16 Oktober 2024

The Pioneer - Das Ende der Meinungsfreiheit?

The Pioneer  Hauptstadtbriefing
Das Ende der Meinungsfreiheit?
Karin Moßbauer, Luisa Nuhr, Mittwoch, 16.10.2024
Staat umgeht Grundgesetz: Die Zensur wird privaten Plattformen überlassen, die als „Vorfeldorganisationen“ des Staates die Nutzungsbedingungen auf ihren Plattformen wesentlich enger als das Grundgesetz auslegen können.
Verfassungsrechtler Volker Boehme-Neßler kritisiert das Digitale-Dienste-Gesetz und die Einrichtung sogenannter „vertrauenswürdiger Hinweisgeber“ als „klar verfassungs- und demokratiefeindlich“. Unserem Kollegen Jan Schroeder sagt er: „Hier wird eine Struktur geschaffen, die nicht nur illegale Inhalte bekämpfen soll, sondern missliebige Meinungen zensiert.“
Darum geht es: Anfang Oktober hat die Bundesnetzagentur mit der Meldestelle REspect den ersten „vertrauenswürdigen Hinweisgeber“ zugelassen. Die Mitarbeiter des Vereins sollen „flaggen“, was sie für rechtswidrig halten. Anschließend müssen die Plattformen solche Hinweise „priorisiert“ bearbeiten. Falls sie rechtswidrige Inhalte nicht löschen, drohen empfindliche Vertragsstrafen.
Plattformen werden zu „Overblocking“ gedrängt: Unter diesen Bedingungen würden die Plattformen vorsorglich wahrscheinlich alles löschen, was „geflaggt“ werde, so der Verfassungsrechtler. Kritiker sprechen von „Overblocking“.
Außerdem sei offensichtlich, dass die „vertrauenswürdigen Hinweisgeber“ nicht nur, wie der Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller (Grüne), nach Kritik von Welt und Bild öffentlich versichert, strafbare, sondern auch etliche Inhalte unterhalb der Strafbarkeitsgrenze beanstanden werden. Das macht der Leitfaden zur „Zertifizierung als Trusted Flagger“ von Müllers Bundesnetzagentur deutlich, den wir ausgewertet haben. Diesem Leitfaden zufolge sollen neben strafbaren Inhalten wie Volksverhetzung und Holocaustleugnung auch folgende „unzulässige“ Inhalte gelöscht werden:
  • „Informationsmanipulation“ und „ausländische Einflussnahme“

  • Inhalte mit „Negativen Auswirkungen auf den zivilen Diskurs oder Wahlen“ und „Nicht einvernehmliches Verhalten“

  • Verletzung von „Geschäftsgeheimnissen“, Persönlichkeitsrechten und von „Geschmacksmustern"

  • „Tierschutzverstöße“

  • „Gefährdung der öffentlichen Sicherheit“, womit auch Inhalte gemeint sind, die „die Gefahr von Umweltschäden“ nach sich ziehen könnten oder aber die „öffentliche Gesundheit“ gefährden

  • Inhalte, „die Essstörungen fördern“

Was das alles sein soll, sei so schwammig definiert und könne so weitreichend ausgelegt werden, dass der Willkür Tür und Tor geöffnet werde, so Boehme-Neßler. Und weiter:

Das ist der Anfang vom Ende der Meinungsfreiheit.

Er fordert, die Bekämpfung von strafbaren Inhalten im Internet müsse weiterhin rechtsstaatlich abgesichert sein und vollumfänglich Aufgabe von Polizei und Gerichten bleiben. Eher sollte der Staat wie beim Medienkartellrecht darauf hinwirken, dass die großen Plattformen mit monopolähnlicher Stellung die Meinungsfreiheit durch ihre Nutzungsbedingungen nicht zu sehr einschränken.

„Die Wahrung der wichtigsten Freiheit in einer Demokratie, der Meinungsfreiheit, wird hier juristischen Laien überlassen“, sagt Boehme-Neßler. Über die vielen schwierigen Grenzfälle der Meinungsfreiheit, etwa, was die Abwägung im Fall von Geschäftsgeheimnissen, Persönlichkeitsrechten und hässlichen und hasserfüllten Aussagen angeht, die oft eben nicht strafbar sind, sei ein Urteil für juristische Laien schlicht unmöglich.

Auf solche Fälle spezialisierte Juristen scheint es bei der Meldestelle REspect, die von dem Islamwissenschaftler Ahmed Gaafar geleitet wird, nicht zu geben. Stattdessen verweist die Homepage vage auf „sozialpädagogische, juristische und religionspädagogische Qualifikationen“ der Hinweisgeber.

„Das sind Theologen, Sozialpädagogen und Geisteswissenschaftler, die Wert auf Sprachsensibilität legen und gegen Diskriminierung engagiert sind, aber keine Ahnung davon haben, wie weit die Meinungsfreiheit geht und wie wichtig sie für unsere Demokratie ist“, sagt Boehme-Neßler.

Staat umgeht Grundgesetz: Denn die Zensur wird den privaten Plattformen überlassen, die die Nutzungsbedingungen auf ihren Plattformen wesentlich enger als das Grundgesetz auslegen können. Dahinter steht allerdings ein massiver Druck des Staates und seiner „Vorfeldorganisationen“ wie dem Verein REspect, der tatsächlich, wie ein Blick auf die Förderer des Vereins auf der Homepage belegt, nahezu vollständig von staatlichen Geldern abhängt. Damit werden die vermeintlich privaten Regeln der Plattformen in Wirklichkeit aufgrund staatlicher Vorschriften gemacht, wie sie im Digitale-Dienste-Gesetz und dem europäischen Digital Services Act definiert sind.

So werde die Meinungsfreiheit auf den für den öffentlichen Diskurs entscheidenden Plattformen de facto ausgehebelt, so Boehme-Neßler. Grundsätzlich können von Zensur Betroffene dagegen zwar klagen und sich auf die Meinungsfreiheit berufen. Ob das viel helfe, bezweifelt der Rechtswissenschaftler aber. „Im Internet findet die für unsere Gegenwart relevante öffentliche Diskussion statt, aber die Plattformen sind formal-juristisch gesehen private Räume, die selbst entscheiden können, was zulässig ist und was nicht.“

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