24 Januar 2023

Festakt zum Élysée-Vertrag: Für aufgeklärte Demokraten ist die deutsche Stillosigkeit ein Affront (WELT+)

Festakt zum Élysée-Vertrag
Für aufgeklärte Demokraten ist die deutsche Stillosigkeit ein Affront
, Chefredakteur, 24.01.2023
Ohne Krawatte, dafür mit Anzug, der eher zum Elternabend passt: Die deutschen Gäste haben sich in Paris von ihrer teutonischsten Seite gezeigt – und sich keine Mühe gemacht, den Gastgeber zu ehren. Eine wohltuende Ausnahme: Olaf Scholz.
Der deutsche Spießer ist sich selbst genug. Er lehnt es ab, darüber nachzudenken, wie er dort wahrgenommen wird, wo er selbst nicht als das Maß aller Dinge erscheint. Was nach außen Hunnenstärke sein will, ist jedoch tiefe Unsicherheit. Der Spießer fokussiert sich auf sich, sein Milieu, seine Umgebung, seine nächste Nachbarschaft, weil ihm das andere bedrohlich, fremd und herausfordernd ist. Deswegen sind Spießer in der Regel über ihre nationale Identität gut erklärt. In Deutschland insbesondere. Sie ähneln dabei oft genug jenen Klischees, die im Ausland über die Deutschen existieren.

Die Vorurteile über uns sind in Frankreich auch nach über 75 Friedensjahren lebendig. In jedem Wahlkampf werden links, rechts und manchmal auch in der Mitte die Ressentiments bemüht, die uns als fleißiger und pedantischer, selten aber als charmanter oder eleganter dastehen lassen. Die Franzosen hingegen sind stolz auf ihre Geschichte als europäisches Exzellenzcluster für Mode und Stil (seit ungefähr 400 Jahren).

Um das zu spüren und zu verstehen, muss man weder in Paris gelebt haben, noch bei kultivierten Familien einmal zum Abendessen eingeladen worden sein oder bei Chanel eine Prêt-à-porter-Show besucht haben. Wer Augen hat zum Sehen, kann das auch aus Godard-Filmen oder Instagram-Stories wissen. Wer es nicht weiß, sollte sich als Repräsentant aller Deutschen allerdings ein paar Gedanken mehr machen. Wer eingedenk der deutschen Geschichte und ihrer Erbärmlichkeiten im 20. Jahrhundert nach Paris kommt, sollte den Franzosen Respekt erweisen.

Deutscher Michel als arroganter Trampel

Das heißt logischerweise, Basistugenden wie kulturelle und stilistische Angemessenheit zu bedienen. Da die Mitglieder des Kabinetts, aber auch Bundestagspräsidentinnen allesamt irgendwie studiert haben, sollten sie das wissen. Diese haben sich aber in Teilen beim Festakt zum 60. Geburtstag des Élysée-Vertrags von ihrer teutonischsten Seite präsentiert: Sie haben den deutschen Michel als arroganten Trampel repräsentiert. Warum arrogant? Weil einige Ministerinnen und Minister sich keine Mühe gemacht haben, den Gastgeber zu ehren.

Dass ein Vizekanzler ein Outfit wählt, das besser für den Elternabend eines Konrektors einer Gesamtschule passen würde, ist eigentlich ein Skandal. Nur interessiert das in Deutschland niemanden. Insbesondere nicht seine Wähler, die sich allesamt kaum weniger für Äußerlichkeiten interessieren können, weil sie sich ganz auf ihre inneren Werte fokussieren.

Moral konstruiert eine Hierarchie, an deren unterstem Ende Stil, Schönheit und Eleganz stehen. Dass dies jede Nachhaltigkeit verunmöglichst, sei an dieser Stelle nur kurz erwähnt. Eine Stillosigkeit im Auftreten wie der Sprache allerdings ist ein existenzielles Urteil über sich selbst.

