22 Januar 2023

Der andere Blick - Thema der Woche: Deutschland setzt seinen Ruf aufs Spiel (NZZ)

Der andere Blick

Thema der Woche: Deutschland setzt seinen Ruf aufs Spiel
von Eric Gujer Chefredaktor der «Neuen Zürcher Zeitung»
Die Bundesrepublik war einmal ein Land, in dem die Züge pünktlich fuhren. Die Verwaltung war preussisch: manchmal obrigkeitsstaatlich, aber meistens effizient. Das Land in der Mitte des Kontinents besass eine dichte öffentliche Infrastruktur, die zu der zentralen Lage passte. Seine Streitkräfte galten als der stärkste europäische Pfeiler in der westlichen Allianz. Das war einmal.
Will man mit dem Zug nach Deutschland reisen, begibt man sich auf einen Hindernisparcours. Aber eigentlich ist dieses Wort noch eine Verharmlosung. Solange der ICE nur eine Stunde Verspätung hat, kann man sich glücklich schätzen.
Manche Anschlusszüge verwandeln sich in Geisterzüge. Sie werden angekündigt, treffen aber nie ein. Die Informationen sind spärlich. Die Deutsche Bahn liebt es, mit ihren Passagieren heitere Ratespiele zu veranstalten – auch wenn diesen nicht immer danach zumute ist. Auf der Heimreise nach Hamburg in Basel zu stranden, ist nicht jedermanns Sache.
Steht der Zug, schneeweiss und beinahe eine überirdische Erscheinung, dann doch irgendwann am Gleis, lautet die Ansage todsicher: «Wegen einer Stellwerkstörung zwischen Basel Badischer Bahnhof und Freiburg kann es zu Verspätungen kommen.» Die Deutsche Bahn schätzt die Möglichkeitsform. So behalten ihre Passagiere einen Rest an Hoffnung.
Die Effizienz erodiert, und die Bürokratie triumphiert
Sich mit der Deutschen Bahn zu beschäftigen und keine Satire zu verfassen, ist eine Herausforderung. Aber hat man die Reise einmal überstanden und ist der erste Ärger verraucht, findet man seinen Humor wieder. Je häufiger man dann seine Abenteuer erzählt, umso mehr verwandeln sie sich in Heldentaten, nicht völlig unähnlich einer Zugfahrt in Indien, wenn schon lange vor der Abfahrt in Mumbai alle Wagen so überfüllt sind, dass sich die Reisenden mit einem Stehplatz im Freien begnügen müssen.
Willkommen in der Dritten Welt, willkommen in Deutschland.
Über die Bundeswehr kann man keine Satire schreiben, auch wenn es manchmal als die passendste Form erscheinen mag. Es geht um die Sicherheit Deutschlands, in letzter Konsequenz um Leben und Tod. Kein angemessener Anlass für Witze also.
Aber es muss ein Witz sein, wenn die Bundeswehr in einer Verordnung festlegt, wie gross die Sandkörner auf den Schiessbahnen eines Schiessstandes sind. Es ist sicher ein Witz, dass das deutsche Kontingent in Afghanistan Fahrzeuge stilllegte, sobald der Abgastest abgelaufen war. Einen TÜV gab es in Kunduz nicht. Und es muss ein Scherz sein, dass im Lager in Kunduz die deutsche Mülltrennung peinlich genau eingehalten wurde.
Nein, das sind keine Witze. Es sind reale Beispiele aus dem Alltag. Dass die Streitkräfte nach 1990 regelrecht kaputtgespart wurden, dass man keine neuen Waffensysteme beschaffte und für das bestehende Gerät keine Vorräte an Munition und Ersatzteilen anlegte, ist nur die eine Seite einer traurigen Geschichte.
Die andere Seite ist weniger offensichtlich. Sie lässt sich nicht in süffigen Anekdoten erzählen, ist aber für die Funktionsfähigkeit der Armee nicht weniger verheerend.
Nach dem Kalten Krieg wurde die Bundeswehr von 500 000 Mann auf 180 000 Männer und Frauen verkleinert. Die Streitkräfte schrumpften, aber die Bürokratie blieb gleich. Überdies treffen das Ministerium und seine nachgeordneten zivilen Ämter heute Entscheidungen, die vor 1989 der Truppe überlassen waren. Dieser Wasserkopf lähmt jede Initiative, er verlangsamt alle Prozesse und produziert dabei Vorschriften, die Laien für einen Witz halten.
Natürlich fiel diese Entwicklung nicht nur den Generälen, sondern auch vielen Politikern auf. Sie wollten die Situation verbessern und verschlimmerten sie nur. Seit dem Ende des Kalten Krieges musste die Bundeswehr eine Reform nach der anderen erdulden.
Das Resultat ist Wirrnis. So versuchte Verteidigungsminister Rudolf Scharping, die träge Bürokratie zu umgehen, indem er Aufgaben wie das Management des Fuhrparks an externe Unternehmen vergab. Seine Nachfolger machten das Outsourcing wieder rückgängig. Jeder «Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt» hat neue Ideen und leistet so seinen Beitrag zur Vergrösserung der Orientierungslosigkeit. Ursula von der Leyen jagte Nazis und forderte mehr Familienfreundlichkeit der Streitkräfte. Christine Lambrecht konzentrierte sich auf praktikable Kleidung.
