Beide Wahrnehmungen waren – und sind – Zerrbilder. Wobei Milei mit exzentrischem Auftritt kräftig zu seinen Karikaturen beitrug. Es fällt nicht immer leicht, den argentinischen Präsidenten ernst zu nehmen – etwa als er mit Kettensäge und Gebrüll den Zerstörer mimte. Und doch: Nach dem ersten Amtsjahr kann man Milei nicht länger als «El Loco» abtun, als den Verrückten, den eine Laune der Natur an die Staatsspitze gespült hat. Das wird weder seinem Aufstieg noch seiner Amtsführung gerecht.
Damit ist die Inflation zwar noch lange nicht gezähmt. Denn obschon die Teuerung sinkt, liegt sie im Jahresvergleich noch immer bei über 190 Prozent. Doch seitdem die Fehlbeträge des Staates nicht länger mit der Notenpresse finanziert werden, kehrt Vertrauen ins Land zurück. Die Inflationserwartungen stabilisieren sich; der Schwarzmarktkurs des Peso nähert sich dem offiziellen Kurs an; und das Länderrisiko, das Argentinien an den Märkten angelastet wird, sinkt. Erste Firmen investieren wieder, ermuntert durch gesetzliche Erleichterungen.
Kein zweiter Donald Trump
Die Reformen beginnen zu greifen, wobei der Bevölkerung grosse Opfer abverlangt werden. Argentinien durchleidet eine schwere Rezession. Die Armutsquote steigt. Und im öffentlichen Sektor, der von den Peronisten zuvor stark aufgebläht worden war, sind schon Zehntausende von Stellen gestrichen worden. Entsprechend steigt die Arbeitslosigkeit und ist der Konsum eingebrochen. Und dennoch: Ein Volksaufstand bleibt aus. Die Bevölkerung trägt die Rosskur mehrheitlich mit. Die Beliebtheit des Präsidenten ist erstaunlich hoch.
Diese Popularität wird oft mit Populismus verwechselt. Doch wenn ein Populist ein Politiker ist, der den Leuten nach dem Mund redet, ihnen das Blaue vom Himmel verspricht und Probleme verharmlost, dann ist Milei der Anti-Populist. Er hat dem Wahlvolk nichts versprochen ausser Blut, Schweiss und Tränen. Er sagt: «No hay plata» – da ist kein Geld. Nach Jahrzehnten der Misswirtschaft gibt es nichts mehr zu verteilen. Milei stimmte Argentinien im Wahlkampf auf harte Zeiten ein – und wurde trotzdem mit einer klaren Mehrheit von 56 Prozent gewählt.
Eine weitere Fehleinschätzung lautet, Milei sei ein lateinamerikanischer Donald Trump. Zwar eint die beiden ihre Überspanntheit – und beide sonnen sich gern im Licht des anderen. Doch wirtschaftspolitisch könnten Milei und Trump kaum unterschiedlicher sein. Ökonomisch gesehen sind sie falsche Freunde. Der Argentinier wehrt sich gegen fast alles, was der Amerikaner will: Zölle, Protektionismus, Subventionen für die Industrie. Milei fordert vielmehr Freihandel, Wettbewerb, Austerität. Dass dies kurzfristig unbequemer ist als staatliche Rundumversorgung, verheimlicht er nicht.
Staatsfeind und Staatspräsident
Mileis Erfolg zeigt: Die Wahrheit ist dem Wähler zumutbar. Die Argentinier haben erkannt, dass nur ein radikaler Richtungswechsel den steten Niedergang ihres einst so stolzen und reichen Landes stoppen kann. Schliesslich hat man in der Vergangenheit fast alles versucht: Doch der Peronismus und der Kirchnerismus in all ihren Varianten führten immer zum gleichen Resultat: Korruption, Klientelismus, Verarmung. Und der moderat liberale Kurs von Mauricio Macri scheiterte zwischen 2015 und 2019 an der naiven Annahme, dass ein zutiefst dysfunktionaler Staat auch graduell und ohne tiefe Schnitte reformiert werden kann.
Also stimmten die Argentinier für Milei, für das völlig Neue, für den Gegenentwurf zum Bisherigen. Schlimmer kann es nicht werden, sagte sich eine politikverdrossene Nation. Der Leidensdruck war so gross, dass man das Land einem selbsternannten Anarcho-Kapitalisten anvertraute, der den Staat als kriminelle Organisation und Steuern als Diebstahl ablehnt. Dass mit Milei eine Person, die den Staat beseitigen will, diesen Staat nun präsidiert, mag nach einem inhärenten Widerspruch klingen. Doch die Bevölkerung war bereit, diesen Widerspruch zu wagen.
Nach einem Jahr lässt sich feststellen: Argentinien ist nicht in Anarchie versunken. Milei hat zwar weitreichende Reformen initiiert. Doch diese spiegeln grösstenteils eine Politik, wie sie beispielsweise seit Jahrzehnten auch der Internationale Währungsfonds (IWF) vertritt. Es geht um geordnete Finanzen, funktionierende Märkte, eine schlanke Verwaltung. Dass mancher Kritiker darin ein apokalyptisches Experiment erkennt, sagt mehr aus über die semisozialistische Wirtschaftsordnung vieler Industrieländer als über Mileis bisherige Politik.
