11 Januar 2023

Buch über Berliner Brennpunkte - „Ein ganzer Kiez spuckt auf unsere Gesellschaft und unsere Regeln“ (Focus-Online)

Wer außerhalb Berlins verstehen will, was in Neukölln los ist, sollte das lesen:
Buch über Berliner Brennpunkte -
„Ein ganzer Kiez spuckt auf unsere Gesellschaft und unsere Regeln“ (Focus-Online)
Mittwoch, 11.01.2022
Seit den Silvester-Ausschreitungen in Berlin wird wieder über den Problembezirk Neukölln diskutiert. Als Stadtrat für Jugend und Soziales kennt Falko Liecke (CDU) die dort herrschenden Zustände nur zu gut. Insbesondere in einer heruntergekommen Siedlung. Hier ein Ausschnitt aus Lieckes Buch „Brennpunkt Deutschland“.
Die High-Deck-Siedlung liegt am südlichen Ende der Neuköllner Sonnenallee noch außerhalb des S-Bahn-Ringes, der die Grenzen der Berliner Innenstadt markiert. Hier leben sechstausend Menschen auf einer Fläche von zwanzig Hektar. Die Siedlung ist die Beton gewordene Bausünde des sozialen Wohnungsbaus der Siebziger- und Achtzigerjahre. Das war auch der Grund, warum der Film Sonnenallee von Leander Haußmann nicht hier, in unmittelbarer Nähe des namengebenden Grenzübergangs gedreht wurde, sondern in einer eigens errichteten Filmkulisse in Potsdam- Babelsberg. Die im Film gezeigte typische Berliner Blockbebauung ist hier einfach nicht zu finden.Die vorherrschende Farbe in der Siedlung ist Grau. Hochgelagerte Gehwege – die für die Siedlung namengebenden „High-Decks„ – verbinden die meist fünf- bis sechsstöckigen Wohnblocks und geben dem gesamten Gelände einen verwinkelten, unübersichtlichen Eindruck. Unter den „High-Decks“ parken die Autos. Viele dunkle Ecken, in denen Unrat einfach liegen bleibt und Angsträume entstehen. Dass die Siedlung im November 2020 in weiten Teilen unter Denkmalschutz gestellt wurde, ist ein schlechter Witz und für die Bewohner ein weiterer Nackenschlag.
Denn damit sind die bereits geplanten Sanierungen der teilweise maroden Wohnungen, wenn überhaupt, nur eingeschränkt möglich. Was genau an dieser Betonwüste erhaltenswert sein soll, habe ich bis heute nicht verstanden. Eine verkopfte Entscheidung vollkommen an der Lebenswirklichkeit der Menschen vorbei.

Kaum einer möchte hier leben, doch die meisten haben keine Wahl
Mehr als die Hälfte der Bewohner lebt von Hartz IV oder anderen Sozialleistungen. Der Migrationsanteil ist ähnlich hoch wie im tiefsten Norden Neuköllns, die benachbarte Grundschule zählt 98 Prozent Migrationshintergrund. Kaum jemand möchte hier wirklich leben, aber die meisten haben schlicht keine Wahl. Wer es sich leisten kann, zieht weg. Wer bleibt, findet meist keinen Grund, sich positiv mit seiner Nachbarschaft zu identifizieren.

Hier brodelt es schon länger. 2020 ist die Lage explodiert. Bekannt wurde das Viertel auch durch die ersten Szenen der Fernsehserie 4 Blocks , in der ein Polizeieinsatz gegen drogendealende Clans massiv eskaliert. Wie sich innerhalb kürzester Zeit Dutzende Anwohner auf den High-Decks sammeln und unter lautem Geschrei mit Müll und anderen Dingen nach drei einsamen Polizisten werfen, wird heute so manchem Beamten an seine letzte Schicht im Kiez erinnern. Die Fiktion ist selten so nah an der Realität wie in diesen ersten Minuten der Serie.
Die Siedlung wird spätestens seitdem immer wieder in der deutschsprachigen Gangster-Rap-Szene zitiert und mystifiziert. Im profitablen Rap-Geschäft lebt es sich gut ein mit dem Image des Ghettokids, das es geschafft hat. Die Lage war schon vor 2020 – wie der Neuköllner sagt – beschissen. Während der Corona-Pandemie wurde dann auch noch unter dem grünen Justizsenator Dr. Dirk Behrendt die Entscheidung getroffen, bereits inhaftierte Straftäter vorzeitig aus dem Vollzug zu entlassen. Da die Gefängnisse mit dem Infektionsschutz ihrer Insassen schlicht überfordert waren, sollte Platz geschaffen werden. Die harten Jungs kamen also zurück.

