Vier Frauen und ein neunjähriger Junge haben den Anschlag mit ihrem Leben bezahlt. Mehr als 200 Verletzte, darunter Dutzende Schwerst- und Schwerverletzte, sind zu beklagen. In einem hunderttausendfach geteilten Facebook-Beitrag schreibt die Mutter des getöteten Jungen:
"Lasst meinen kleinen Teddybär nochmal um die Welt fliegen."
Die vielleicht beste Nachricht, wenn man das unter diesen Umständen sagen kann: Alle elf Schwerverletzten, die wir in unserem Haus behandelt haben, sind außer Lebensgefahr.
2. Was genau ist in Magdeburg passiert?
Am Freitagabend bog um 19.02 Uhr ein schwarzer BMW X5 zum Weihnachtsmarkt ab. Der Fahrer umfuhr die Betonabsperrungen, indem er erst die Straßenbahnschienen und schließlich einen Flucht- und Rettungsweg, der zum Markt führte, nutzte. Dann gab er Gas und steuerte den Wagen in die Menschenmenge.
190 Meter raste der Wagen durch das dichte Treiben
vor dem Magdeburger Rathaus. Dann verließ er über eine zweite Lücke in
den Absperrungen, die ebenso als Flucht- und Rettungsweg vorgesehen war,
das Gelände.
Zurück auf der Straße, von der er gekommen war, hielt der Fahrer den
Wagen um 19.05 Uhr „verkehrsbedingt an“, meldete die Polizei. Die Front
des BMWs war durch die Amokfahrt zerstört. Der Fahrer stieg aus,
Polizisten forderten ihn mit vorgehaltener Waffe auf, sich hinzulegen.
Um 19.07 Uhr wurde er festgenommen.
3. Amokfahrt oder Terroranschlag?
Entscheidend für die Definition ist das Tatmotiv. In einer Ausarbeitung des Bundestags wird Terrorismus als „extremes politisches Kampfmittel“ bezeichnet; von einem Terroranschlag spricht man, wenn ein Attentat politisch motiviert war. Zudem ist Terror langfristig geplant und soll Angst und Schrecken in der Bevölkerung verbreiten. Als Amoktaten werden Attentate bezeichnet, bei denen die persönliche Motivation des Täters im Vordergrund steht.
Die Magdeburger Staatsanwaltschaft ordnet die Tat bisher als Amokfahrt ein. Ob das Motiv des Täters, sein Name: Taleb Al-Abdulmohsen,
tatsächlich politisch war und die Tat somit als Terroranschlag
eingestuft werden muss, ist noch unklar. Sollte der Anschlag als
terroristisch gewertet werden, übernimmt der Generalbundesanwalt.
4. Was wissen wir über den Täter?
Bernburg an der Saale ist
ein Städtchen mit Schloss, Fachwerk und 32.000 Einwohnern. Einer von
ihnen war Taleb Al-Abdulmohsen. Er wurde 1974 in Saudi-Arabien geboren.
Laut seinen Angaben hat er sich in seiner Heimat mit Anfang 20 vom Islam
abgewandt.
Im März 2006 reiste er mit einem Visum nach Deutschland ein, um hier eine Facharztausbildung zu beginnen. Zehn Jahre später stellte er einen Asylantrag, er habe als Ungläubiger und Islamkritiker in seinem Heimatland Verfolgung zu befürchten.
2023 erhielt Al-Abdulmohsen von der Ausländerbehörde in Bernburg eine Niederlassungserlaubnis und somit das unbefristete Aufenthaltsrecht. Zuletzt arbeitete er als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie im Maßregelvollzug.
Al-Abdulmohsen engagierte sich in der Flüchtlingshilfe für Frauen aus Saudi-Arabien, die dem System der Unterdrückung entkommen wollen. 2017 setzte er die Internetseite „wearesaudis.net“ auf. Dort informierte er über Fluchtmöglichkeiten und das Aufenthaltsrecht für saudi-arabische Bürger im Ausland.
Über den Islam sagte er 2019 im Interview mit der FAZ: „Es gibt keinen guten Islam“. Al-Abdulmohsen suchte die Nähe zur AfD. Er fürchtete die Islamisierung Deutschlands, fühlte sich von den Behörden verfolgt: „Wir brauchen AfD, um die Polizei vor sich zu schützen“, schrieb er im Juni dieses Jahres auf X. Dort sinnierte er im August 2023 darüber, Deutsche zu töten:
Würden Sie es mir verübeln, wenn ich wahllos 20 Deutsche töte, weil Deutschland gegen die saudische Opposition vorgeht?
