27 Oktober 2024

Die westliche Wert- und Weltordnung erodiert auf vielen Ebenen – die Zeit zum Gegensteuern läuft ab (NZZ)

Die westliche Wert- und Weltordnung erodiert auf vielen Ebenen – die Zeit zum Gegensteuern läuft ab
(NZZ)
Der Westen befindet sich in einer intellektuellen und geistigen Krise: Wissen wird nicht mehr verinnerlicht, Wahrheiten werden erfühlt, Selbstwiderspruch stört nicht mehr, Diskursverweigerung nimmt zu. Es sieht nicht gut aus für den Fortbestand von Freiheit und Demokratie.
Von Dietmar Hansch, 15.04.2024, 6 Min.
Der Fortschritt der Menschheitsgeschichte basiert auf dem allmählichen Erstarken der Rationalität. In der Moderne gewann der Geist der Vernunft die Oberhand über die archaischen Instinkte, die unser Verhalten im Dienste von Art- und Machterhaltung seit Urzeiten prägten. Dank der Aufklärung und mit den Mitteln von Revolution und Reform gelang es den europäischen Gesellschaften zunehmend, Eigen- und Gruppeninteressen den Prinzipien von Moral und Gesetz zu unterstellen.
Die Epochenwende von 1989 brachte mit dem Ende des real existierenden Sozialismus einen Triumph des Freiheits- und Gerechtigkeitsgedankens, was manche veranlasste, vom «Ende der Geschichte» zu sprechen. Danach schien das Prinzip der wissenschaftsbasierten, rechtsstaatlich verfassten liberalen Demokratie weltweit konkurrenzlos gesiegt zu haben.
Flexible Zusammenschlüsse
Während der vormoderne Mensch fest in die Netzwerke von Clans und Stämmen integriert war und sein Verhalten streng nach deren Erfordernissen ausrichtete, definiert sich der moderne Mensch als Individuum, das seine persönlichen Fähigkeiten zu entwickeln trachtet, einen analytischen Geist ausbildet und sein Verhalten rationalen Prinzipien unterwirft. Diese modernen Individuen lösen sich in der Neuzeit aus den starren, auf genetischer Verwandtschaft basierenden Sozialstrukturen, werden mobil und bilden zunehmend Institutionen durch flexiblen und freiwilligen Zusammenschluss nach den Erfordernissen des Geistes, in Form von Städten, Zünften, Universitäten, Unternehmen, modernen Staaten.

Während man für sich selber grösstes Verständnis einfordert, versagt man dem anderen die Empathie.

Dieser Prozess wurde entscheidend gefördert durch die Ehe- und Familienpolitik der katholischen Kirche: Verbot von Viel- und Verwandtenehe, Förderung der monogamen Kernfamilie mit entsprechenden Erbschafts- und flexiblen Wohnsitznormen, Förderung einer geistig-religiös begründeten Identität. Ebenso bedeutsam war die Förderung von Alphabetisierung und allgemeiner Lesekultur durch den Protestantismus: Jeder Christ war angehalten, die Bibel selbst zu lesen.

All dies und der langsam in Gang kommende technologische Fortschritt traten in ein Verhältnis wechselseitiger Verstärkung – mit tiefgreifenden Konsequenzen für Gehirnfunktion und Psychologie. Selbstdisziplin und Arbeitsethik verbesserten sich. Die Regeln von Logik und Wissenschaftlichkeit wurden erkannt und gelernt.

Es gelang zunehmend, den Denkraum von ausserrationalen Einflüssen wie Instinkten und Emotionen abzuschirmen. Durch Wissensaneignung entstanden umfassende innere Modelle, welche die äussere Lebenswelt in immer mehr Facetten abbildeten und komplexe Abwägungsentscheidungen in Bezug auf das Gesellschaftsganze ermöglichten. Theoretische und diskursive Kompetenz entwickelten sich: Dem entwuchs das Bewusstsein, dass der Einzelne perspektivisch beschränkt ist und die Welt immer nur in unvollständigen mentalen Modellen zu erfassen vermag, die niemals ein absolut wahres Abbild der gesamten Realität liefern.