Besonders seit der Pandemie immer mehr StraftatenDanach eskalierte die Lage in der High-Deck-Siedlung ins Unermessliche. Wir in der Bezirksverwaltung, Polizei und Engagierte vor Ort konnten darüber nur entsetzt den Kopf schütteln. Nie passte das (paraphrasierte) Zitat des preußischen Innenministers Gustav von Rochow († 1847) besser: „Es ist dem Untertanen untersagt, den Maßstab seiner beschränkten Einsicht an die Handlungen der Obrigkeit anzulegen.“

Wir Neuköllner schütteln also den Kopf, kotzen sinnbildlich in die Ecke, holen tief Luft und machen einfach weiter. In vielen Videokonferenzen zum Austausch über die Lage und denkbare Lösungsansätze. Aber vor allem mit beiden Beinen auf der Straße und im direkten Kontakt mit Kindern und Jugendlichen, die immer mehr und immer früher in die knallharte kriminelle Szene abrutschen. Den Justizsenator, der sich ganz gerne durch Verfassungsklagen gegen Schweinehaltung profiliert – freilich ohne jemals einen konventionellen Schweinestall, den es in Berlin ohnehin nicht gibt, von innen gesehen zu haben –, interessieren die Zustände auf der Straße offenbar nicht.

Seine Ideologie ist durchgesetzt, wir in Neukölln müssen das Schlamassel ausbaden und mit unglaublicher Kraftanstrengung den Scherbenhaufen beseitigen. 2020 gab es allein in der High-Deck-Siedlung 1220 Straftaten. Mehr als dreimal pro Tag wurde irgendwo eingebrochen, härteste Drogen werden gehandelt, Menschen mit Messern und Eisenstangen malträtiert. Und während im Pandemiejahr 2020 berlinweit die Straftaten rückläufig waren, Jugendgruppengewalt sogar um neunzehn Prozent zurückging, stiegen sie hier vor allem seit Oktober 2020 massiv an.

Es gab zwei Überfälle mit Schusswaffen auf den letzten verbliebenen Laden im Kiez, regelmäßig wurden Polizeibeamte und Ordnungsamtsmitarbeiter bedroht, attackiert, angespuckt. Es kommt zu Angriffen mit Flaschen und Steinen, wie man es sonst nur aus dem linksalternativen Nachbarbezirk Friedrichshain-Kreuzberg kennt.

„Die Realität holt uns ein“

Jugendliche legen regelrechte Steindepots und Straßensperren mit brennenden Autoreifen an, um Beamte, die sich in „ihren Kiez„ wagen, in einen Hinterhalt zu locken und möglichst schwer zu verletzen. Solche Straßenschlachten sind nicht an der Tagesordnung. Es sind spektakuläre Taten von Jugendgruppen im Alltag eines Kiezes, der von Kriminalität, Drogen und Gewalt geprägt ist. Aber bei jedem einzelnen Einsatz in der High-Deck-Siedlung müssen die Männer und Frauen der Berliner Polizei mit solchen oder ähnlichen Übergriffen rechnen und hoffen, dass sie am Ende ihrer Schicht wieder gesund zu ihren Partnern und Kindern zurückkehren können.

Wenn der Abschnittsleiter der Polizei mir versichert, dass es mit ihm keine „No-go-Areas“ geben wird, dann glaube ich ihm das. Allein schon, weil ich die Entschlossenheit in seinem Blick ernst nehme und diese Einstellung genau das ist, was Neukölln braucht. Ich sehe, dass die hochgerüstete Berliner Brennpunkteinheit unterwegs ist. Ich weiß, dass das Landeskriminalamt verdeckt ermittelt.

Ich schätze die verstärkten Verkehrskontrollen in der Gegend. Ich sehe aber auch, dass die Realität uns alle einholt. Wenn fast ein ganzer Kiez auf unsere Gesellschaft und ihre Regeln spuckt, wird es schwer. Der Macht- und Herrschaftsanspruch der dominierenden Jugendgruppen und ihrer Familien wird offen und ins Gesicht der Männer und Frauen in Uniform formuliert: „Das sind unsere Straßen, verpisst euch hier. Ich ficke deine Mutter, du Hurensohn. Allāhu akbar “.