Weniger libertär als angekündigt
Auch in Argentinien wird nichts so heiss gegessen, wie es gekocht wird. Milei kann nicht durchregieren. Ihm fehlt die Mehrheit im Parlament, weshalb er – wie in Demokratien so üblich – Kompromisse schmiedet. Selbst zur Erhöhung der Importsteuer bot er Hand, obwohl er einst beteuert hatte, sich eher den Arm abzuschneiden, als Steuern zu erhöhen. Sein Pragmatismus bringt ihm zwar Kritik ein von Libertären, die in ihren Studierzimmern lieber in Schönheit sterben, als ein Jota von ihren weltfremden Theorien abzurücken. Doch die Realpolitik verträgt sich eben schlecht mit der reinen Lehre.
Dass Milei keineswegs so libertär regiert, wie er ankündigte, hat nicht nur mit den Kräfteverhältnissen im Parlament zu tun. Bisweilen liegt es auch an seinem Zögern. Noch immer schreckt er davor zurück, den Wechselkurs dem freien Spiel des Marktes zu überlassen. Noch immer beharrt er auf Kapitalverkehrskontrollen. Milei weiss, dass eine Freigabe der Währung zu einem Wertzerfall des Peso und einem neuerlichen Hochschnellen der Inflation führen könnte. Einen solchen Rückschlag will er vor den Zwischenwahlen im Herbst 2025 nicht riskieren. So viel Wahltaktik muss sein – auch für einen Anarcho-Kapitalisten.
Noch kann vieles schiefgehen. Denn die Geduld der Argentinier ist endlich. Irgendwann muss es nach dem Abschwung wieder aufwärtsgehen. Dazu braucht es wohl die Hilfe des IWF. Denn aufgrund seiner unrühmlichen Historie als säumiger Zahler ist Argentinien de facto von den Finanzmärkten ausgeschlossen und erhält dort kein Geld mehr. Doch bevor der IWF seinem grössten Schuldner erneut unter die Arme greift, verlangt er eine flexiblere Wechselkurspolitik. Man will verhindern, dass die IWF-Milliarden zur Stützung einer künstlich überbewerteten Währung versanden.
Der Kulturkämpfer
Auch der Charakter Mileis könnte dem Aufschwung im Wege stehen. Denn der Ökonom versteht sich als Kulturkämpfer. Und dieser Kampf macht vor keiner Grenze halt. Das spricht für den Überzeugungstäter. Doch mit seinen Beschimpfungen und dem starren Freund-Feind-Schema stösst er viele vor den Kopf. Das lenkt ab von den gigantischen Aufgaben zu Hause. Völlig zerrüttet ist etwa das Verhältnis zum wichtigen Wirtschaftspartner Brasilien, da Milei dessen Präsidenten Lula da Silva verachtet. Die innige Feindschaft nützt weder Milei noch Lula.
Doch der Kulturkampf hat auch seine guten Seiten. So ist es Milei gelungen, den Liberalismus – in Lateinamerika eher ein Schimpfwort – mit positivem Inhalt zu füllen. Er hat den Argentiniern gezeigt, dass nicht alles, was als «sozial» angepriesen wird, auch sozial ist. Und dass Sozialisten falschliegen, wenn sie so tun, als wären sie moralisch überlegen. Denn Sozialismus basiert auf Zwang, Kapitalismus hingegen auf Freiwilligkeit. Erst als Milei die «soziale» Mietpreisbremse abschaffte, wurden wieder mehr Wohnungen angeboten, sanken die realen Preise für Neuvermietungen und hatten auch Arme wieder besseren Zugang zu Wohnraum.
Daraus lassen sich Lehren ziehen – auch für Europa und Deutschland. Vom früheren Bundeskanzler Helmut Kohl stammt die Aussage, dass ab einer Staatsquote von 50 Prozent der Sozialismus beginnt. Demnach stünde die EU mit 49 Prozent schon an der Schwelle davor. Wobei auch der alte Kontinent mit wachsendem Etatismus nicht sozialer geworden ist, ganz ähnlich wie Argentinien. Gewiss, der Leidensdruck ist hierzulande geringer. Doch von Milei lernen hiesse, wieder Mut zu zeigen für Freiheit und Markt – und dies mit ansteckender Begeisterung. Dazu braucht es weder eine Kettensäge noch die Abschaffung des Staates.
Dass die Botschaft in Deutschland ankommt, ist zu bezweifeln. Selbst ein vermeintlich marktfreundlicher Politiker wie Friedrich Merz zeigte sich im Interview mit Sandra Maischberger «völlig entsetzt» über den Vorschlag von Christian Lindner, Deutschland müsse «mehr Milei» wagen. Die Begründung des CDU-Kanzlerkandidaten: Argentiniens Präsident ruiniere das Land und trete die Menschen mit Füssen. Solchen Dünkel gegenüber einem Politiker, der die wirtschaftlichen Probleme konkret in die Hand nimmt, können sich die Konkursverwalter in Berlin schlecht leisten.
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