Holger Loclair macht sich Sorgen um sein Familienunternehmen Orafol mit Sitz im brandenburgischen Oranienburg. Denn er verbraucht rund 32.000 Kubikmeter Gas pro Tag – rund 16-mal so viel wie ein Durchschnittshaushalt im Jahr. Aufgrund des enormen Kostenschubs will er einen Teil der Produktion für hochwertige Folien in den USA aufbauen, den er eigentlich für Deutschland plante.
Der Mann ist das Rollenmodell der neuen deutschen Auswanderungswelle.
17 Prozent der Firmen wollen laut einer Umfrage der Deutschen
Industrie- und Handelskammer (DIHK) ihre inländische Produktion wegen
der hohen Energiepreise zurückfahren, acht Prozent die Produktion verlagern. DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben ist kein Apokalyptiker, aber er sagt:
"Die Lage unserer Wirtschaft ist dramatisch".
Auch Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), warnt vor einer schleichenden Deindustrialisierung. Der Industrieanteil an der Bruttowertschöpfung in Deutschland ist seit 2016 von 25,9 auf 23,4 Prozent gefallen – „eine besorgniserregende Entwicklung“.
2. Die Forschungsbürokratie
Die europäische Neigung zur politischen Regulierung – die getrieben wird von der Angst vor Risiken – treibt insbesondere forschungsintensive Firmen
ins Ausland. In den Vorstandsetagen wird nicht mehr gezetert, es wird
verlagert. So liegt die Zukunft des Arzneimittelgeschäfts für die Bayer AG in den USA und in China, anstatt in Europa. Stefan Oelrich, Leiter des Pharmageschäfts bei Bayer, sagt:
"Wir verlagern unseren kommerziellen Fußabdruck und die Ressourcen dafür deutlich weg von Europa".
Auch der Impfstoffentwickler BioNTech denkt neu. Das Pharmaunternehmen aus Mainz gilt als deutsche Erfolgsgeschichte, binnen eines Jahres entwickelten die Gründer Uğur Şahin und Özlem Türeci einen Corona-Impfstoff – und wurden für ihre Arbeit mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Doch wichtige Teile der Krebsforschung des Unternehmens werden bald nach Großbritannien umziehen, berichtete gestern zuerst die BILD-Zeitung. Türeci erklärt:
"BioNTech setzt bei der Forschung und Entwicklung auf die Stärken der jeweiligen Länder".
3. Die amerikanische Versuchung
Die USA drängen und locken immer mehr deutsche Unternehmen zur Verlagerung von Produktion. Neben der Marktnähe und der Minimierung von Währungsrisiken sind die niedrigen Energiepreise und die ausgelobten Subventionen zum Faktor der transatlantischen Verlagerung geworden.
Vor der kalifornischen Westküste werden bald RWE Windkraftwerke am Horizont auftauchen. Ende des vergangenen Jahres sicherte sich der Essener Energiekonzern die Rechte für einen Windpark, der 640.000 US-Haushalte mit erneuerbarer Energie versorgen soll.
RWE ist der amerikanischen Versuchung erlegen. Für Offshore-Windanlagen gibt es bis zu 30 Prozent Steuergutschriften im Rahmen des Inflation Reduction Acts. Insgesamt sind rund 370 Milliarden US-Dollar Subventionen für die Energiebranche und den Klimaschutz vorgesehen. Es gibt kein energieintensives deutsches Unternehmen, das nicht intern die Chancen dieser Anlock-Prämie für sich taxiert.
Siemens Gamesa und der Röhrenhersteller EEW sind ebenfalls dabei, Werke in den USA aufzubauen. Denn die Steuervorteile gelten nur dann, wenn ein gewisser Anteil der Komponenten in den USA gebaut wird. Der USA-Chef von Siemens Gamesa, Steve Dayney, erklärt:
"In den nächsten fünf bis zehn Jahren wird die Branche 100 Milliarden Dollar investieren und wir werden mit dabei sein".
Delegationen aus US-Staaten reisen unterdessen durch Europa, um mit den Konditionen des Inflation Reduction Acts zu werben. Justin Kocher, Direktor für internationale Geschäfte bei JobsOhio, erklärt:
"Ich glaube nicht, dass wir jemals so intensiv um Unternehmen geworben haben wie jetzt".
Gunter Erfurt, Geschäftsführer von Meyer Burger, einem in der Schweiz ansässigen Hersteller von Solarmodulen, weiß, was Sache ist:
"Wenn die EU nicht mit etwas Ähnlichem (wie dem IRA) kommt, werden wir außerhalb Europas wachsen".
Fazit: Das
Bundeskabinett – das sich liebevoll um Orchideen-Themen wie die
Cannabis-Zulassung oder das „Konzept der Bundesregierung zur
Verbesserung der Repräsentation Ostdeutscher in Führungspositionen der
Bundesverwaltung“ kümmert – sollte sich mit der neuen deutschen
Abschiedskultur befassen. Vom Jahreswirtschaftsbericht, den Robert
Habeck heute vorlegen will, muss man Antworten erwarten.
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