Die Verweigerung der Krawatte hätte auch in einem Rollkragenpullover enden können. Oder wie bei Karl Lauterbach früher in einer Fliege. Nichts davon. Stattdessen eine vorgeblich legere Modernität, die längst das Siegel des Konventionellen geworden ist. Aber: „Trendy ist die letzte Stufe vor geschmacklos“, wie der Hamburger in Paris, Karl Lagerfeld, betonte. Auch die Körpersprache des Vizekanzlers bei dem Ehrenfoto lässt staunen. Es ist ein breitbeiniger Machismo, der die gute Apotheker-Stube vergessen zu haben scheint.


Man könnte so weitermachen, einige Damen, die in Fantasieuniformen bundesrepublikanischer Scheußlichkeit und Formarmut nach Paris gereist sind. Bemerkenswert, dass auch eine grüne Bundestagsvizepräsidentin Bilder retweetet, auf denen ihr Turnschuh-meets-Anzug-Outfit ins Auge sticht.

Stilkatastrophen vor goldener Pracht

Wenn der deutsche Beobachter den Hintergrund dieser Stilkatastrophen studiert, die goldene Pracht des Palais Bourbon, in dem das Parlament seinen Sitz hat, oder dem Élysée, dann wird einem auch als aufgeklärter Demokrat klar, dass diese Stillosigkeit in Frankreich nicht anders als Affront zu verstehen ist.

Belastender für das Verhältnis wäre nur mehr die Einschätzung, dass die Deutschen seit der Nazi-Barbarei, diesem Bündnis von Mob und Elite, an dessen Ende das entfesselte Kleinbürgertum stand, jede Eleganz und Weltläufigkeit verloren haben – und in einer weitgehend barbarisch-formlosen Bundesrepublik aufgewacht sind. Es ist auch ein Klassenstandpunkt, der da zum Vorschein kommt. Und es ist einmal mehr das akademische Bildungsbürgertum, das glaubt, sein fescher Kirchentagsstil hätte auf den Weltbühnen des Stils irgendetwas verloren.

Wohltuende Ausnahme wie immer der hanseatische Sozialdemokrat Olaf Scholz, der mit seinem strengen Minimalismus eigentlich immer eine gute Figur abgibt, Annalena Baerbock, sonst eher eine Stil-Bank, schwächelt, dafür haben zumindest die liberalen Kabinettsmitglieder Ehre eingelegt. 

Allen voran Bettina Stark-Watzinger, die aussah, wie jemand, der nicht zum ersten Mal in einer der Welthauptstädte einen offiziellen Termin wahrnimmt. Den anderen Minister:innen sei gesagt, was Coco Chanel einst betonte: „Kleide dich nachlässig, und man wird sich an das Kleid erinnern, kleide dich makellos, und man wird sich an die Frau erinnern.“

Der einzigartige Philosoph und Antideutsche Karl Heinz Bohrer ließ seinen fantastischen Essay über den „Großen Stil“ mit einer Szene in London beginnen, bei der ein deutscher Banker deutsche und britische Kollegen zu einer Dependance-Eröffnung einlädt. Es wird ein Schaulaufen teutonischen Totalversagens. 

Bohrers Blick auf seine Landsleute ist schonungslos: ihre stumpfe, ängstliche Einfallslosigkeit, ihre vertrottelte Art, nur über Geld, nicht aber über den Kosmos außerhalb der Fachkenntnisse sprechen zu können. Für Bohrer war das Versagen der Banker keine „komische Anekdote“, sondern Grundstruktur deutscher Ausdruckslosigkeit: Es ist kein individuelles Versagen, sondern ein gesellschaftlich weitverbreitetes Unvermögen zur Form.

Die Deutschen sind wohl so. Angela Merkel als Kanzlerin markiert mit ihrer hyperprotestantischen Schmucklosigkeit hier ebenfalls einen Bruch. Sie hat auch an dieser Front bürgerliche Mindeststandards unterlaufen und ausgehebelt. Weder Adenauer noch Kohl, weder Brandt noch Schmidt oder Schröder hatten dies zugelassen. Gut, dass Olaf Scholz hier keine Kontinuität zu Merkel sucht.

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