Den Polizisten schlägt purer Hass entgegen

Aus Sicherheitskreisen wurde mir berichtet, wie die hasserfüllte Ablehnung und Verachtung unserer Gesellschaft einem Polizisten bei der Festnahme eines mutmaßlichen Straftäters, der gerade einen Paketboten ausrauben wollte, ins Gesicht geschmettert wurde:

„Ihr Wichser, ich mache euch alle fertig. Schwanzlutscher, keiner nimmt euch ernst, verpisst euch endlich! Kommt alleine, dann bringe ich euch um, ich werde euch ficken, euch wehtun, ich merke mir eure Gesichter, euch hole ich mir, einen nach dem anderen, ich werde euch Schlimmes antun, das schwöre ich bei Allāh, Gott ist mein Zeuge. Wenn ihr noch mal hierherkommt, werde ich einen Stein auf euch und euer Scheißauto werfen. Für euch nehme ich eine Steinplatte und mache euch kaputt. Glaubt mir, ich werde auf jeden Polizisten einen Stein schmeißen, der in meinen Kiez kommt, ihr habt hier nichts zu suchen. Euch wird ein 40-Tonner überfahren, und wenn ich das machen muss, bei Allāh! “

Es ist der pure Hass, die blanke Verachtung und der klare Bezug zu religiösem Terrorismus, der Berlin erst wenige Jahre zuvor erschüttert hatte. Beim Anschlag mit einem Sattelzug auf den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz starben 2016 dreizehn Menschen, siebenundsechzig wurden teils schwer verletzt. Es war der bis dahin schwerste islamistische Terroranschlag auf deutschem Boden.
Irgendwann wurden selbst die Jugendklubs angegriffen

In der High-Deck-Siedlung muss selbst bei Rettungseinsätzen der Berliner Feuerwehr regelmäßig die Polizei in Mannschaftsstärke hinzugezogen werden, da die Anwohner grundsätzlich besser wissen, wie Menschen zu retten sind und die Einsatzkräfte behindern, beleidigen und angreifen. Wer das als pure Mentalitätsfrage und überzogene Sorge um geliebte Menschen abtut, ist eher Teil des Problems als der Lösung. Routineeinsätze für Rettungskräfte gibt es in diesem Kiez nicht mehr.

Die ganze menschliche und gesellschaftliche Verkommenheit offenbart sich bei einem Blick auf die Details und stellt selbst mich als wirklich hartgesottenes Neuköllner Original vor ernsthafte Zweifel, warum wir uns eigentlich noch solche Mühe geben. Mir kam zugegebenermaßen der Gedanke: „Da ist jede Mühe vergebens, diese Jugendlichen, diese Familien, dieses Viertel sind verloren.“

Irgendwann wurden selbst Jugendklubs angegriffen, Sozialarbeiter öffentlich angefeindet und ihre Autoreifen zerstochen. Nur durch Glück kam es dadurch nicht zu einem schweren Verkehrsunfall, zu Toten und Verletzten. Was auch unter Polizisten für Erstaunen sorgt, ist die Dreistigkeit bei Einbrüchen, die allesamt im direkten Wohnumfeld der Täter stattfinden. Die beklauen buchstäblich ihre Nachbarn, denen sie am nächsten Morgen im Treppenhaus dreckig ins Gesicht grinsen.

„Je mehr kontrolliert wird, desto mehr wird aufgedeckt“

Und das sind nur die Taten, von denen wir wissen. Gerade bei den Drogendelikten ist die Dunkelziffer enorm. Ganz einfach, weil im Gegensatz zu Eigentums- oder Gewaltdelikten keiner der am Drogenhandel Beteiligten ein Interesse an Strafverfolgung hat. Betäubungsmittelkriminalität ist daher ein sogenanntes Kontrolldelikt. Je mehr kontrolliert wird, desto mehr wird aufgedeckt. Ein hochrangiger Polizeibeamter sagte einmal zu mir, mit Blick auf den Drogenhandel sei Nord-Neukölln kein Brennpunkt mehr, sondern eine Brennfläche. Wer da zu genau hinsieht, macht sich keine Freunde.
Eine Eruption der Gewalt hat mich besonders bestürzt. Am 27. Mai 2020 klingeln zwei Kinder immer und immer wieder an der Haustür eines Mieters in einem der Wohnblöcke der High-Deck-Siedlung. Es ist nicht das erste Mal, dass er diese Klingelstreiche ertragen muss. Dieses Mal erwischt er die beiden Kinder und hält sie fest, um die Eltern mit diesem Verhalten zu konfrontieren. Bis hierhin könnte sich diese Szene in jeder anderen Nachbarschaft in Deutschland abspielen. Die in der Mehrheitsgesellschaft zu erwartende Reaktion: Die Eltern holen die Kinder ab, vielleicht gibt es eine Entschuldigung, vielleicht auch nicht. Man verträgt sich oder geht sich einfach aus dem Weg.

