07 Dezember 2024

Der andere Blick - Deutschland ist kein liberales Land. Mit sozialer Sicherheit gewinnt man Wahlen, mit Freiheit nicht (NZZ)

"Nur wer zur Disruption bereit ist, baut Neues auf. Lindner hat recht, wenn er Deutschland eine Prise Milei und Musk wünscht."

Der andere Blick
Deutschland ist kein liberales Land. Mit sozialer Sicherheit gewinnt man Wahlen, mit Freiheit nicht (NZZ)
Der Staat geht immer vor Privat. Vergeblich kämpft die FDP gegen den Zeitgeist und eine linke Schmutzkampagne.
Von Eric Gujer, 06.12.2024, 5 Min
Man nehme ein zweitrangiges Detail, füge eine Portion Empörung hinzu und rühre das Ganze so lange, bis der Brei der Halbwahrheiten schön sämig ist. Dann serviere man ihn der Öffentlichkeit als feststehende Tatsache.
Das ist das Rezept für eine perfekte Medienkampagne, wie sie gerade die FDP erlebt.
Die Liberalen sollen nicht nur einen von langer Hand geplanten Verrat an ihren Koalitionspartnern begangen haben. Sie demonstrieren angeblich ihre niedere Gesinnung auch durch martialische Wortwahl und Wählertäuschung.
In einem internen Papier der Parteizentrale fand sich der Begriff «D-Day». Das sei doch «Kriegssprache», schleuderte die ARD-Moderatorin Jessy Wellmer dem Parteichef Christian Lindner entgegen. Wie die Liberalen dazu kämen, den Koalitionsbruch mit der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus zu vergleichen.
Es war weniger ein Interview als ein Verhör. ARD und ZDF sehen sich als heilige Inquisition – zumindest wenn es um bürgerliche Politiker geht.
Tatsächlich meint D-Day zunächst den Tag der alliierten Landung in der Normandie. Allerdings definiert der Cambridge Dictionary den Begriff auch als «Tag, an dem etwas Wichtiges geschieht». Wer eine Kampagne inszeniert, kann sich nicht mit Feinheiten wie dem metaphorischen Sprachgebrauch aufhalten.
Worüber sich zarte Seelen aufregen können
Was ist so schlimm an einem ursprünglich aus der militärischen Sphäre stammenden Wort, dass es den Rücktritt eines Generalsekretärs und eines Bundesgeschäftsführers rechtfertigt?

Nichts; aber es verrät viel über den deutschen Geisteszustand. In keinem anderen Land würde die Verwendung des Begriffs zu einem Rücktritt führen.

Der Vulgärpazifismus ist so tief ins kollektive Bewusstsein eingedrungen, dass er sich jederzeit für parteipolitische Propaganda instrumentalisieren lässt.

Während in der Ukraine seit bald drei Jahren ein barbarischer Krieg tobt, sind die zarten deutschen Seelen bereits verwundet, wenn sie das D-Wort hören.

Bei so viel exaltierter Friedensliebe liegt die Vermutung nahe, dass Berlin die erste Hauptstadt sein wird, die einen Diktatfrieden gutheisst, gleichgültig, wie nachteilig die Bedingungen für Kiew sein mögen. Die zarten Seelen werden es begrüssen.

Auch die FDP-Führung fand das Wort D-Day so unerhört, dass sie zunächst leugnete, es verwendet zu haben. Das war ohne Zweifel unklug, aber auch kein Drama. Schliesslich sagte kein Regierungsmitglied die Unwahrheit, kein Parlament wurde belogen.

Die von den Medien aufgeblasene Schummelei – die «Süddeutsche Zeitung» verglich sie allen Ernstes mit Nixons Watergate – war der Anlass, aber nicht die Ursache der Demissionen.

Die lächerliche Kampagne funktioniert nur, weil sie sich gegen die FDP richtet.

Entdeckt er einen Anlass, um die FDP niederzumachen, lässt der linksliberale Teil der veröffentlichten Meinung sämtliche Hemmungen fahren.

Das war schon vor der Bundestagswahl 2013 so, als eine Journalistin behauptete, der FDP-Spitzenkandidat Rainer Brüderle habe ihr an einer Hotelbar ein unziemliches Kompliment gemacht. Auch damals kannte die Entrüstung keine Grenzen. Brüderle war erledigt, und die FDP flog aus dem Bundestag.

Die folgenreiche Episode dient als Vorlage für die Gegenwart. Wie bei Brüderle richten sich die Angriffe gegen den Mann an der Spitze. Linder wird diskreditiert, um seine Partei der parlamentarischen Existenz zu berauben.

Die Gegner der Liberalen sind in ihren Attacken bemerkenswert einfallslos. Stets heisst es, die FDP habe sich vom klassischen Liberalismus entfernt und sei eine Partei egoistischer Besserverdiener. Der Vorwurf der «sozialen Kälte» ist das ewige Totschlagargument. Linder bekommt es zu hören wie vor ihm Guido Westerwelle oder einst Otto Graf Lambsdorff.