Wenige Tage vor der Tat zeigte er offen seine Verachtung gegenüber dem Gastland und postete auf Arabisch: Der Westen verstehe nur „Gemetzel und Gewalt“:
Wer nicht in die Luft jagt und tötet, wird von den Deutschen nicht respektiert.
5. Gab es ein Versagen des deutschen Sicherheitsapparates?
Taleb Al-Abdulmohsen war den Sicherheitsbehörden in Deutschland bekannt. Nach einem Streit mit der Ärztekammer von Mecklenburg-Vorpommern über die Anerkennung von Prüfungsleistungen im September 2013 hatte er mit einer terroristischen Tat gedroht, teilte das Innenministerium des Landes mit. Die Ermittler durchsuchten seine Wohnung und elektronische Medien, fanden jedoch keine Hinweise auf eine „reelle Anschlagsvorbereitung“, erklärte das Innenministerium.
Dennoch wurde er wegen „Störung des
öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten“ vom Amtsgericht
Rostock zu einer Strafe von 90 Tagessätzen verurteilt. Bei dem späteren
Asylverfahren war die Verurteilung für eine Ablehnung des Antrags
allerdings nicht ausreichend.
uch andere Behörden kannten Al-Abdulmohsen. Beim BAMF ging im
Spätsommer 2023 ein Hinweis zu dem mutmaßlichen Täter von Magdeburg ein.
Man habe die „hinweisgebende Person, wie in solchen Fällen üblich,
direkt an die verantwortlichen Behörden verwiesen“, schrieb das
Bundesamt auf X.
Auch aus Saudi-Arabien kamen Warnungen zu Taleb Al-Abdulmohsen. Im November 2023 hat das Bundeskriminalamt aus dem Königreich einen Hinweis zu dem Mann bekommen. BKA-Chef Holger Münch erklärte dazu:
Hier ist auch ein Verfahren eingeleitet worden. Die Polizei in Sachsen-Anhalt hat entsprechende Ermittlungsmaßnahmen vorgenommen.
Er fügte hinzu:
Al-Abdulmohsen hat verschiedene Behördenkontakte gehabt, Beleidigungen, auch mal Drohungen ausgesprochen. Er war aber nicht bekannt, was Gewalthandlungen angeht.
6. Wie reagieren die politischen Kontrahenten auf den Anschlag?
Es gab zwei Arten von Reaktionen. Nummer 1 war das Ausdrücken von Betroffenheit und Trauer. Olaf Scholz und Friedrich Merz schlugen staatstragende Töne an. Auch der Oppositionsführer verzichtete auf Vorwürfe in Richtung der Innenministerin oder der Sicherheitsbehörden. Merz auf X:
Die schreckliche Tat passt nicht in das bisher bekannte Muster. Das verpflichtet uns Politiker, zunächst innezuhalten und erst auf der Basis gesicherter Erkenntnisse zu beurteilen, was gestern geschehen ist.
Merz will nicht zu früh mit falschen Anschuldigungen auffallen. Er weiß: Das könnte sich später rächen.
Reaktionsmuster Nummer 2 bedienten die AfD-Vorsitzende Alice Weidel, aber auch der AfD-Wahlgewinner von Thüringen, Björn Höcke. Man zielt auf die Sicherheitsbehörden, also auch jene Institutionen, die die AfD beobachten und in Teilen als rechtsextremistisch eingestuft haben. Weidel auf X:
Das Behördenversagen, welches den Horror von Magdeburg ermöglicht hat, macht fassungslos. Während die Politik den Sicherheitsapparat auf Opposition und Regierungskritiker ansetzt, fehlen zur Abwehr echter Bedrohungen Mittel und Urteilsvermögen.
Björn Höcke, auch auf X, überträgt die Tat eines Einzeltäter aufs große Ganze, also den Zustand der Bundesrepublik insgesamt:
Wo sind unsere Werte, wo unsere Vertrauensgemeinschaft, wo ist das Deutschland, auf das die Welt bewundernd schaute? Wir müssen eingestehen: von ihm, von uns ist kaum noch etwas da. Reicht die Restsubstanz noch, um neu zu beginnen?
7. Kann die Tat von Magdeburg die Bundestagswahl beeinflussen oder gar entscheiden?
Nicht
der Anschlag selbst, aber das Thema: Migranten in Deutschland und die
durch sie veränderte Sicherheitslage bewegen das Land. Laut der neuesten
Insa-Umfrage – kurz vor dem Anschlag von Magdeburg durchgeführt im
Auftrag der Bild-Zeitung – liegt Alice Weidel vor Friedrich Merz.