So wurde es möglich, sich in den anderen hineinzuversetzen, um im gewaltfreien Diskurs kreativ mit Meinungen umzugehen und sachlichen Erkenntnisfortschritt zu erzielen.

In dieser Entwicklung kam immer mehr zum Tragen, was die Psychologie als Kohärenzgefühl bezeichnet. Menschen geniessen kohärente Abläufe desto mehr, je komplexer und stimmiger sie geraten. Finden lässt sich das beispielsweise im Erleben einer Gruppe, die im Gleichtakt und unter pulsierendem Licht zu Musik tanzt. Das gilt auch im Geistigen: Philosophen geniessen die Eleganz ihrer Gedankenfiguren, Physiker erleben ihre Theorien als schön. Solch subjektive Kohärenzorientierung hat sich oft als guter intuitiver Wegweiser in Richtung objektiver Wahrheit erwiesen.

Im entwickelten Geist entsteht so eine intrinsische Motivation, die eigene Kohärenz immer weiter zu steigern, Unverbundenes zu verbinden und Widersprüche auszuschalten. Kognitive Dissonanzen dagegen sind schwer auszuhalten. Von einem Sinnzusammenhang getragen zu sein, füllt den Menschen aus, macht ihn glücklich, ja sogar gesund.

Zeitalter der Unaufmerksamkeit


Die Pflege dieses Geistes hat nun zwei ganz zentrale psychostrukturelle Voraussetzungen, die mit Mühe und Anstrengung verbunden sind. Es muss in grossem Umfang Wissen eingelernt und verinnerlicht werden. Weiter müssen die eingelernten Wissensteile im Inneren angepasst und kohärent integriert werden, was oft eigenkreative Ergänzungen erfordert.

Diese mühevolle und langwierige innere Arbeit kann nur gelingen unter der Bedingung existenzieller Abgesichertheit, der Verfügbarkeit von Zeit und der Pflege von Konzentration. Solches zu garantieren, ist die Aufgabe von Lehrkräften und Bildungseinrichtungen auf allen Stufen.

Allerdings ist es seit dem Siegeszug der Massen- und Konsumkultur, vor allem aber seit dem Aufkommen des Internets um diese Bedingungen nicht mehr zum Besten bestellt. Die Explosion digitaler Inhalte aller Art führt zu einer dramatischen Verknappung der Ressource Aufmerksamkeit. Klicks bedeuten im Cyberspace Geld, und diese werden durch Überreizung, Zuspitzung und Emotionalisierung generiert, was zu einem Tsunami von Ablenkung führt. Bewusst werden niedere biologische Instinkte angesprochen, was Kinder und Jugendliche in die Tiktok-Sucht treibt. Auf der Strecke bleiben die Seele und der Geist.

Doch auch wer sich bemüht, seriös mit dem Internet umzugehen, begibt sich in Gefahr: Die äussere Allverfügbarkeit des Wissens untergräbt die Lernmotivation, immer weniger Wissen wird eingelernt und verinnerlicht, Hektik und Ablenkung tun das ihre, um die innere Kohärenzbildungsarbeit zu behindern.

Wohlstandsverwöhnung schlägt Anstrengungsbereitschaft. Die zunehmend fehlende gesamthafte innere Repräsentation der Welt führt zu thematischen Verengungen und zur Unfähigkeit, komplexe Abwägungen in Graustufen zu treffen. Beides fördert die Neigung zum weltanschaulichen Extremismus.

Die Folgen haben sich schleichend in den letzten zwanzig Jahren entwickelt, sie sind mittlerweile dramatisch, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen: Aufmerksamkeitsspanne, Konzentrationsfähigkeit und Selbstbeherrschung nehmen ab. Das Verständnis komplexer Texte sinkt, Jüngeren geht sogar die Grundfähigkeit für Lesen, Rechnen und Schreiben ab. Psychische Störungen nehmen seit längerem stark zu.