Natürlich lassen die alt gewordenen Verlierer der innerparteilichen Machtkämpfe wie Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Gerhart Baum auch diesmal kein gutes Haar an der Führung. So geht es seit dem Ende der sozialliberalen Koalition: eine pseudoliberale Geisterstunde, aber keine Politik für das 21. Jahrhundert, in dem die USA Europa wirtschaftlich und technologisch abhängen.

Vor allem das rot-grüne Sturmgeschütz – früher noch bekannt als «öffentlichrechtlicher Rundfunk» – verfolgt ein einfaches machtpolitisches Kalkül. Ist die FDP dauerhaft nicht mehr im Bundestag vertreten, haben CDU und CSU keinen Partner rechts von der Mitte.

Solange ein Bündnis mit der AfD ausgeschlossen bleibt, ist die Union schachmatt. Sie kann nur mit SPD und Grünen koalieren.

Nur wenn die Partei im Bundestag vertreten ist, besteht die Chance einer rein bürgerlichen Regierung. Dabei spielt es keine Rolle, dass die Freien Demokraten bei der nächsten Bundestagswahl froh sein müssen, wenn sie die Fünfprozenthürde überwinden.

Bei den letzten Wahlen schwankten sie stets zwischen Jammertal und Jubel. So ist denkbar, dass sich in vier Jahren eine Mehrheit für eine liberalkonservative Koalition findet. Allein diese Möglichkeit genügt, um der Union machtpolitischen Spielraum zu verschaffen.

Nur wer zur Disruption bereit ist, baut Neues auf

Ohnehin sollte man den antiliberalen Furor in einem grösseren Zusammenhang sehen: Die kulturelle Hegemonie von Rot-Grün ist gebrochen. Deutschland wird konservativer.

Wokeness und Identitätspolitik haben ihren Zenit überschritten, was sich auch an der deutlichen Niederlage der Demokraten in den USA ablesen lässt. Umso wichtiger ist es für die linksliberalen Kräfte, die öffentliche Meinung zu manipulieren. Es sind Rückzugsgefechte einer untergehenden Leitkultur.

Kommt hinzu, dass Liberale seit je einen schweren Stand haben. Prinzipien wie wirtschaftliche Freiheit oder Selbstverantwortung besitzen in Deutschland einen geringeren Stellenwert als Gleichheit und soziale Gerechtigkeit.

Die Selbstbeschränkung des Staates auf eine Rolle als Garant der freiheitlichen Rahmenbedingungen ist der deutschen Tradition wesensfremd. Das galt für den protestantischen Preussen Bismarck wie den katholischen Rheinländer Adenauer.

Der starke Staat interveniert und reguliert. Er greift selbst dort ein, wo Private es besser können. Das ist auch die Grundlage, auf der sich Union und SPD zu verständigen vermögen. Ein Beispiel hierfür ist die Industriepolitik, die Merkel genauso betrieb wie Scholz.

CDU und SPD: zwei etatistische Parteien, die sich in der Frage unterscheiden, wo der Staat Prioritäten setzen soll.

Deutschland ist kein liberales Land. Zuerst kommt das Kollektiv, dann die individuelle Freiheit.

Nicht Unternehmer oder Selbständige verkörpern die Bundesrepublik. Das Leitbild ist der Facharbeiter im halbstaatlichen VW-Konzern, der sich dank gewerkschaftlich erkämpftem Tarifvertrag sein Einfamilienhaus leisten kann.

In turbulenten Zeiten werden die Deutschen konservativer und nicht liberaler. Sie wollen Sicherheit: keinen Krieg in der Ukraine, keine Messerstecher in der Fussgängerzone, keine Entlassungen, keine Kürzungen der sozialen Leistungen.

Freier Wettbewerb schafft nicht mehr Sicherheit, im Gegenteil. Er geht mit Konkursen und Stellenabbau einher. Deshalb scheuen die Deutschen vor liberalen Ideen zurück, obwohl diese langfristig mehr Wert generieren als staatlicher Denkmalschutz für nicht mehr lebensfähige Industrien.

Die globalen Internet-Konzerne entstanden im Silicon Valley, nicht im Ruhrgebiet.

Nur wer zur Disruption bereit ist, baut Neues auf. Lindner hat recht, wenn er Deutschland eine Prise Milei und Musk wünscht.

Doch der Zeitgeist ist gegen den Liberalismus. Die Linke verteidigt verbissen ihre zerbröselnde Vorherrschaft, die Konservativen spüren Aufwind.

Wenn die FDP aus dem Bundestag fliegt, dann liegt es an diesem Klima und nicht am Umgang der Partei mit einem verunglückten Strategiepapier oder an der Person des Vorsitzenden.

Für Deutschland wäre es ein Verlust. Diversität ist nicht nur ein wokes Modewort. Gerade in Politik und Wirtschaft ist die Vielfalt der Ideen überlebenswichtig. Schwarz-roten Einheitsbrei gibt es genug.

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