Deutschland sind die eigenen Stärken suspekt
Der Zickzackkurs setzt sich im Grossen fort. Was ist die Aufgabe der Bundeswehr? Auf diese einfache Frage erhielten die Streitkräfte fundamental unterschiedliche Antworten. Zunächst war ihr Auftrag die Bündnisverteidigung, dann die Auslandeinsätze ausserhalb des Nato-Gebiets, inzwischen wieder der Schutz Deutschlands und der Allianz. Je mehr sich die Streitkräfte mit sich selbst beschäftigen mussten, umso weniger waren sie in der Lage, die Aufträge zu erfüllen.
Die Bundeswehr hat inzwischen in der Nato einen Ruf wie die Deutsche Bahn im zivilen Leben. Das Ausland blickt auf die Bundesrepublik und fragt sich, was aus ihren Tugenden wie Tüchtigkeit und Organisationsgabe geworden ist. Ist Deutschland eigentlich noch Deutschland oder längst eine Villa Kunterbunt?
Der allmähliche Abstieg hat sicher etwas damit zu tun, dass die so geschätzten wie gefürchteten deutschen Stärken Mitte der achtziger Jahre als Sekundärtugenden verhöhnt wurden, mit denen man ein KZ betreiben könne. Die Bundesrepublik fand damals zu sich selbst und befreite sich von vielen Traditionen – allerdings auch von manchen guten.
Jede Stadtverwaltung wollte plötzlich locker und mediterran sein und vergass, wie es in einer Amtsstube auf Sizilien wirklich aussieht. Richtig heiter wurde die Stimmung in Berliner Bürgerämtern dadurch nicht, dafür herrschen dort inzwischen süditalienische Verhältnisse.
Zugleich verlor die Politik den Sinn für Prioritäten. Kernaufgaben des Staates wie die öffentliche Infrastruktur und die Verteidigung waren nicht mehr so wichtig. Es sind nicht nur die Sozialdemokraten und die Grünen, die sich in Quotendiskussionen und Genderdebatten verlieren. Auch die Unionsparteien, die sich so viel auf ihre angebliche Regierungsfähigkeit einbilden, tragen das ihre dazu bei.
So verzettelte sich die viele Jahre für das Verkehrsministerium zuständige CSU mit ihrem Lieblingsprojekt einer Maut für Ausländer. Die EU machte dem Spuk schliesslich ein Ende, während zugleich die Zustände auf der Schiene immer katastrophaler wurden.
In der «Ampel» geht es im gleichen Trott weiter. Statt alle Kraft auf die Sanierung der maroden Schienenwege zu konzentrieren, verschärfte die Koalition die Überlastung durch das Neun-Euro-Ticket. Die Bahn balanciert ohnehin auf vielbefahrenen Strecken am Rande des Kollapses. Dafür muss man nicht noch zusätzlich Geld ausgeben.
Der Staat wird mit Aufgaben überlastet, die er dann nur schlecht erfüllt
Schliesslich blähte sich der Anteil der Sozialausgaben am Bundeshaushalt auf. Damit richtete sich die Aufmerksamkeit der Politik überproportional auf diesen Bereich. Die Politik debattiert ständig über Hartz IV, Mütterrente, Baukindergeld, Elternzeit, Doppelwumms und Bürgergeld, aber nur sehr selten über die Streitkräfte oder den Zustand der Infrastruktur.
Um das zu ändern, genügt es nicht, eine Zeitenwende auszurufen oder die überforderte Verteidigungsministerin Christine Lambrecht durch Boris Pistorius zu ersetzen. Es reicht auch nicht, den denkfaulen Pazifismus der Nachwendezeit zu überwinden. Die Politik muss ihren postmodernen Modus spielerischer Beliebigkeit aufgeben.
Der Krieg in der Ukraine sollte allen in Erinnerung gerufen haben: Es gibt Dinge, die kein Witz sind; bei denen es um Leben und Tod geht oder zumindest um die Zukunft des Landes.
Politik muss nicht beständig neue Schlagworte wie «Wissensgesellschaft» der «Chancengesellschaft» als inhaltsleere Kulissen hin und her schieben, sondern ein paar Dinge gründlich tun. Sie sollte der Versuchung widerstehen, jedem Trend und jeder Minderheit hinterherzulaufen.
Man muss den Staat auch nicht durch immer neue Aufgaben überlasten, die er im Zweifel dann doch nicht ordentlich erfüllt. So können die Bürger schon selbst entscheiden, wann sie eine Maske aufsetzen. Sie brauchen keine Gouvernante, um ihr Leben zu führen.
Weniger wäre mehr. Dann würden internationale Beobachter Deutschland auch wieder für Deutschland halten.

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