Provozieren Panzer Atomangriffe?
Während im Westen hitzig über Sinn und Gefahren von Panzerlieferungen an die Ukraine gestritten wird, beschwören russische Politiker und Propagandisten den Sieg Russlands als einzigen möglichen Ausweg aus dem Krieg. Es wirkt so, als müssten sie sich selbst und das Publikum auch ständig davon überzeugen. «Eine Atommacht kann ohnehin nicht besiegt werden – warum sollten dann die Ukrainer überhaupt noch Panzer bekommen?», fragte Kiseljow in seiner Sendung. Putins Sprecher Dmitri Peskow hatte bereits vergangene Woche gesagt, mit möglichen europäischen Panzerlieferungen sei es einfach: Die Geräte würden zerstört, genau wie bis anhin auch.
Allerdings ist durch die westlichen Debatten auch die russische Reaktion darauf schriller geworden. «Jetzt reicht es», ist der Tenor. Indirekt verwiesen wird auf die schwerwiegenden Konsequenzen für diejenigen, die Russlands «Spezialoperation» zu behindern versuchten. Davor hatte Putin in seiner Fernsehansprache am 24. Februar gewarnt. Der Vorsitzende der Staatsduma, Wjatscheslaw Wolodin, drohte mit der Auslöschung von Staaten als Reaktion auf Waffenlieferungen, die zum Angriff auf russisches Territorium genutzt würden.
Deutsche Kampfpanzer und die damit verbundene Symbolik sind für die russischen Propagandisten erst recht ein gefundenes Fressen. Sie versuchen damit, die westliche Öffentlichkeit einzuschüchtern. Panzerlieferungen für die Ukraine müssten bedeuten, dass diese Länder zur Kriegspartei und die Orte, wo das Militärgerät vorbereitet werde, zu legitimen Zielen würden, meinte der Fernsehmoderator Wladimir Solowjow. Er verbringt jede Woche einige Tage an der Front im Donbass.
Als es in einer früheren Sendung um französische Waffenlieferungen ging, hatte Solowjow vorgeschlagen, mit einem Atombombenangriff Frankreich auszulöschen. Dann werde der Rest Europas gleich kuschen. Der pensionierte General Jewgeni Buschinski musste ihn und andere Diskussionsteilnehmer daran erinnern, dass ein einseitiger Atomangriff unweigerlich in einem Atomkrieg mit allen zerstörerischen Folgen enden werde.
Die Chefredaktorin des Auslandfernsehsenders RT, Margarita Simonjan, sieht die Welt gleichwohl kurz vor dem Atomkrieg. Nach den Panzern werde der Westen auch Soldaten schicken und unmittelbar russisches Territorium bedrohen. Die einzige mögliche Entwicklung sei die atomare Konfrontation. Wie zwei Flugzeuge rasten der Westen und Russland aufeinander zu. Einer müsse nachgeben – «es werden nicht wir sein». Russland müsse Klarheit schaffen und sagen, die Schächte seien geöffnet. Andere Diskussionsteilnehmer versuchten zu beschwichtigen: Die Zerstörung des Planeten sei keine Politik. Und den Einsatz von Atomwaffen würden auch mit Moskau sympathisierende Mächte wie Indien und China nicht gutheissen.
Verzerrte Vergleiche mit dem Zweiten Weltkrieg
Politiker und Funktionäre versuchen den Eindruck zu vermitteln, es gehe erneut, wie im Zweiten Weltkrieg, um die Existenz Russlands. Der Kampf werde nicht gegen die Ukrainer geführt; diese würden zum Weitermachen «gezwungen». Der Gegner seien die Vereinigten Staaten, Europa, die Nato. Dabei verzerren Duma-Abgeordnete ebenso wie Aussenminister Sergei Lawrow die Geschichte zur Karikatur: Wie damals stehe Russland auch jetzt wieder «ganz Europa» gegenüber. Lawrow verstieg sich gar zur Aussage, die USA strebten zusammen mit ihren europäischen Vasallen die «Endlösung der russischen Frage» an.
Der Vergleich mit dem Einzigen und gleichsam Heiligsten, was die russische Gesellschaft über gesellschaftliche Gräben und Generationen hinweg zusammenzuhalten vermag, die Erinnerung an den heldenhaften Sieg über das nationalsozialistische Deutschland 1945, ist allerdings ein gefährliches Terrain: Die Geschichtsvergessenheit, die die Russen den Westeuropäern und Amerikanern gerne vorwerfen, fällt auf sie zurück, wenn sie ihre eigenen damaligen Alliierten zum Lager Hitlers dazuzählen. Bisher gelang es nicht, den Krieg gegen die angeblichen ukrainischen «Nazis» zum Volkskrieg zu machen und dem damaligen vaterländischen Verteidigungs- und Befreiungskrieg gleichzusetzen. Das Sakrale des Sieges von 1945 würde dadurch profaniert.
Die Erzählung von der existenziellen Bedrohung und den Nato-Gegnern mag mancherorts auf fruchtbaren Boden fallen; eine Mobilisierung der Massen findet dadurch jedoch nicht statt. Es gibt sogar gesellschaftliche Erscheinungen, die angesichts der Härte, mit der gegen Kriegsgegner und Andersdenkende vorgegangen wird, überraschen. Seit dem verheerenden Raketeneinschlag in ein Wohnhaus in Dnipro sind in verschiedenen russischen Städten Denkmäler, die an ukrainische Persönlichkeiten erinnern, zu improvisierten Mahnmalen für die Opfer geworden. Auch wenn die Polizei immer wieder willkürlich Leute, die Blumen oder Spielzeug ablegen, mitnimmt und regelmässig über Nacht alles abgeräumt wird, kommen am nächsten Tag neue Trauernde.
Schüren von Bedrohungsängsten
Auf gemischte Gefühle nicht nur in der russischen Gesellschaft, sondern auch in der politischen Führung weisen die Berichte über die Installierung von Flugabwehrbatterien in und um Moskau sowie bei einer von Putins Residenzen hin. Fast demonstrativ steht seit kurzem ein zur Abwehr von Raketen und Drohnen geeignetes Geschütz vom Typ Panzir-S1 auf dem Dach des Verteidigungsministeriums im Zentrum Moskaus, gegenüber dem Gorki-Park an der Moskwa. Auf weiteren innerstädtischen Gebäuden sowie in einem gerodeten Waldstück im Nationalpark Losiny Ostrow am Rand der Hauptstadt sollen Flugabwehrsysteme stationiert worden sein.
Dass sie nicht verborgen sind, könnte zum Kalkül derer gehören, die das Bedrohungsgefühl in der Bevölkerung verstärken möchten. Zugleich dürfte sich das Regime nach den Drohnenangriffen auf Militärflugplätze weit im Landesinnern gegen Ähnliches auch in Moskau und Umgebung wappnen wollen. Der schrille Ton der Propagandisten und die Siegesgewissheit des Präsidenten können nicht darüber hinwegtäuschen, dass alle von einem sich hinziehenden Kampf ausgehen. Wie sagte Solowjow vor wenigen Tagen: «Männer fühlen sich im Krieg wohler als im Frieden.»
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