Darauf antwortete Brecht in dem Gedicht, das er zu Lebzeiten nicht veröffentlichte, das aber 1959, drei Jahre nach seinem Tod, in WELT gedruckt wurde, mit den Worten: „Nach dem Aufstand des 17. Juni / Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands / In der Stalinallee Flugblätter verteilen / Auf denen zu lesen war, dass das Volk / Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe / Und es nur durch verdoppelte Arbeit / zurückerobern könne. Wäre es da / Nicht doch einfacher, die Regierung / Löste das Volk auf und / Wählte ein anderes?“
Brechts Mahnruf, dass die Regierung dem Volk verpflichtet sei und nicht umgekehrt, folgte durchaus dem Selbstverständnis der DDR, wonach „das Volk“ von der arbeitenden Klasse repräsentiert sei. Trotzdem wird die Redewendung, die Regierung möge sich ein anderes Volk wählen, seither auch von Leuten verwendet, die mit dem Realsozialismus nichts am Hut haben. Sie ist zur Pathosformel aller geronnen, die beklagen, dass die da oben jeden Kontakt zum Leben der normalen Menschen verloren haben.
Um sich den von Brecht erhobenen Vorwurf zu ersparen, agieren die Protagonisten der postdemokratischen Technokratie, die sich im Zuge der Durchgrünung des bürgerlichen Lebens etabliert hat, anders als die damaligen Apparatschiks. Sie kujonieren nicht das Volk mit Polizei und Militär, sondern erschaffen durch eine Art administrativer Simulation ein „Bürgertum“, das im Gegensatz zum populistischen Pöbel die wahren Werte der Demokratie bewahre und zu dem die Bevölkerung sich bekehren müsse. Nur so lässt sich verstehen, weshalb seit einigen Monaten im Umfeld von zivilgesellschaftlichen Organisationen und öffentlich-rechtlichen Medien „Bürgerräte“ ohne rechtlich definierte Bestimmung und politische Legitimation aus dem Boden schießen, die sich als Staatsagenturen gebärden.
Empfehlungen vom „Beteiligungsprojekt“
Der prominenteste dieser „Bürgerräte“ ist das von der Bertelsmann-Stiftung ins Leben gerufene „Forum gegen Fakes“,
das in Kooperation mit dem Bundesministerium des Innern und für Heimat
(BIH) sowie mit Nichtregierungsorganisationen wie der Michael Otto
Foundation for Sustainability unter dem Motto „Gemeinsam für eine starke
Demokratie“ die Bundesregierung im Kampf gegen „Desinformation“
unterstützt.
Unter Beteiligung von mehr als 420.000 „Bürgern“ hat das
„Beteiligungsprojekt“ einen Katalog von „15 Empfehlungen mit 28
konkreten Maßnahmen“ zur Bekämpfung von „Desinformation“ ausgearbeitet.
Unter anderem sollen „Medienkompetenz“ samt der Fähigkeit zur
Identifikation von „Fake News“ als Pflichtmodul in das Lehramtsstudium
aufgenommen und eine „Anlaufstelle zur Meldung, Prüfung und
Richtigstellung von Desinformation“ geschaffen werden, bei der „Bürger“
verdächtig erscheinende oder sonstwie nicht genehme journalistische
Inhalte anzeigen können.
Welche „Bürger“ sich an der Ausarbeitung der Vorschläge beteiligt haben, bleibt im Unklaren. Die als „Ansprechpartner:innen“ von der Bertelsmann-Stiftung genannten Projektkoordinatoren, Anna Renkamp (Senior Project Manager), Dominik Hierlemann (Senior Advisor) und Angela Jain (Senior Project Manager), repräsentieren jedenfalls weniger das Bürgertum als einen postbürgerlichen Verwaltungsapparat, der mittlerweile derart aufgebläht ist, dass es seinen Angehörigen leicht fällt, sich als Vertreter eines imaginierten Universalismus zu verstehen.
„Gesellschaftliche Resilienz erhöhen“
Der Grünen-Abgeordnete Konstantin von Notz deutete den Bertelsmann-Empfehlungskatalog umgehend als Dienstanweisung, aus der hervorgehe, wie „groß die Erwartungshaltung in Richtung Politik“ sei: „Die Vorlage einer ressortübergreifenden Strategie gegen Desinformation ist tatsächlich überfällig. Sie muss nun schnellstmöglich erfolgen, um Desinformation rechtsstaatlich einzudämmen, gesellschaftliche Resilienz zu erhöhen“.