Am 27. Mai 2020 läuft das anders. An diesem sonnigen Tag strömen innerhalb weniger Minuten an die hundert Verwandte, Freunde und Bekannte der Familie der Kinder zum Ort des Geschehens. Die Fähigkeit der Mobilisierung über soziale Medien darf keinesfalls unterschätzt werden, wenn der überwiegende Teil der mit der Erziehung der Kinder überforderten Großfamilie in der Zwei-Zimmer-Wohnung zum Monatsende ohnehin in Jogginghose vor dem Flatscreen hängt und auf solch eine Gelegenheit für Zerstreuung nur wartet. Zudem geht es hier um die Ehre – von wem auch immer –, und die muss verteidigt werden, bis aufs Letzte. Mit allen Mitteln.
Kinder werden in die Kriminalität hineingezogen

In diesem Fall bedeutet das, den schwarzen Nachbarn so heftig zu verprügeln, dass er nie wieder auf die Idee kommt, ein arabischstämmiges Kind auch nur anzuschauen. Der Mann überlebt schwer verletzt, hat die Botschaft aber verstanden. Kurze Zeit später zieht er mit seiner Familie weg. Weit weg. Alle Täter, die die Polizei ermitteln konnte, waren bekannt. Es sind die sogenannten „kiezorientierten Mehrfachtäter“, “Schwellentäter“ und Intensivtäter, die die Meute angeführt haben und von ihr angestachelt wurden. Das hat System.

In der Siedlung werden gezielt strafunmündige Kinder an die Kriminalität herangeführt und von älteren Jugendlichen und jungen Erwachsenen benutzt. Von denen, die vorzeitig ihre Entlassung aus Tegel feiern konnten. Hier mal ein Diebstahl, da mal ein Piece (ein Stück Haschisch) oder ein kleiner Warenkreditbetrug. Bis zum vierzehnten Lebensjahr ist der liebe Nachwuchs dafür überhaupt nicht zu belangen. Sehr praktisch für die Hintermänner. Und der Eintritt für Kinder in die Kriminalität, wie sie in Hochglanzserien, Musikvideos und jeden Tag auf der Straße vorgelebt und verharmlost wird.

Sie wachsen mit ihren Straftaten. Sie kennen es nicht anders. Die Jungs werden zum Überfall auf den Paketboten geschickt, der unter falschem Namen bestellte hochwertige Elektronik ausliefern soll. Die Mädchen werden als Drogenkurier missbraucht oder in die Prostitution geschickt. Wer nicht mitmachen will, lebt gefährlich. Wie die Fünfzehnjährige, die keine Drogen durch den Kiez tragen wollte und dafür sexuelle Übergriffe bis hin zur versuchten Vergewaltigung über sich ergehen lassen musste.
Dies ist ein Auszug aus dem Buch „Brennpunkt Deutschland“ von Falko Liecke, erschienen im Quadriga-Verlag
Über den Autor:
Falko Liecke ist ein deutscher Kommunalpolitiker, seit 2009 arbeitet er in diversen Funktionen im Berliner Brennpunktbezirk Neukölln. Liecke ist seit 2015 Kreisvorsitzender der CDU Neukölln; seit 2019 ist er auch stellvertretender Landesvorsitzender der Partei. Seit November 2021 ist er Stadtrat für Soziales im Bezirksamt Neukölln.

Über den Autor:

Falko Liecke ist ein deutscher Kommunalpolitiker, seit 2009 arbeitet er in diversen Funktionen im Berliner Brennpunktbezirk Neukölln. Liecke ist seit 2015 Kreisvorsitzender der CDU Neukölln; seit 2019 ist er auch stellvertretender Landesvorsitzender der Partei. Seit November 2021 ist er Stadtrat für Soziales im Bezirksamt Neukölln.


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