In den Geisteswissenschaften siegt zusehends Ideologie über Wissenschaft, Schwarz-Weiss-Denken hält Einzug, was einen Rückfall in den vormodernen Geist darstellt. Die Verabsolutierung von Opfer- bzw. Tätergruppen etwa bedeutet eine Abkehr vom universalistischen Individualismus und die Hinwendung zu Tribalismus, Clan- und Stammesdenken. Einzelaspekte, so sie denn politisch genehm sind, werden aus dem Kontext gerissen und fanatisch überhöht – etwa Fragen der Geschlechtlichkeit oder der Sprache. Auch die Klimabewegung leidet unter einer extremistischen Verengung auf das Thema CO2-Reduktion, das in den Kontext ganzheitlicher Kosten-Nutzen-Rechnungen gehört, um es mit den Folgen in anderen Bereichen abzugleichen: Energieressourcen, Wirtschaftsentwicklung, Armutsbekämpfung, Gesundheitsversorgung.

Verloren geht die Diskursfähigkeit, und es blüht der Narzissmus. Argumente werden durch Gefühle ersetzt. Was sich gut anfühlt, ist wahr, wer es anders sieht, wird beschimpft und ausgegrenzt. Während man für sich selber grösstes Verständnis einfordert, versagt man dem anderen die Empathie. Die Fähigkeit, seine Gefühlswelt von innen her, durch das Einnehmen von Gegenperspektiven, zu modulieren, geht verloren. Entsprechend laut wird der Ruf nach Schutz durch Regulierung und Gesetz.
 
Kognitive Dissonanz

In den unterkomplexen Innenwelten werden offenkundige Selbstwidersprüche entweder nicht mehr wahrgenommen oder nicht als störend empfunden: Im Namen von Antidiskriminierung werden gezielt neue Gruppen diskriminiert; Queere stellen sich an die Seite von Terrororganisationen, die sie steinigen würden; fremde Kulturen werden vergöttert, die eigene Kultur wird verachtet; Antisemitismus kann es nur rechts geben, und Frauenrechte gelten überall, nur nicht in Iran und Afghanistan; demokratisch gewählte Parteien werden im Namen der Demokratie aus dem politischen Prozess verbannt. Gar nicht zu reden von dem, was in den dunklen bis abgründig bösen Tiefen des Internets abläuft.

Die Kultur des Westens erodiert auf vielen Ebenen, und das verbindende Element ist die Selbstzerstörung des modernen Geistes, der die Bedingungen seines Gedeihens nicht ausreichend zu begreifen und abzusichern versteht. In der Weltpolitik erleben wir schleichend den Zusammenbruch der regelbasierten Weltordnung. Vormoderne Kräfte wittern Morgenluft: vom fundamentalistischen Islam über den chinesischen Ultranationalismus bis zum revanchistischen russischen Imperialismus. Sie alle riechen die Schwäche des Westens und haben längst einen hybriden Krieg gestartet, dessen Wahrnehmung sich viele im Westen aus Bequemlichkeit und Schwäche lieber verweigern.

Von einem «Ende der Geschichte» kann keine Rede sein. Die aufgeklärte westliche Welt muss vielmehr aufpassen, nicht selbst Geschichte zu werden. Um dem vorzubeugen, muss der Westen sich auf seine Herkunft besinnen. Nur wenn wir verstehen, warum wir so erfolgreich geworden sind, besteht die Chance auf eine geistige Renaissance und eine Rückkehr in die Zukunft.

Dietmar Hansch ist Arzt, Psychotherapeut und Publizist. Bis 2023 leitete er den Schwerpunkt Angsterkrankungen an der Privatklinik Hohenegg in Meilen.

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