Hieran zeigt sich, was die „Bürgerräte“ auszeichnet: Es handelt sich nicht um Assoziationen von Privatleuten, um eigene Interessen gegen die Borniertheit der Politik durchzusetzen, sondern um den von der sich als Generalvollversammlung fühlenden Regierung unternommenen Versuch, ihr Partikularinteresse der Bevölkerung als Allgemeininteresse aufzunötigen. Nicht das Volk ist es, das die Regierung durch Wahlentscheidungen zur Änderung ihrer Politik zwingt, sondern die Regierung aktiviert outgesourcte Staatsagenturen, die sie mit konformistischen Gutachten vor sich her treiben, um noch rabiater als vorher gegen den Souverän vorzugehen, der sie legitimiert.
In diesem Sinne muss wohl verstanden werden, dass der Berliner Soziologe Steffen Mau, ein besonders exponierter Regierungseinflüsterer, nach den Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg die Installation von „Bürgerräten“ forderte, um die Demokratie zu „beleben“ und, wie er der „Zeit“ sagte, dem „Vorwurf“ zu begegnen, „dass Politik eine reine Eliteveranstaltung sei“. Dass die jüngsten Wahlen womöglich eine neue Lebendigkeit der Demokratie vor Augen geführt haben und dass die Ostdeutschen ihre „Resilienz“ gegenüber der Migrations- und Wirtschaftspolitik der Bundesregierung ohne fürsorgliche Hilfe unter Beweis stellen, kommt weder Mau noch von Notz in den Sinn.
Denn anders als die späte DDR-Führungsclique, die genau wusste, dass sie von den eigenen Bürgern verachtet wurde, glauben die Angehörigen der neuen postdemokratischen Priesterschaft tatsächlich, die Wahrheit geschaut zu haben und die verblendete Bevölkerung erleuchten zu müssen. Wohl deshalb adressieren Regierungsvertreter den eigenen Souverän, als handele es sich um einen Kindergarten.
Verkünder eines Ganzen
Wie ein Kindergarten muten auch die medialen „Bürgerräte“ an, die in den öffentlich-rechtlichen Sendern als lustige Akklamationsmasse des von der Bevölkerungsmehrheit abgelehnten Regierungshandelns zusammengetrieben werden. So inszeniert Ingo Zamperoni in seinem Demokratie-Spektakel „Die 100 – Was Deutschland bewegt“ den „Bürgerrat“ als unfreiwillige Selbstparodie, bei der zwei Journalisten „Fakten sowie Pro- und Kontraargumente“ zum Thema der jeweiligen Sendung vortragen und das Publikum sich je nach Meinung auf die Pro- oder Kontra-Seite des zweigeteilten Saals setzt: Meinungsbildung als Menschendressur, die den Souverän nur noch als hin und her schiebbare Abstimmungsmasse kennt. In Vergessenheit gerät die Tatsache, dass Bürgerräte durchaus einmal Foren sich regenden bürgerlichen Eigensinns und Privatinteresses gegen einen sich allmächtig gebärdenden Staat waren.
Es waren nicht nur die Bürgerforen, die in der siechenden DDR den Niedergang des Realsozialismus beschleunigt haben; es waren in der Bundesrepublik der Sechziger- und Siebzigerjahre, in der Vor- und Frühgeschichte der Grünen, Bürgerbewegungen, die den administrativ erstarrten Staat an seine kommunalpolitischen Pflichten in der Verkehrs-, Infrastruktur- und Wohnungsbaupolitik erinnerten. Die bürgerlich-liberalen Elemente ihrer eigenen Parteiengeschichte haben die Grünen inzwischen genauso vergessen wie die Sozialdemokraten ihre Arbeitnehmerwählerschaft und die CDU die Bedeutung des „C“ in ihrem Namen.
Sie alle, und die Grünen waren dabei immer die Avantgarde, begreifen sich nicht mehr als Vertreter einer wohlverstandenen Interessenpolitik, sondern als Verkünder eines Ganzen (Klimagerechtigkeit, Gesundheit, Global Governance), dem das Einzelne geopfert werden muss. Solcher Opferung dienen die Bürgerräte, die Verrat an den Bürgern üben, denen sie Ratschläge geben.
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