29 Oktober 2024

The Pioneer Business Class Edition - Journalismus: Lernen von der Washington Post

Der gute Journalist ist der Partner der Leser, nicht deren Erziehungsberechtigter. 
Business Class Edition
Journalismus: Lernen von der Washington Post
Gabor Steingart, 28.10.2024
Guten Morgen,
die Welt braucht Vorbilder, auch die Welt des Journalismus. Eines der Vorbilder in der Gegenwart sieht aus wie Jeff Bezos, der Eigentümer der Washington Post.
Ende der Bevormundung: Ausgerechnet der studierte Elektrotechniker und Nicht-Journalist mahnt uns, zum Prinzip unbedingter Unabhängigkeit zurückzukehren. Eben erst ließ er durch seinen CEO William Lewis eine jahrzehntelange Tradition der politischen Bevormundung von Lesern und Leserinnen beenden.
Die Wahlempfehlung: Bei der Washington Post war es seit 1976 üblich, den Lesern eine Empfehlung für die Präsidentschaftswahl auf den Frühstückstisch zu legen. Mit dem sogenannten „Endorsement“ ließ die Redaktion – so wie bei New York Times, Boston Globe, Los Angeles Times und Wall Street Journal – wenige Stunden vor Öffnung der Wahllokale die Unabhängigkeit fahren und rief zur Wahl eines der Präsidentschaftsbewerber auf.
Einseitigkeit vs. Vielfalt:
Ausgerechnet die Zeitung, die mit dem Slogan „Demokratie stirbt in der Dunkelheit“ wirbt, hatte seit Beginn ihrer „Endorsements“ nie einen Republikaner empfohlen. Gerald Ford, Ronald Reagan, George Bush Senior, John McCain – keiner konnte es den Redakteuren recht machen. Der einzige Konservative, der eine Wahlempfehlung der Post vorlegen konnte, war General Eisenhower im Jahr 1952.
Fast wäre es wieder passiert: Auch diesmal hatte die Redaktion einen Text verfasst, der erwartungsgemäß für die Wahl der Demokratin Kamala Harris warb. Dieser Text allerdings schaffte es nicht mehr bis zur Druckerpresse.

Einspruch: Der CEO der Washington Post, ein ehemaliger Journalist der Financial Times, untersagte die Veröffentlichung und erklärte:

Wir sind eine unabhängige Zeitung und dafür da, die Fähigkeit unserer Leser zu unterstützen, sich eine eigene Meinung zu bil

Redaktion in Aufruhr: Die Proteste der Redaktion folgten prompt. Namhafte Kolumnisten kündigten. Auch die Legenden Bob Woodward und Carl Bernstein, Enthüller der Watergate-Affäre, stellten sich gegen die Verlagsspitze:

Diese Entscheidung, zwölf Tage vor der Präsidentschaftswahl 2024, ignoriert die überwältigenden journalistischen Beweise der Washington Post für die Bedrohung, die Donald Trump für die Demokratie darstellt.

Der Irrtum:
Es geht nicht darum, Kritik an Donald Trump zu unterdrücken. Es geht darum, dass die Redaktion nicht wie eine päpstliche Enzyklika letzte Wahrheiten verkünden soll.

Gruppenzwang: Zumal nicht der Chefredakteur – also ein Individuum – diese Wahlempfehlung unterzeichnete, sondern das journalistische Kollektiv. Die Zeitung versuchte, Autorität durch Anonymität herzustellen. Die Redaktion verschmolz zum Monolithen, als wenn es innerhalb der Washington Post nicht auch verschiedene Standpunkte gäbe.

Und so beharrt der CEO trotz Widerstand auf seiner Declaration of Independence:

Unsere Aufgabe ist es, durch die Nachrichtenredaktion unparteiische Informationen bereitzustellen und durch das Meinungsteam gut recherchierte, anregende Ansichten zu bieten. Vor allem ist es unsere Aufgabe, als Zeitung unabhängig zu sein.

Warum das wichtig ist? Weil diese Botschaft auch in Deutschland gehört werden sollte. Die Bevormundung von Lesern und Zuschauern hat auch hierzulande den Zenit überschritten.

Unabhängigkeit zuerst: Das Publikum zahlt gern für Information und Inspiration, aber nicht für Wahlpropaganda. Die ständigen Versuche, den Leser zu bevormunden, entspringen einer autoritären Vorstellung von Gesellschaft: ihr da unten, wir da oben.

Der mündige Bürger muss nicht ständig vor sich selbst gewarnt werden. Die Leser haben eine Zeitung bestellt und nicht die Einweisung in ein Umerziehungslager.

Demokratisierung der Demokratie: Medien sollten Politik beschreiben, aber nicht machen. Wer sich als Steigbügelhalter für den nächsten Präsidenten andient, ist nicht mehr Kritiker, sondern Stallknecht. Das ist die Botschaft, die uns die Washington Post über den Atlantik sendet.

Der gute Journalist ist der Partner der Leser, nicht deren Erziehungsberechtigter. Journalismus ist dafür da, Vielfalt zu organisieren und Denkräume zu erweitern.

Das Gegenteil passiert hierzulande: In den 70er-, 80er- und 90er-Jahren hatten ARD und ZDF wie selbstverständlich eine große Spannbreite zu bieten. Links sendeten Franz Alt, Klaus Bednarz und Ulrich Kienzle, rechts davon Gerhard Löwenthal, Sigmund Gottlieb, Peter Hahne und Bodo Hauser.

Wahrscheinlich auch, weil man der DDR zeigen wollte, wie Meinungsfreiheit funktioniert, wurde diese Balance von keiner Seite infrage gestellt. Mit dem Ende der DDR und damit dem Wegfall des Antagonisten breitete sich die Wüste der Eintönigkeit aus. Jenseits der Talkshows ist die Vielfalt im öffentlich-rechtlichen Fernsehen versandet.

Viele Journalisten – auch die in den privaten Medien – interessieren sich heute weniger für Fakten als für ihre eigenen Angstphantasien. Klimatod. Atomkrieg. Rückkehr des Faschismus. Der „Terror der Ökonomie“, um den Bestseller von Viviane Forrester zu zitieren. Am Ende hilft nur noch das Jüngste Gericht, oder – als bekömmliche Alternative – die Abschaltung des Programms und die Abbestellung der Zeitung.

Abstimmung mit den Füßen: Die Entscheidung von Jeff Bezos erfolgte auch vor dem Hintergrund einer Leserschaft, die der Zeitung vermehrt das Abonnement gekündigt hatte. Er und sein CEO wollten zeigen: Wir haben verstanden.

Fazit: Wir sollten die Unabhängigkeitserklärung von Bezos als Weckruf auch für den deutschen Journalismus akzeptieren. Demokratische Vielfalt heißt das Gebot der Stunde. Die Tatsache, dass es ungleiche Meinungen über das Gleiche gibt, bedeutet nicht Polarisierung, sondern Pluralität.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen