2019 machte McNamee ein Buch daraus: „Zucked: Waking Up to the Facebook Catastrophe“ („Die Facebook Gefahr“). Binnen weniger Wochen wurde es zum Bestseller; derart gut konsumierbar, dass man es problemlos an seine Facebook-Follower empfehlen konnte: #jesuisanalogue! „Ich glaube nicht, dass die Leute im Silicon Valley schlechte Menschen sind“, schrieb Ronald McNamee damals in seiner recht persönlich, zuweilen auch moralisch gehaltenen Einlassung. Doch die Werte im Valley stünden längst im Konflikt mit den Werten einer liberalen Demokratie: „Bestehende Risse innerhalb einer Gesellschaft erschufen eine Geschäftsmöglichkeit, die die Plattformen ausgenutzt haben.“
Nur eine Kampagne?
Wie gesagt, auf der linken Seite dieses Risses ist von jeher gut reden. Und damit ist noch gar kein Wort über Jaron Lanier, Sascha Lobo und all die anderen systemkonformen Businesspunks gesagt. Doch wehe man kritisiert einmal von der anderen Seite des großen Grabens – oder, noch schlimmer, man versinkt geradezu selbst mitten in der sozialen Spalte. Dann ist alles, was gestern noch Gültigkeit hatte, nur eine „große Verschwörung“, ein „Nothing Burger“ – oder in den Worten von „Tagesschau“-Redakteur Pascal Siggelkow unter Rückgriff auf einen Thinktank der Verschwörungstheorie-Theoretikerin Pia Lamberty: „Es ist eine ganz klare politische Kampagne“.
Die Rede ist von den Twitter Files. Eigentlich ein Skandalon – wenn es nicht zumindest in Deutschland medial nahezu ausgehungert worden wäre. Doch folgen wir zunächst dem Handlungsfaden: Am 3. Dezember 2022 veröffentlichte der US-Journalist Matt Taibbi einen mittlerweile 63 Million Mal aufgerufenen Thread auf seinem Twitter-Account. Der Auftakt zu einer Serie, die längst in die 15. Folge nebst angeschlossener Unterfolgen gegangen ist.
Die innerhalb des Threads eingebetteten und ausgewerteten Dokumente hat der Rolling-Stone-Kolumnist und Träger des National Magazine Awards zusammen mit Kollegen wie der ehemaligen New-York-Times-Kolumnistin Bari Weiss oder Intercept-Autor Lee Fang kurz zuvor von Twitter-Chef Elon Musk erhalten, der mit der Offenlegung tausender Dokumente aus der Zeit vor dem 27. Oktober 2022 – dem Tag, an dem Twitter von Jack Dorsey an Musk überging – untersuchen lassen wollte, wie stark der besonders unter Journalisten, Politikern und Wissenschaftlern beliebte Social-Media-Dienst in die politische Meinungsbildung seiner User eingegriffen hat.
„Die Twitter-Files erzählen eine unglaubliche Geschichte aus dem Inneren einer der weltweit größten und einflussreichsten Social-Media-Plattformen“, so Taibbi in seinem ersten Thread vom 3. Dezember 2022. „Es ist eine Frankenstein-Geschichte einer von Menschen gebauten Maschine, die der Kontrolle ihrer Entwickler entwachsen ist.“ Wie sehr sich Twitter dabei verselbständigt hat, beziehungsweise wo es willfährig in die Dienste anderer – des F.B.I., der Pharmaindustrie, einer einseitig betriebenen Wissenschaft, vor allem aber des Meinungsmainstreams – geraten ist, das belegen die Journalisten um Matt Taibbi in zahlreichen Beispielen.
Diese reichen von der Affäre um das Notebook von Hunter Biden und einer durch Twitter gesperrten Recherche der New York Post, über das sogenannte „Shadow Banning“ von Wissenschaftlern, die während der Corona-Krise einer Mindermeinung oder einer Position jenseits des medialen Mainstreams angehörten, bis hin zu den Vorgängen und internen Diskussionen rund um die Sperrung des Accounts von Donald Trump kurz nach den verlorenen US-Wahlen 2021 und der Erstürmung des Kapitols durch gewaltbereite Anhänger des abgewählten Präsidenten.
Der Einfluss von Big Pharma
Was aber gerade auch in Deutschland und im Rest der Welt erschrecken sollte, das sind die besonders in den letzten Tagen und Wochen veröffentlichten Dokumente, die von der engen Zusammenarbeit von Twitter mit der Pharma-Lobby berichten. So veröffentlichte der von der New York Times als „liberaler Autor“ eingestufte Journalist Lee Fang vor drei Tagen, am 16.01.2023, einen bis dato letzten „Twitter File“, der unter anderem auch den deutschen Impfstoff-Hersteller Biontech hart angeht.
Der nämlich hat sich laut eines von Lee veröffentlichten Dokuments bereits am 12. Dezember 2020, also noch vor dem Start der offiziellen Impfkampagne in Deutschland, an Twitter gewandt, um dafür zu sorgen, dass Nutzern, die sich an Biontech mit der Bitte um eine global gerechte Covid-19-Impfstoffverteilung wenden, die Kontaktaufnahme verunmöglicht werde.
Eingebettet war die Biontech-Anfrage in eine Kampagne der
Pharma-Lobbygruppe BIO, die unter anderem auch Moderna und den mit
Biontech kooperierenden Pharmariesen Pfizer vertritt. In einem Brief an
die neu gewählte Biden-Administration soll BIO damals die US-Regierung
aufgefordert haben, all jene Länder zu sanktionieren, die auf
Herstellung kostengünstiger Impfstoffe drängten, die versuchten,
Patentrechte zu umgehen und generische Impfstoffe produzierten. Twitter
jedenfalls reagierte intern umgehend auf die Biontech-Anfrage, die laut
eines weiteren internen Dokuments auch von der deutschen Bundesregierung
unterstützt wurde und die zudem dazu aufrief, ausgewählte Hashtags von
Aktivisten zu überwachen.
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Doch Lees Vorwürfe gehen noch weiter. In einem separaten Vorstoß nämlich soll BIO eine weitere Kampagne zur Moderation sogenannter Covid-„Fehlinformationen“ angestoßen haben. Ganze 1,2 Millionen Dollar soll BIO laut Lees Twitter-Dokumenten dafür gezahlt haben. Twitter investierte das Geld, um Bots für die Moderation von Inhalten zu erstellen, Konten zu überprüfen und Nachrichten abzuschalten. Dabei verschweigt Lee in keiner Weise, dass es sich bei vielen der durch die Kampagne als Fehlinformation eingestuften Tweets tatsächlich um Fake-Nachrichten und Verschwörungstheorien handelte. Andere Inhalte aber sollen sich zumindest in einem Graubereich bewegt haben.
Kritiker werden abgestellt
Wie grau dieser Bereich zuweilen sein konnte, das wiederum belegen andere Twitter Files. Etwa jene, die der Journalist Alex Barrinson am 9. Januar veröffentlicht hat. In diesem 13. Teil der Dokumente wird dargelegt, wie ein Aufsichtsratsmitglied von Pfizer Twitter dazu veranlasst haben soll, einen Tweet zu löschen, in dem die plausible Vermutung geäußert wurde, natürliche Immunität nach einer überstandenen Covid-Infektion schütze besser vor einem schweren Krankheitserlauf als die mRNA-Impfung.
Verfasser des Tweets war nicht irgendein dahergelaufener Impfgegner, sondern Brett Giroir, ein ehemaliger Gesundheitsexperte der Regierung. Der hohe Pfizer-Offizielle indes hatte laut Dokument befürchtet, dass Giroirs Kurznachricht für die Kampagnen „ätzend“ sein und „viral gehen“ könne. Und er hatte Erfolg mit seiner Intervention. Twitter sorgte dafür, dass die Nachricht weder gelikt noch geteilt werden konnte. Auch über eine Löschung des gesamten Accounts soll zwischen Twitter und dem Pfizer-Lobbyisten geredet worden sein.
Ein kleiner Todesstoß
Die Journalistin Bari Weiss berichtet bereits am 8. Dezember 2022 ähnliches. In den von ihr veröffentlichten Dokumenten wird dargelegt, wie Twitter besonders während der Covid-Pandemie eine sogenannte „Sichtbarkeitsfilterung“ bei unliebsamen Wissenschaftlern wie etwa dem Stanford-Gesundheitswissenschaftler Jay Bhattacharya vorgenommen habe. Dessen Vergehen bestand nur darin, bereits früh in einem Artikel für das Wall Street Journal den Nutzen von Lockdowns und die damals behauptete Mortalitätsrate durch das Virus in Frage gestellt zu haben.
Twtter, so Weiss, verfüge über „eine riesige Toolbox“ zur Kontrolle der Sichtbarkeit aller Benutzer. „Stellen Sie sich die Sichtbarkeitsfilterung als eine Möglichkeit vor, das zu unterdrücken, was die Leute auf verschiedenen Ebenen sehen. Es ist ein sehr mächtiges Werkzeug“, zitiert Weiss einen Twitter-Mitarbeiter. Ein Werkzeug, das bei Bhattacharya am Ende dazu geführt hat, dass seine Nachrichten einfach nicht mehr sichtbar waren. Er selbst konnte sie zwar noch lesen, für andere aber war er unsichtbar. Für einen Wissenschaftler, der nicht nur von Publikationsmöglichkeiten, sondern vom Austausch von Argumenten abhängig ist, ein kleiner Todesstoß.
Am Ende geht es um die Demokratie
Doch es geht hier nicht nur um einzelne Wissenschaftler. Es geht um die Wissenschaft als Ganzes. Es geht um Journalismus. Es geht um Wahrheit. Am Ende geht es eben um die Demokratie. Denn wer bestimmt eigentlich genau, wer am Diskurs teilnimmt und wer unsichtbar bleibt? Wer definiert, was drinnen und was draußen ist? Sind es die großen Konzerne? Oder ist es der diskursive Prozess, an den jeder gleichberechtigt Teilhabe hat?
Wer immer während der Corona-Krise Twitter oder andere Plattformen
als Informationsquelle genutzt hat, muss sich spätestens jetzt die
selbstkritische Frage stellen, welche Nachrichten er aus welchen Gründen
gesehen hat – und welche ihm in der Echokammer verborgen blieben. Es
ist keine Wahrheit von rechts oder links: „Was das Valley denken nennt“
(Adrian Daub), ist immer schon etwas Vorgedachtes.
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