden Parteien.

Wenn parastaatliche Organisationen eine unabhängige Zivilgesellschaft nur noch simulieren, während Parteien im Hintergrund die Fäden ziehen, ist der Protest dagegen der Notruf einer immer noch lebendigen Demokratie: Die Macht soll zurückkehren in den transparenten Raum der Parlamente, weg von der undurchsichtigen Pseudo-Zivilgesellschaft.

Die Demokratie-Industrie mit Staatsanwälten, Wissenschaftern, Fördergremien und willigen Stiftungen ist längst zum Selbstzweck geronnen. Die Mär von der gefährdeten Demokratie perpetuiert sich selbst. Dabei geht es ihr so gut wie lange nicht mehr.

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Nach dem Ende des Kalten Kriegs sank die Wahlbeteiligung in vielen westlichen Staaten. Die Experten, die es schon damals reichlich gab, warnten vor einer Demokratie ohne Demokraten. Die Deutschen lernten ein neues Wort: Politikverdrossenheit.

Bei den jüngsten Wahlen in den USA und Deutschland hingegen erreichte die Wahlbeteiligung wieder einen Hochstand. Ihre Stimme abzugeben, ist den Bürgern wichtig. Wahlen sind für sie kein überflüssiges Alibi, dem man genauso gut fernbleiben kann.

Der Grund dafür ist einfach: Es geht um die Wurst. In Europa herrscht ein neuer kalter Krieg mit Russland. In Asien rivalisieren China und Amerika um den Platz an der Sonne. Die Epoche nach dem Kalten Krieg war eine Zeit der Windstille. Jetzt sind die grossen Fragen zurückgekehrt. Nach der Windstille herrscht Sturm. Das belebt die Demokratie.

Zugleich haben die Wähler wieder echte Alternativen. Die Antworten von Rechtspopulisten, Linkspopulisten und den Parteien der Mitte unterscheiden sich markant.

Vor fünfzehn Jahren war das ganz anders. Kanzlerin Merkel war stolz darauf, dass sie den Wahlkampf in eine einschläfernde Pflichtübung verwandelt hatte. Endlich ist die Zeit des alternativlosen Einheitsbreis vorbei.

Ohne das Risiko des Scheiterns gibt es keine kraftvolle Demokratie

Die Demokratie ist nicht im Sinkflug. Das ist nur eine optische Täuschung, weil die Demokratie nach dem Urknall von 1989 in schwindelerregender Weise expandierte.

Überall in Osteuropa entstanden neue Demokratien. Verfassungsgerichte schossen aus dem Boden und verteidigten die Menschenrechte in zuvor nicht gekannter Vehemenz. Zugleich erlebte Europa mit den EU-Verträgen von Maastricht, Nizza und Lissabon einen Zentralisierungsschub. Kompetenzen wanderten von den Nationalstaaten nach Brüssel, angefangen bei der Währungsunion. In nur fünfzehn Jahren veränderte sich die europäische Demokratie stärker als in der gesamten Nachkriegszeit.

Auf den Urknall folgt jetzt die Konsolidierung. Der Erfolg nationalistischer Parteien markiert eine Gegenbewegung und ist damit ein Zeichen der Vitalität von Demokratie. Richter, Bürokraten, Diplomaten und supranationale Institutionen von der EU bis zur Uno rufen Skepsis hervor. Die Ursache ist immer dieselbe: ein Unbehagen darüber, dass die Volksrechte in einem anonymen Niemandsland verlorengehen könnten. Denn der Souverän in der Demokratie ist das Volk, nicht die Technokratie.

So versuchte der aktivistische Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, in einem Prozess gegen die Schweiz ein Grundrecht auf Klimaschutz zu schaffen. Unter der Führung eines Sozialdemokraten wehrte sich das Parlament in Bern dagegen. Es verbat sich die Anmassung der Strassburger Richter.

Zuvor hatte das Schweizer Parlament bereits den Uno-Migrationspakt abgelehnt. Solches internationales Soft Law verpflichtet die Staaten zunächst zu wenig, dient dann aber in der innenpolitischen Auseinandersetzung dazu, bestimmte Positionen wie eine Ausweitung des Asylrechts zu legitimieren. Es ist das Futter, von dem die Demokratie-Industrie lebt.

In der Schweiz mit ihrem mild anarchischen Staatsverständnis fällt die Kritik an abgehobenen Mächten und fremden Richtern auf fruchtbaren Boden. Die direkte Demokratie bezieht davon Impulse und hat es so geschafft, die nationalistische SVP zu integrieren.

Im etatistischen Deutschland weckt dieselbe Kritik grundsätzliche Abwehrreflexe. Solch rechtschaffener Fundamentalismus – die Brandmauer ist eine Spielart davon – lässt nur Verlierer zurück. Die einen fühlen sich ausgegrenzt und wählen erst recht AfD. Die anderen sehen durch den Zulauf für die Nationalisten die Verfassungsordnung bedroht und rufen nach noch mehr Repression und Fördermitteln für die «richtige» Denkungsart.

Doch die Demokratie muss sich verändern können auch um den Preis ihrer Gefährdung. Wird die «richtige» Form künstlich konserviert, verdorrt die Demokratie. Sie ist dann keine lebendige Einrichtung mehr, sondern wird zum Museum eines imaginären Idealzustandes.

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