Auf die Frage „Wen würden Sie direkt zum Kanzler wählen?“, holt sie demnach 24 Prozent und er nur 20 Prozent. Vor allem bei den Jüngeren und den Ostdeutschen holt Weidel gegenüber Merz mehr als die doppelte Prozentzahl. Das bedeutet: Der CDU-Kandidat muss jetzt einen Zwei-Fronten-Krieg führen und gewinnen – gegen den amtierenden SPD-Kanzler und gegen die Alternative von rechts.
8. Wie hat das Ausland reagiert?
Neben Emmanuel Macron, Giorgia Meloni oder Nato-Generalsekretär Mark Rutte, hat auch Saudi-Arabien den Anschlag verurteilt:
Das Königreich bekräftigt seine ablehnende Haltung gegenüber Gewalt und drückt sein Mitgefühl und aufrichtiges Beileid gegenüber den Familien der Opfer, der Regierung und dem deutschen Volk aus und wünscht den Verletzten eine schnelle Genesung.
Viktor Orbán
hat neben seinen Mitleidsbekundungen auch schon den Verantwortlichen
dieses Attentats ausgemacht: Die EU-Migrationspolitik. Er behauptete,
dass Brüssel „Ungarn zu Magdeburg machen will“.
Auch Elon Musk bläst in ein ähnliches Horn und fordert auf seiner Plattform X den sofortigen Rücktritt von Olaf Scholz. Den Kanzler nannte er einen „inkompetenten Trottel“.
9. Wie ist die Stimmung derzeit in Magdeburg?
„Traurig und wütend“ – Mit diesen Worten eröffnete der katholische Bischof Gerhard Feige
den Gottesdienst im Magdeburger Dom für die Opfer des Anschlags.
Tausende verfolgen den Gottesdienst auf einer Leinwand vor dem
Gotteshaus.
Blumen, Grablichter und Stofftiere liegen am Startpunkt der Todesfahrt, vor der benachbarten Johanniskirche versammeln sich ebenfalls Menschen. Auch die Magdeburger Oper ist Kulisse einer Mahnwache, neben dem Blumenmeer treffen sich am Samstag etwa 150 Menschen zu einer Schweigeminute.
Laut entlud sich die Wut diverser rechtsextremer Gruppen, die am Samstagabend in Magdeburg aufmarschierten. Neonazi-Größe Thorsten Heise sprach zu den etwa 500 Teilnehmern:
Wir könnten wöchentlich auf die Straße, weil deutsche Menschen abgeschlachtet werden. Wir werden das nicht zulassen!
Es folgte ein Sprechchor, in dem Heise und die Demonstranten laut „Abschieben“ skandierten. Begleitet wurde die Demonstration von Bannern, auf denen „Remigration“ oder „Schluss mit der Politik gegen das eigene Volk“ geschrieben stand. Zudem wehten russische Fahnen und solche der Partei „Heimat“, vormals NPD.
Wut schlug Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundesinnenministerin Nancy Faeser am Samstagmittag in Magdeburg entgegen, die dort öffentliche Statements abgaben. Videos zeigen, wie sie bei ihrer Ankunft ausgebuht werden, neben lauten „Wir sind das Volk“-Rufen wurde Faeser als „Volksverräterin“ beschimpft.
Zur gleichen Zeit an anderer Stelle: Das deutsche Rote Kreuz und das Universitätsklinikum Magdeburg teilten mit, dass alle Sondertermine zum Blutspenden am Montag ausgebucht seien. Noch in der Freitagnacht waren bis zu 100 Notfallseelsorger und Kriseninterventionskräfte nahe dem Weihnachtsmarkt und in den umliegenden Krankenhäusern vor Ort, um sich um die geschockten Verletzten, Angehörigen und Augenzeugen zu kümmern. Bischof Gerhard Feige im Magdeburger Dom:
Gemeinsam sind wir hier, weil wir Hass und Gewalt nicht das letzte Wort lassen.
Fazit: Die Tat von Magdeburg hat – gerade weil sie kein Solitär ist – die Stimmung im Land und damit auch das politische Klima verändert. Vom Kanzler und den Kanzlerkandidaten erwartet man jetzt mehr als Trauer und Betroffenheit. Traurig und betroffen sind die Bürger von selbst.
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